"Kindern eine Zukunftschance ermöglichen"
Wenn man ohne Schulabschluss sei, dann habe man ein erhöhtes Risiko, straffällig zu werden, meint Jens Buck, der Initiator des Anti-Schulschwänzer-Programms. Man müsse die Kompetenzen bündeln und schneller Eingreifen, wenn Schüler über längere Zeit der Schule fernbleiben.
Susanne Burg: Mobbing, familiäre Probleme, Schulangst – es gibt unterschiedliche Gründe, warum Kinder die Schule schwänzen. Bei rund 500.000 Schülern geht es aber nicht darum, dass sie mal keine Lust haben, sie fehlen regelmäßig: eine bis zwei Wochen im Monat. Wie man diese Schüler wieder zurück in die Schule bringt, darüber streiten sich ja seit Jahren die Experten.
Verschiedene Ansätze sollen helfen, von Hilfskonferenzen mit Lehrern und Eltern bis hin zu Sanktionen wie Bußgeldern. In Hannover hat nun ein bundesweit einmaliges Anti-Schulschwänzer-Programm begonnen. Initiator des Programms ist der Jugendrichter Jens Buck. Mit ihm bin ich jetzt telefonisch verbunden. Herr Buck, ich habe von drastischen Maßnahmen gelesen: Sie wollen Eltern von Schulschwänzern zumindest teilweise das Sorgerecht entziehen. Warum ein solch drastischer Schritt?
Jens Buck: Diesen drastischen Schritt wollen wir in Hannover gar nicht gehen. Es ist leider in den Medien nicht ganz richtig dargestellt worden. Wir prüfen nur, was wir den Kindern für Hilfe geben können. Wir wollen aus dem Jugendrecht heraus auch das Familienrecht aktivieren und wollen den Familien Hilfen zur Seite stellen, um halt zu ermöglichen, dass Kinder wieder zur Schule zurückfinden. Und je früher das ist, desto leichter fällt es, die Kinder zurückzuführen. Je länger Kinder nicht zur Schule gehen, desto schwieriger wird es, Kinder auch wieder zurückzuführen.
Burg: Das heißt: Wie sieht es konkret aus, was Sie dort machen?
Buck: Konkret sieht es so aus, dass wir als Jugendrichter uns gesagt haben: Wenn wir mehr als einen Monat Fehlzeiten haben, wollen wir das Jugendamt losschicken und vom Jugendamt einen Bericht einholen, ob sämtliche Jugendhilfemaßnahmen, die zur Verfügung stehen, auch schon ergriffen wurden. Das Jugendamt berichtet dann an uns, es führt erst mal einen Hausbesuch durch, es führt Gespräche mit den Eltern, macht denen Angebote, und wenn mit den Eltern dann auch schon eine Lösung erarbeitet werden kann, was in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle ja der Fall ist, dann ist das Verfahren für uns an dieser Stelle beendet.
Nur in den Fällen, in denen keine Hilfe in die Familie gebracht werden kann, wo Eltern sich hartnäckig verweigern, wo eine Egal-Haltung gegenüber der schulischen Entwicklung des Kindes da ist, nur dort würden wir weitermachen, und dann würden wir einen teilweisen Entzug der elterlichen Sorge prüfen – allerdings auch nur als absolut letztes Mittel, als Ultima Ratio. Auch wir sind an Recht und Gesetz gebunden und würden natürlich versuchen, jedes geringere Mittel, das Aussicht auf Erfolg hat, auch einzusetzen.
Burg: Ein teilweiser Entzug des Sorgerechts, was bedeutet das? Sie setzen den Jugendlichen dann Schullotsen an die Seite – was ist deren Aufgabe?
Buck: Aufgabe ist es, wir würden sogenannte Ergänzungspfleger bestellen. Das sind freie Sozialpädagogen, die sich hier spezialisiert haben in Hannover auf das hannoversche Schulsystem, und die führen dann mit den Kindern erst mal ein Gespräch und gucken, was können wir machen, um das Kind wieder in die Schule zu bringen, weil es einfach ja ganz oft so ist, dass der Grund für den nicht erfolgten Schulbesuch noch gar nicht wirklich aufgearbeitet ist. Es gibt immer einen Grund für Schulabsentismus. Aber dieser Grund muss herausgearbeitet werden. Der kann in einer besonderen Trennungssituation in der Familie liegen, der kann in einer Überforderung, in einer Unterforderung des Kindes liegen, Mobbing ist ein Thema, Schulangst ist ein Thema, all das sind Punkte, da müssen wir gucken, was können wir machen, um diesem Kind den Weg in die Schule wieder zurück zu ebnen? Und wenn wir sehen, dass acht Prozent der Jugendlichen eines jeden Jahrgangs ohne Abschluss die Schule verlassen, und davon ganz viele Schulverweigerer sind, denke ich einfach, dass wir was verändern müssen.
Burg: Ich kann mir das trotzdem noch praktisch nicht so richtig vorstellen – ein teilweiser Entzug des Sorgerechtes, das heißt, die Kinder bleiben in den Familien, es gibt einen Schullotsen, der kümmert sich um die Schulangelegenheiten und die Eltern dann um den Rest. Aber wenn die Gründe fürs Schule schwänzen, wie Sie ja gesagt haben, familiärer Natur sind, ist denn dann mit einem solchen teilweisen Sorgerecht der Situation geholfen?
Buck: Da kann geholfen sein, wenn man ins Gespräch kommt mit diesem Ergänzungspfleger, der ja auch mit den Eltern spricht, und versucht, dann eine Lösung zu erarbeiten. Und in den meisten Fällen kann man Lösungen erarbeiten. Es ist sehr selten, dass Eltern wirklich völlig desinteressiert sind am Schulbesuch ihrer Kinder und dass man dann auch wirklich eingreifen müsste. Und wenn wir feststellen, dass es unsere Kapazität am Jugendgericht übersteigt, wenn wir sagen, möglicherweise müssten ja doch weitergehende Maßnahmen ergriffen werden, dann würden wir das Verfahren immer an das Familiengericht abgeben und die dortige Kompetenz weiter führen lassen.
Wir haben halt hier jetzt den ganz großen Vorteil, dass wir sowohl die Maßnahmen aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht haben, als auch die Maßnahmen aus dem Hilferecht des Familienrechtes. Das heißt, wir können einerseits über Ergänzungspfleger, über Schullotsen sprechen, wir können andererseits auch ein bisschen Druck machen, indem wir einen Arrest aufgeben, wir können aber auch anordnen, dass jemand zu einem Arzt geht und sich dort untersuchen lässt, wenn zum Beispiel Schulangst ein Thema ist.
Das heißt, wir haben jetzt einfach mehr Möglichkeiten, einzuwirken mit dem Ziel, dem Kind Bildung zu verschaffen, weil ich denke einfach – das zeigen alle Untersuchungen –, wenn man ohne Schulabschluss ist, dann hat man erhöhtes Risiko, straffällig zu werden, erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken, ein erhöhtes Risiko, suchtmittelabhängig zu werden und auch ein erhöhtes Risiko, in Zukunft sein Leben nicht selbstbestimmt ja finanzieren zu können. Das heißt also auch, ständig von öffentlichen Leistungen abhängig zu sein, was, glaube ich, auch keine Perspektive ist, die ein 16-jähriger junger Mensch gerne haben möchte.
Burg: Jens Buck ist Jugendrichter in Hannover, mit ihm spreche ich hier im Deutschlandradio Kultur über ein bundesweit einmaliges Projekt, ein Anti-Schulschwänzer-Programm, bei dem Eltern zumindest teilweise das Sorgerecht entzogen wird. Herr Buck, erst mal scheint es ja um das Wohl der Kinder zu gehen, sie sollen wieder an die Schule herangeführt werden. Wie aber lernen die Eltern dann, ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen und ihre Erziehungskompetenz zu steigern, sodass, wenn die Maßnahme abgeschlossen ist, auch ein gemeinsames familiäres Zusammenleben möglich ist wieder?
Buck: Also um das noch mal ganz klarzustellen, ein gemeinsames familiäres Zusammenleben stellen wir in keiner Weise infrage. Da möchte keiner ran, und das ist auch sicherlich nicht der Weg, um auf Schulverweigerung zu reagieren, aber wir können Eltern positive Beispiele an die Hand geben, wir können mit ihnen sprechen, wir können ihnen verdeutlichen, was ihr Verhalten bei den Kindern auslöst, und können versuchen, auf diese Weise die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen. Und nur mit Mitarbeit haben wir überhaupt ne Chance, etwas zu erreichen.
Burg: Aber wie funktioniert die Kooperation der Eltern, die ja erst mal feststellen mussten: Okay, offensichtlich machen wir ja was falsch. Für die klingt ja erst mal teilweiser Entzug des Sorgerechts auch Tatsache relativ drastisch.
Buck: Für die ist es aber erst mal ein Hilfsangebot. Und der teilweise Entzug der elterlichen Sorge wird, wenn überhaupt, nur einen absolut ganz kleinen, verschwindend geringen Teil der bei uns arbeitenden Eltern betreffen. Wissen Sie, der normale Weg, wenn ein Kind nicht zur Schule geht, ist ja, dass die Lehrer bei den Eltern anrufen. Und normalerweise melden sich dann die Eltern bei den Lehrern, und man kann über die Sache sprechen und man braucht uns überhaupt nicht.
Wir haben aber leider immer wieder Fälle, die uns von Lehrern berichtet werden, wo Lehrer einfach ständig hinterhertelefonieren, keinerlei Rückmeldung von den Eltern bekommen, wo Hausbesuche scheitern, wo Eltern einfach abtauchen, wo keine Ansprache möglich ist. Und da haben wir halt nur die Möglichkeit, entweder ein kleines bisschen Druck auszuüben oder aber zu sagen: Okay, wir gucken weiter zu und lassen es dann halt geschehen. Und ich finde, das ist einfach kein Weg, das geschehen zu lassen.
Und deswegen denke ich, ist es sinnvoll, an dieser Stelle den Eltern halt vorzustellen, was man machen kann. Und ich denke, wenn man den Eltern vorstellt, wir können zum Beispiel die Schule wechseln, wir könnten vielleicht in eine andere Schulform gehen, wir können vielleicht die Klasse wechseln, wir können ja noch mal ein Gespräch mit dem Lehrer führen – wenn sie wollen, können wir sie da auch begleiten –, dass dann die meisten Eltern auch schon mitgenommen werden, und dass dann jugendrechtliche Maßnahmen auch gar nicht mehr erforderlich werden.
Burg: Es gibt ja auch jetzt schon sehr, sehr viel Projekte, die sich um Schulverweigerer kümmern, die zum Beispiel Sozialarbeiter oder Therapeuten vermitteln – ohne Entzug des Sorgerechts. Das Problem ist nur, sagen viele Experten, es gibt einfach zu wenige Anlaufstellen, und die Hilfe dauert so lange, bis sie greift. Müsste man nicht besser dieser frühe Hilfe ausbauen, statt dann, wenn schon fast der Gang durch die juristischen Instanzen angefangen hat?
Buck: Das ist eine politische Entscheidung. Natürlich, wenn Sie Geld in die Hand nehmen und das in dieses System stecken, wäre das sicherlich besser. Wir arbeiten dran, uns überflüssig zu machen, wir wollen mit Sicherheit nicht, dass wir mit einer Reglementierung der Eltern arbeiten. Das Einzige, was wir wollen, ist, dass wir das Kinderrecht auf Bildung auch hochhalten wollen und einfach sagen wollen, wir wollen Kindern eine Zukunftschance ermöglichen, solange sie noch jung sind. Und solange es Hindernisse gibt, müssen wir alles tun, um diese Hindernisse zu beseitigen. Aber diese ganzen Hilfesysteme, die konkurrieren ja nicht miteinander, die stehen ja in einer kumulativen Ergänzung. Also wir profitieren ja voneinander. Wir tun nichts anderes, als die Kinder in Schulprojekte zurückzuführen, wo sie eigentlich hingehören.
Burg: Das Projekt läuft jetzt seit dem 1. Dezember. Welche Erfahrungen haben Sie denn bisher gemacht?
Buck: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ganz wenige erboste Eltern bei uns angerufen haben und gesagt haben: Meine Güte, was soll das denn? Wieso wollt ihr mir das Sorgerecht entziehen, mein Kind geht doch nur nicht zur Schule. Und das war ein Fall, wo das Kind 80 Tage nicht zur Schule gegangen ist, also wo man einfach sagen muss, wenn Eltern da nicht irgendwie so ein kleines Warnsignal haben und dann mit Lehrern sprechen, ist es schwierig.
Wir haben aber auch sehr positive Erfahrungen von Eltern, die bei uns angerufen haben und gefragt haben, wo sie ihre Kinder denn anzeigen könnten, weil das würde einfach nichts werden – da merkt man, da ist eigentlich die Erziehungskompetenz da, da muss nur noch die Hilfe in die Familie reinkommen. Also es sind unterschiedliche Reaktionen, aber ich finde, wenn Eltern hier erbost anrufen, ist das auch so ein Zeichen, dass wir den Hebel an der richtigen Stelle ansetzen.
Burg: Es ist ja ein Modellprojekt. Wie messen Sie denn die Ergebnisse, sodass sie dann sagen können, Projekt gelungen oder nicht gelungen?
Buck: Wir müssen einfach sehen, wie viele Kinder kriegen wir zurück in die Schule? Werden das mehr oder werden das weniger? Wir haben uns einfach als Jugendrichter zusammengesetzt, haben hier eine Arbeitsgruppe mit der Jugendgerichtshilfe gehabt, und haben einfach versucht, das bestehende System zu verändern, einfach Sachen zusammenzuführen, die früher immer nebeneinander her gearbeitet haben.
Ich habe früher zwölf Jahre als Familienrichter gearbeitet und habe in diesen zwölf Jahren drei Fälle gehabt, in denen ich wegen Schulverweigerung Maßnahmen prüfen musste. Und als ich dann hier ins Jugendrecht rüber gewechselt bin, habe ich mich gewundert, in wie vielen Fällen nichts passiert ist. Und ich glaube einfach, dass wir hier eine Bündelung von Kompetenzen herbeiführen können, eine Verschlankung des Systems und einfach ein schnelleres Eingreifen.
Burg: In Hannover hat ein neues Projekt begonnen. Es soll dem Problem der hartnäckigen Schulschwänzer beikommen, indem den Eltern zumindest teilweise das Sorgerecht entzogen wird. Der Jugendrichter Jens Buck ist Initiator des Projektes. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Buck!
Buck: Ja, wiedersehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Verschiedene Ansätze sollen helfen, von Hilfskonferenzen mit Lehrern und Eltern bis hin zu Sanktionen wie Bußgeldern. In Hannover hat nun ein bundesweit einmaliges Anti-Schulschwänzer-Programm begonnen. Initiator des Programms ist der Jugendrichter Jens Buck. Mit ihm bin ich jetzt telefonisch verbunden. Herr Buck, ich habe von drastischen Maßnahmen gelesen: Sie wollen Eltern von Schulschwänzern zumindest teilweise das Sorgerecht entziehen. Warum ein solch drastischer Schritt?
Jens Buck: Diesen drastischen Schritt wollen wir in Hannover gar nicht gehen. Es ist leider in den Medien nicht ganz richtig dargestellt worden. Wir prüfen nur, was wir den Kindern für Hilfe geben können. Wir wollen aus dem Jugendrecht heraus auch das Familienrecht aktivieren und wollen den Familien Hilfen zur Seite stellen, um halt zu ermöglichen, dass Kinder wieder zur Schule zurückfinden. Und je früher das ist, desto leichter fällt es, die Kinder zurückzuführen. Je länger Kinder nicht zur Schule gehen, desto schwieriger wird es, Kinder auch wieder zurückzuführen.
Burg: Das heißt: Wie sieht es konkret aus, was Sie dort machen?
Buck: Konkret sieht es so aus, dass wir als Jugendrichter uns gesagt haben: Wenn wir mehr als einen Monat Fehlzeiten haben, wollen wir das Jugendamt losschicken und vom Jugendamt einen Bericht einholen, ob sämtliche Jugendhilfemaßnahmen, die zur Verfügung stehen, auch schon ergriffen wurden. Das Jugendamt berichtet dann an uns, es führt erst mal einen Hausbesuch durch, es führt Gespräche mit den Eltern, macht denen Angebote, und wenn mit den Eltern dann auch schon eine Lösung erarbeitet werden kann, was in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle ja der Fall ist, dann ist das Verfahren für uns an dieser Stelle beendet.
Nur in den Fällen, in denen keine Hilfe in die Familie gebracht werden kann, wo Eltern sich hartnäckig verweigern, wo eine Egal-Haltung gegenüber der schulischen Entwicklung des Kindes da ist, nur dort würden wir weitermachen, und dann würden wir einen teilweisen Entzug der elterlichen Sorge prüfen – allerdings auch nur als absolut letztes Mittel, als Ultima Ratio. Auch wir sind an Recht und Gesetz gebunden und würden natürlich versuchen, jedes geringere Mittel, das Aussicht auf Erfolg hat, auch einzusetzen.
Burg: Ein teilweiser Entzug des Sorgerechts, was bedeutet das? Sie setzen den Jugendlichen dann Schullotsen an die Seite – was ist deren Aufgabe?
Buck: Aufgabe ist es, wir würden sogenannte Ergänzungspfleger bestellen. Das sind freie Sozialpädagogen, die sich hier spezialisiert haben in Hannover auf das hannoversche Schulsystem, und die führen dann mit den Kindern erst mal ein Gespräch und gucken, was können wir machen, um das Kind wieder in die Schule zu bringen, weil es einfach ja ganz oft so ist, dass der Grund für den nicht erfolgten Schulbesuch noch gar nicht wirklich aufgearbeitet ist. Es gibt immer einen Grund für Schulabsentismus. Aber dieser Grund muss herausgearbeitet werden. Der kann in einer besonderen Trennungssituation in der Familie liegen, der kann in einer Überforderung, in einer Unterforderung des Kindes liegen, Mobbing ist ein Thema, Schulangst ist ein Thema, all das sind Punkte, da müssen wir gucken, was können wir machen, um diesem Kind den Weg in die Schule wieder zurück zu ebnen? Und wenn wir sehen, dass acht Prozent der Jugendlichen eines jeden Jahrgangs ohne Abschluss die Schule verlassen, und davon ganz viele Schulverweigerer sind, denke ich einfach, dass wir was verändern müssen.
Burg: Ich kann mir das trotzdem noch praktisch nicht so richtig vorstellen – ein teilweiser Entzug des Sorgerechtes, das heißt, die Kinder bleiben in den Familien, es gibt einen Schullotsen, der kümmert sich um die Schulangelegenheiten und die Eltern dann um den Rest. Aber wenn die Gründe fürs Schule schwänzen, wie Sie ja gesagt haben, familiärer Natur sind, ist denn dann mit einem solchen teilweisen Sorgerecht der Situation geholfen?
Buck: Da kann geholfen sein, wenn man ins Gespräch kommt mit diesem Ergänzungspfleger, der ja auch mit den Eltern spricht, und versucht, dann eine Lösung zu erarbeiten. Und in den meisten Fällen kann man Lösungen erarbeiten. Es ist sehr selten, dass Eltern wirklich völlig desinteressiert sind am Schulbesuch ihrer Kinder und dass man dann auch wirklich eingreifen müsste. Und wenn wir feststellen, dass es unsere Kapazität am Jugendgericht übersteigt, wenn wir sagen, möglicherweise müssten ja doch weitergehende Maßnahmen ergriffen werden, dann würden wir das Verfahren immer an das Familiengericht abgeben und die dortige Kompetenz weiter führen lassen.
Wir haben halt hier jetzt den ganz großen Vorteil, dass wir sowohl die Maßnahmen aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht haben, als auch die Maßnahmen aus dem Hilferecht des Familienrechtes. Das heißt, wir können einerseits über Ergänzungspfleger, über Schullotsen sprechen, wir können andererseits auch ein bisschen Druck machen, indem wir einen Arrest aufgeben, wir können aber auch anordnen, dass jemand zu einem Arzt geht und sich dort untersuchen lässt, wenn zum Beispiel Schulangst ein Thema ist.
Das heißt, wir haben jetzt einfach mehr Möglichkeiten, einzuwirken mit dem Ziel, dem Kind Bildung zu verschaffen, weil ich denke einfach – das zeigen alle Untersuchungen –, wenn man ohne Schulabschluss ist, dann hat man erhöhtes Risiko, straffällig zu werden, erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken, ein erhöhtes Risiko, suchtmittelabhängig zu werden und auch ein erhöhtes Risiko, in Zukunft sein Leben nicht selbstbestimmt ja finanzieren zu können. Das heißt also auch, ständig von öffentlichen Leistungen abhängig zu sein, was, glaube ich, auch keine Perspektive ist, die ein 16-jähriger junger Mensch gerne haben möchte.
Burg: Jens Buck ist Jugendrichter in Hannover, mit ihm spreche ich hier im Deutschlandradio Kultur über ein bundesweit einmaliges Projekt, ein Anti-Schulschwänzer-Programm, bei dem Eltern zumindest teilweise das Sorgerecht entzogen wird. Herr Buck, erst mal scheint es ja um das Wohl der Kinder zu gehen, sie sollen wieder an die Schule herangeführt werden. Wie aber lernen die Eltern dann, ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen und ihre Erziehungskompetenz zu steigern, sodass, wenn die Maßnahme abgeschlossen ist, auch ein gemeinsames familiäres Zusammenleben möglich ist wieder?
Buck: Also um das noch mal ganz klarzustellen, ein gemeinsames familiäres Zusammenleben stellen wir in keiner Weise infrage. Da möchte keiner ran, und das ist auch sicherlich nicht der Weg, um auf Schulverweigerung zu reagieren, aber wir können Eltern positive Beispiele an die Hand geben, wir können mit ihnen sprechen, wir können ihnen verdeutlichen, was ihr Verhalten bei den Kindern auslöst, und können versuchen, auf diese Weise die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen. Und nur mit Mitarbeit haben wir überhaupt ne Chance, etwas zu erreichen.
Burg: Aber wie funktioniert die Kooperation der Eltern, die ja erst mal feststellen mussten: Okay, offensichtlich machen wir ja was falsch. Für die klingt ja erst mal teilweiser Entzug des Sorgerechts auch Tatsache relativ drastisch.
Buck: Für die ist es aber erst mal ein Hilfsangebot. Und der teilweise Entzug der elterlichen Sorge wird, wenn überhaupt, nur einen absolut ganz kleinen, verschwindend geringen Teil der bei uns arbeitenden Eltern betreffen. Wissen Sie, der normale Weg, wenn ein Kind nicht zur Schule geht, ist ja, dass die Lehrer bei den Eltern anrufen. Und normalerweise melden sich dann die Eltern bei den Lehrern, und man kann über die Sache sprechen und man braucht uns überhaupt nicht.
Wir haben aber leider immer wieder Fälle, die uns von Lehrern berichtet werden, wo Lehrer einfach ständig hinterhertelefonieren, keinerlei Rückmeldung von den Eltern bekommen, wo Hausbesuche scheitern, wo Eltern einfach abtauchen, wo keine Ansprache möglich ist. Und da haben wir halt nur die Möglichkeit, entweder ein kleines bisschen Druck auszuüben oder aber zu sagen: Okay, wir gucken weiter zu und lassen es dann halt geschehen. Und ich finde, das ist einfach kein Weg, das geschehen zu lassen.
Und deswegen denke ich, ist es sinnvoll, an dieser Stelle den Eltern halt vorzustellen, was man machen kann. Und ich denke, wenn man den Eltern vorstellt, wir können zum Beispiel die Schule wechseln, wir könnten vielleicht in eine andere Schulform gehen, wir können vielleicht die Klasse wechseln, wir können ja noch mal ein Gespräch mit dem Lehrer führen – wenn sie wollen, können wir sie da auch begleiten –, dass dann die meisten Eltern auch schon mitgenommen werden, und dass dann jugendrechtliche Maßnahmen auch gar nicht mehr erforderlich werden.
Burg: Es gibt ja auch jetzt schon sehr, sehr viel Projekte, die sich um Schulverweigerer kümmern, die zum Beispiel Sozialarbeiter oder Therapeuten vermitteln – ohne Entzug des Sorgerechts. Das Problem ist nur, sagen viele Experten, es gibt einfach zu wenige Anlaufstellen, und die Hilfe dauert so lange, bis sie greift. Müsste man nicht besser dieser frühe Hilfe ausbauen, statt dann, wenn schon fast der Gang durch die juristischen Instanzen angefangen hat?
Buck: Das ist eine politische Entscheidung. Natürlich, wenn Sie Geld in die Hand nehmen und das in dieses System stecken, wäre das sicherlich besser. Wir arbeiten dran, uns überflüssig zu machen, wir wollen mit Sicherheit nicht, dass wir mit einer Reglementierung der Eltern arbeiten. Das Einzige, was wir wollen, ist, dass wir das Kinderrecht auf Bildung auch hochhalten wollen und einfach sagen wollen, wir wollen Kindern eine Zukunftschance ermöglichen, solange sie noch jung sind. Und solange es Hindernisse gibt, müssen wir alles tun, um diese Hindernisse zu beseitigen. Aber diese ganzen Hilfesysteme, die konkurrieren ja nicht miteinander, die stehen ja in einer kumulativen Ergänzung. Also wir profitieren ja voneinander. Wir tun nichts anderes, als die Kinder in Schulprojekte zurückzuführen, wo sie eigentlich hingehören.
Burg: Das Projekt läuft jetzt seit dem 1. Dezember. Welche Erfahrungen haben Sie denn bisher gemacht?
Buck: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ganz wenige erboste Eltern bei uns angerufen haben und gesagt haben: Meine Güte, was soll das denn? Wieso wollt ihr mir das Sorgerecht entziehen, mein Kind geht doch nur nicht zur Schule. Und das war ein Fall, wo das Kind 80 Tage nicht zur Schule gegangen ist, also wo man einfach sagen muss, wenn Eltern da nicht irgendwie so ein kleines Warnsignal haben und dann mit Lehrern sprechen, ist es schwierig.
Wir haben aber auch sehr positive Erfahrungen von Eltern, die bei uns angerufen haben und gefragt haben, wo sie ihre Kinder denn anzeigen könnten, weil das würde einfach nichts werden – da merkt man, da ist eigentlich die Erziehungskompetenz da, da muss nur noch die Hilfe in die Familie reinkommen. Also es sind unterschiedliche Reaktionen, aber ich finde, wenn Eltern hier erbost anrufen, ist das auch so ein Zeichen, dass wir den Hebel an der richtigen Stelle ansetzen.
Burg: Es ist ja ein Modellprojekt. Wie messen Sie denn die Ergebnisse, sodass sie dann sagen können, Projekt gelungen oder nicht gelungen?
Buck: Wir müssen einfach sehen, wie viele Kinder kriegen wir zurück in die Schule? Werden das mehr oder werden das weniger? Wir haben uns einfach als Jugendrichter zusammengesetzt, haben hier eine Arbeitsgruppe mit der Jugendgerichtshilfe gehabt, und haben einfach versucht, das bestehende System zu verändern, einfach Sachen zusammenzuführen, die früher immer nebeneinander her gearbeitet haben.
Ich habe früher zwölf Jahre als Familienrichter gearbeitet und habe in diesen zwölf Jahren drei Fälle gehabt, in denen ich wegen Schulverweigerung Maßnahmen prüfen musste. Und als ich dann hier ins Jugendrecht rüber gewechselt bin, habe ich mich gewundert, in wie vielen Fällen nichts passiert ist. Und ich glaube einfach, dass wir hier eine Bündelung von Kompetenzen herbeiführen können, eine Verschlankung des Systems und einfach ein schnelleres Eingreifen.
Burg: In Hannover hat ein neues Projekt begonnen. Es soll dem Problem der hartnäckigen Schulschwänzer beikommen, indem den Eltern zumindest teilweise das Sorgerecht entzogen wird. Der Jugendrichter Jens Buck ist Initiator des Projektes. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Buck!
Buck: Ja, wiedersehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.