Kinderkriegen

Die stille Revolution der Diversität

Verschiedenfarbige Holzsteine stehen einen Kreis formend nebeneinander. In der Mitte türmen sich rote Holzsteine übereinander, die von einem Holzkreis umschlossen sind.
Es sei an der Zeit, den Standard der sogenannten „Normalfamilie“ aus unseren Köpfen zu streichen, meint Peter Hofmann. © Getty Images / Richard Drury
Überlegungen von Peter Hofmann · 16.11.2022
Ob zwei Mütter, zwei Väter oder andere Konstellationen – das Kinderkriegen wird immer vielfältiger, stellt der Soziologe Peter Hofmann fest. Das müsse auch nicht beunruhigen. Für Kinder sei vor allem wichtig, dass sie in stabilen Beziehungen groß werden.
In Sachen Geschlechterordnung kam es in den letzten drei Generationen zu gewaltigen Umbrüchen. Lebensläufe und biografische Entscheidungen sind auf Basis von Geschlecht kaum mehr verlässlich vorherzusehen. Das gilt für Bildungswege und die Berufswahl, für Freizeitgestaltung – und auch für das Kinderkriegen. Hier zeichnet sich in den letzten Jahrzehnten eine stille Revolution ab.
Selbst im 20. Jahrhundert gehörte es weithin zur unhinterfragten Bestimmung von Frauen, einmal Mutter zu werden. Diese Selbstverständlichkeit ist heute brüchig geworden und macht einem Kinderwunsch Platz, den Man(n) oder Frau haben können oder auch nicht. Zwar ist dieser Kinderwunsch immer noch stärker an Frauen gebunden, aber auch diese scheinbar natürliche Verknüpfung wird schwächer.
"Kinderkriegen oder nicht" ist zu einer Frage langfristiger Entscheidungen von Individuen und Paaren geworden. Elternschaft ist in konventionellen Partnerschaften biografisch nicht mehr fest verankert und steht in Konkurrenz zu anderen Lebensentwürfen. Dennoch ist das Gefühl, irgendwann im Leben eine Familie gründen zu wollen, insbesondere bei jungen Menschen nach wie vor sehr weit verbreitet. 

Kinderkriegen wird zur biografischen Entscheidung

Die Familiengründung erscheint dabei auf den ersten Blick als eine letzte Bastion unvermeidlicher Geschlechtsfixierungen. Aus Frauen werden Mütter, aus Männern Väter. Aber zu Mann-Frau-Beziehungen gesellen sich immer mehr gleichgeschlechtliche und zunehmend sogar geschlechtsindifferente Beziehungen, für deren Paarbildung das Geschlecht kein wichtiges Kriterium mehr ist. Sie zeigen: Zum Kindermachen braucht es nicht unbedingt Männer und Frauen, wohl aber die Ausstattung mit unterschiedlichen biologischen Organen.
Für viele Paare, die einen Kinderwunsch teilen, ist dann neben der Möglichkeit einer Adoption nicht mehr automatisch klar, wie die Kinder gezeugt werden sollen. Schon heterosexuelle Beziehungen sind heute oft auf Kinderwunschzentren und deren unterschiedliche Verfahren angewiesen. Gleichgeschlechtliche Paare haben ebenfalls viel zu entscheiden: Frauenpaare müssen klären, welcher Mann das nötige Samenmaterial liefert und sich einigen, wer von beiden das Kind austragen soll.
Männerpaare müssen sich in Deutschland derzeit entscheiden, ob sie den Weg ins Ausland gehen, um mithilfe von Tragemutter und Eizellspenderin eine Familie zu gründen, oder ob sie eine Regenbogenelternschaft – etwa mit einem befreundeten Frauenpaar – eingehen.

Ideal der romantischen Liebesbeziehung auf dem Rückzug

Hinzu kommt immer häufiger die Entkopplung des Kinderkriegens vom Ideal der romantischen Liebesbeziehung, die lange als einzig legitimer Ort der Fortpflanzung galt. Verschiedene Modelle sogenannter Co-Elternschaften machen vor, wie Familien sich heute jenseits der Standard-Form von „Vater-Mutter-Kind“ und deren dualer Elternrollen neu erfinden.
Dabei kommen unterschiedliche Zeugungspraktiken, mit und ohne medizinische Hilfe, zum Einsatz, und es entstehen neue Konstellationen familialen Zusammenlebens. Kurz: Das Kinderkriegen hat sich – und wird sich weiterhin! – sowohl technisch als auch soziokulturell pluralisieren.

Die konventionelle Normalfamilie war gestern

Sollte uns dies beunruhigen? – Nicht, wenn man bedenkt, dass die neue Vielfalt familialer Lebensformen nach Datenlage ein Motiv verbindet: Es ist vor allem die Unkündbarkeit und verlässliche Dauerhaftigkeit familialer Eltern-Kind-Beziehungen, die werdende Eltern anstreben, ganz egal in welcher sozialen Konstellation oder soziotechnischen Verwirklichungsform.
Und vor allem anderen brauchen Kinder stabile Beziehungen, um sich gut entwickeln zu können. Es gibt keine evidenten Hinweise darauf, dass dies einer bestimmten Familienform besser gelänge als anderen. Anlass genug, den Standard der sogenannten „Normalfamilie“ aus unseren Köpfen, und ihre gedanklichen Prämissen aus unseren Gesetzbüchern zu streichen.

Peter Hofmann ist promovierter Soziologe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er forscht u.a. zu Elternwerdung und Reproduktionsmedizin und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im interdisziplinären DFG-Sonderforschungsbereich 1482 "Humandifferenzierung".

Peter Hofmann. Ein Mann mit kurzen dunklen Haaren sitzt auf einem Gartenstuhl.
© Stephanie Füssenich
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