Kindergartenpflicht!

Von Annette Rollmann |
In der Bildungsdiskussion in Deutschland wird das Pferd häufig von hinten aufgezäumt. Gerne wird über zu kurze Bachelorstudiengänge diskutiert, über Studiengebühren, die Länge der Gymnasialzeit und neuerdings auch über die Abschaffung der Hauptschule.
Doch so oft von Studenten und Schülern geredet wird, so heftig gejammert wird, das Bildungssystem bevorzuge junge Leute aus Akademikerhaushalten, so wenig wird da angesetzt, wo es am effektivsten und somit auch am klügsten wäre: bei den Dreijährigen. Das Bildungssystem kümmert sich zu wenig um den Nachwuchs in dem Entwicklungsstadium, in dem noch alle Kids zu erreichen sind. Eine Kindergartenpflicht ab drei Jahren und eine bessere Betreuung in den Kitas könnte das ändern.

In den Tagesstätten werden Kinder oft besser gefördert als zu Hause. Sie begreifen, dass nicht nur Mutter und Vater vertrauensvolle Bezugspersonen sind, was gerade Einzelkindern gut tut. Sie spielen in einer Gruppe, lernen voneinander, helfen sich gegenseitig und lösen Konflikte. Das Üben von Sozialkompetenz nutzt nicht nur dem Einzelnen, sondern der gesamten Gesellschaft.

Aber es geht nicht nur um die behüteten, manchmal zu gut umsorgten Einzelkinder. Gute Kindergärten lassen Jungs und Mädchen neue Welten entdecken, locken sie weg von Fernsehern und Gameboys, den heimlichen häuslichen Babysittern.

Gerade Heranwachsende aus bildungsfernen Schichten hätten so die Möglichkeit, das zu lernen und noch rechtzeitig nachzuholen, was ihre Familie ihnen nicht bieten kann: Kreativität, motorische Fertigkeiten, auch Regeln und Tagesabläufe – sowie ganz nebenbei Deutsch. Ob Muttersprache oder erste Fremdsprache – sie ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für gute Noten in der Schule.

Eine Kindergartenpflicht ab drei Jahren wird vor allem in den alten Bundesländern stets strikt abgelehnt. Die Freiheit der Eltern in Erziehungsfragen werde dadurch massiv beschnitten, heißt es. Tatsächlich zeigt sich der Artikel 6 des Grundgesetzes als verfassungsrechtliche Hürde. Er definiert die Erziehung der Kinder als Elternrecht. Ist das unabwendbar? Nein. Ein Grundgesetz kann man ändern.

Das würde aber nur wenig helfen, wenn Kindergärten nicht besser ausgestattet wären. Der Betreuungsschlüssel sollte nicht länger bei eins zu 12,4, sondern wie in Finnland bei eins zu sieben Kindern liegen. Überfällig wäre, dass Erzieher studieren, drei Jahre lang und praxisorientiert. Und besser bezahlt werden, das sollten sie auch. Die höheren Kosten sollten uns unsere Kinder allemal wert sein. Deutschland liegt bei der Finanzierung des gesamten Bildungssektors am unteren Ende der Industrienationen.

Wieso müssen Eltern einen Platz im Kindergarten bezahlen? Aber die die teuren Studiengänge an den Universitäten gibt es umsonst! Ein künftiger Akademiker könnte es sich leisten, einen Kredit für seine Ausbildung aufzunehmen. Jedenfalls eher als ein dreijähriger Knirps, der nie eine Chance auf einen guten Start haben wird. Wenn es schlecht läuft, wird er zum lebenslangen Schuldner der Gesellschaft, zum Sozialhilfeempfänger.

Viele Probleme könnte die Politik besser angehen, wenn schon den ganz Kleinen Bildung angeboten würde. Vor allem Kinder aus Migrantenfamilien könnten integriert werden, ebenso Kids aus bildungsfernen Dynastien, in denen Hartz IV das einzige Erbe ist. Ganz allgemein würde sie Familien sinnvoll entlasten, darunter auch die immer größer werdende Gruppe alleinerziehender Mütter und Väter.

Nur wenn sich die Politik zu diesem radikalen Umsteuern durchringt, wird der Bildungserfolg in Deutschland nicht mehr so stark von der Herkunft und den Lebensumständen der Eltern abhängig sein wie bisher. Das ist nicht nur ein soziales Argument, sondern auch ein knallhart ökonomisches. Bekanntermaßen haben wir zu wenig junge Menschen, die unsere Renten erwirtschaften. Wir sollten es uns endlich leisten, in sie zu investieren.

Annette Rollmann, Journalistin, wurde 1965 in Hamburg geboren. Sie war Redakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Korrespondentin im Hauptstadtbüro des "Rheinischen Merkurs". Die Politologin lebt als freie Autorin in Berlin.
Die Journalistin Annette Rollmann
Annette Rollmann© privat
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