Kinderfilm mit Tiefgang

Von Christian Berndt |
An den Kinokassen sind Kinder- und Jugendfilme heute erfolgreicher denn je - aber überwiegend harmlose Unterhaltung. "Wintertochter" von Johannes Schmid dagegen erzählt von der sozialen Realität hierzulande, auch von den Belastungen der deutsch-polnischen Vergangenheit. Dafür wurde er mit der "Lola" als bester deutscher Kinderfilm 2012 ausgezeichnet.
(Filmszene) "Das kannst Du wirklich gut gebrauchen.
Allerdings. Kattaka? (Kameraklicken) So. Und jetzt mach ich noch ein schönes Foto von uns vieren.
Nein, das mach ich, mit meiner neuen Kamera."

Weihnachten im trauten Familienkreis. Margarete liegt hochschwanger auf der Couch, Ehemann Daniel fotografiert, und die 12-jährige aufgeweckte Katharina, genannt Kattaka, packt Geschenke aus. Eine glückliche Familie - bis das Telefon klingelt:

"Hallo.
Stettin? Aber, aber, seit wann denn? Nein, pass auf, das geht nicht. Weil ich das nicht will, nein, nein."

Der Anruf wird das Leben der gesamten Familie auf den Kopf stellen. Am Telefon hat sich ein gewisser Alexej gemeldet - für Margarete kein Unbekannter. Die Eltern müssen Kattaka nun ein Geständnis machen:

"Was ist denn los, Papa?
Katharina, der Daniel ist nicht Dein richtiger Vater.
Was soll das denn jetzt heißen?
Weißt Du, als ich Daniel kennengelernt habe, da warst Du schon da.
Du warst für mich immer wie ein eigenes Kind. Ich habe mich in euch beide verliebt, als Doppelpack.
Lass mich.
Kattaka."

Margarete war früher mit einem russischen Soldaten zusammen. Der aber ging - ohne zu wissen, dass ein Kind unterwegs war - mit Abzug der Russischen Armee aus Deutschland in seine Heimat zurück. Jetzt ist er Matrose und sein Schiff im polnischen Stettin angelaufen. Kattaka will ihn treffen:

"Katharina, wo willst Du denn hin?
Nach Stettin.
Jetzt komm' endlich zur Vernunft. Du kannst doch nicht einfach so abhauen.
Ihr habt mich die ganze Zeit belogen."

Die dickköpfige Kattaka setzt sich durch. Und weil sie nicht mit Daniel fahren will, wird die 75-jährige, alleinstehende Nachbarin Lene überredet, sie nach Stettin zu bringen. Am Abend will man zurück sein. Doch daraus wird nichts, in Stettin erfahren sie, dass das Schiff weiter nach Danzig gefahren ist - und aus dem kurzen Trip entwickelt sich eine Reise, die schließlich bis nach Masuren führen wird. Kattaka entdeckt eine vollkommen fremde Welt, für die alte Lene dagegen ist es ein unfeiwilliges Wiedersehen:

"Warum haben Sie eigentlich nie erzählt, dass Sie in Polen geboren sind?
Weil es da nichts zu erzählen gibt. Olsztyn, das war damals noch Deutschland."

Im Lauf der Reise wird Lene doch einiges erzählen - ein lange verdrängtes Trauma kommt ans Tageslicht. So wird die Fahrt auch eine Reise in die Vergangenheit, wie Regisseur Johannes Schmid im Bonusmaterial der DVD erzählt:

"Faszinierend ist, dass es um eine Freundschaft zwischen den Generationen geht, dass man sagt, man erzählt ein Roadmovie zwischen einer 12-Jährigen und einer 75-Jährigen, die sich in den Osten aufmachen. Und was mir wahnsinnig wichtig ist, dass man sagt, so eine Geschichte oder so einen Blick auf den Schrecken des Zweiten Weltkrieges, dass der aus der Perspektive eines Kindes erzählt wird, ohne dass man sagt, das ist eine Geschichte, die in der Zeit spielt, sondern über einen Zeitzeugen arbeitet."

Auf der Fahrt machen die drei Rast bei einem alten Bauernpaar, das noch unter der Naziherrschaft gelitten hat. Und irgendwann erzählt auch Lene von ihren schrecklichen Erinnerungen:

"Es war Krieg, Zweiter Weltkrieg. Wir mussten fliehen, wir sind gelaufen tagelang durch den Schnee, bis nach Danzig. Überall Tote am Wegrand, wer liegenbleibt, erfriert."

So stoisch wie kraftvoll spielt Ursula Werner, die 2009 mit dem Deutschen Filmpreis für ihre Rolle in "Wolke 9" ausgezeichnet wurde, diese alte Frau, der es langsam gelingt, sich aus ihrer Verbitterung zu befreien. Und die vorlaute Kattaka erlebt mit der resoluten Rentnerin endlich mal jemanden, der ihr Widerworte gibt. Es ist für beide eine prägende persönliche Erfahrung. Aber darüber hinaus wird die Reise auch zur abenteuerlichen Begegnung mit dem heutigen Polen. In Danzig lernt Kattaka den gleichaltrigen Waldek kennen:

"Ganz schön verrückt das alles - Also bist Du jetzt Russin.
Na zumindest zur Hälfte.
Und wo liegt Dein Herz, auf deutscher oder auf russischer Seite. Oder vielleicht ein bisschen auf polnischer?"

Auch von dieser vorsichtigen Annährung zwischen den Kindern erzählt "Wintertochter" sehr stimmungsvoll. Zwar wirkt die Geschichte mitunter thematisch etwas überladen, und auch hätte eine weniger harmonieselige Auflösung dem Film besser getan. Doch Schmids unaufgeregte Art des Erzählens in atmosphärischen Bildern, die in den blass-braunen, kunstvollen Farben an skandinavische Filme erinnert, macht diese Reise von Berlin ins frühere Ostpreußen zu einem berührend-schönen Kino-Abenteuer, wie man es im deutschen Film selten zu sehen bekommt.
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