Kinderpsychiater sieht mangelnden Respekt als Alarmzeichen
Viele Kinder und Jugendliche sind nach Einschätzung des Psychiaters Michael Winterhoff in ihrer geistigen Entwicklung auf dem Stand eines Kleinkindes stehengeblieben. Grund dafür sei unter anderem ein partnerschaftliches Erziehungsmodell, so dass den Kindern oft der Respekt vor Erwachsenen fehle. Viele Eltern ließen sich von ihren Kindern permanent steuern und bestimmen, so dass diese nicht zwischen Gegenständen und Menschen unterscheiden könnten.
Nana Brink: Haben Sie es noch im Ohr, das Lied von Herbert Grönemeyer "Kinder an die Macht"? Da heißt es so schön: "Gebt den Kindern das Kommando, sie berechnen nicht, was sie tun. Sie sind die wahren Anarchisten, lieben das Chaos, räumen ab, kennen keine Rechte, keine Pflichten." In den Ohren des Bonner Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff klingen diese Zeilen wie eine Katastrophe. Seit 20 Jahren praktiziert Winterhoff und stellt fest: Kinder sind grundsätzlich respektloser geworden und ihre Psyche ist gestört. Ich begrüße jetzt Michael Winterhoff bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen!
Michael Winterhoff: Ja, guten Morgen!
Brink: Sie sagen, die heutigen Kinder haben sich verändert, und zwar zu ihrem Nachteil. Wie ticken denn unsere Kinder heute?
Winterhoff: Na ja, ich stelle fest, dass seit 15 Jahren die Kinder sich gravierend verändert haben. Das sehen Sie in der Praxis. Nehmen Sie die Begrüßungssituation. Vor 15 Jahren war es so, dass ein Kind sich ab dem dritten Lebensjahr zu den Eltern gestellt hatte und hat angemessen zu den Eltern gegrüßt. Heute ist es so, dass die Kinder bis zum zwölften Lebensjahr, dass die am Boden spielen, mit Kleinkinderspielzeug eher, dass sie die gar nicht ausfindig machen. Und wenn Sie die Eltern nach den Kindern befragen, dann blicken die bestenfalls kurz auf, spielen weiter, eine Begrüßung ist gar nicht möglich. Ältere Kinder bleiben sitzen, während die Eltern stehen und freundlich begrüßen, wirken eher abweisend und lassen zu 60 Prozent meine dargebotene Hand in der Luft stehen, also gravierende Veränderungen.
Das heißt, man muss feststellen, ich stelle fest, dass Kinder sich nicht mehr auf den Erwachsenen einstellen, zumindest die, die zu mir kommen, und dass eine gewisse Respektlosigkeit vorliegt.
Brink: Ist denn das so schlimm, wenn Kinder nicht grüßen?
Winterhoff: Ja, ich könnte Ihnen ja viele andere Situationen noch darstellen. Ich muss sagen, vor zwölf Jahren war deutlich, dass die erlernten Kriterien zur diagnostischen Feststellung zur Therapie nicht mehr funktionierten. Also auch, wenn Sie einen Intelligenztest anwenden, dann müssten Sie als Ergebnis ein gleichbleibendes Niveau haben bei einem Test mit elf Untertests. Und heute stellen Sie fest, dass das Fieberkurven ergibt. Das heißt, das ist nicht nur in der Begrüßungssituation so, sondern das ist in allen Anforderungssituationen so.
Brink: Sie haben das Wort Respektlosigkeit genannt. Warum ist das denn Ihrer Erfahrung nach so schlimm, wenn Kinder respektlos sind?
Winterhoff: Ja, das Schwierige ist ja etwas anders. Das Schwierige ist ja, dass etwas nicht zusammenpasst. Zu mir kommen nur engagierte Eltern, die sind alle beziehungsfähig, die haben bewusst ihre Kinder, die haben ihre Kinder von klein auf erzogen, und obwohl diese optimalen Bedingungen vorliegen, ich arbeite überwiegend mit kompletten Familien, die Kinder haben oft Geschwisterkinder, ein Elternteil ist nachmittags anwesend, suchen diese Eltern meine Praxis auf und haben respektlose Kinder. Also kann die Respektlosigkeit dieser Kinder nicht zusammenhängen mit einer fehlenden Erziehung. Nein, sie hängt zusammen mit einer fehlenden Entwicklung.
Brink: Was haben Kinder heute für ein Verhältnis dann zu ihren Eltern, wenn Sie das feststellen?
Winterhoff: Na ja, ich stelle fest, dass eben immer mehr Kinder aufgrund von den Eltern nicht bewussten Beziehungsstörungen im frühkindlichen Narzissmus verbleiben, das ist normalerweise eine Durchgangsphase gewesen im Alter von zehn bis 16 Monate. In dem Alter hat kein Kind Respekt, und tragischerweise ist es auch nicht beziehungsfähig.
Brink: Sie behaupten ja, es wachse eine Generation heran, deren Psyche unterentwickelt sei, was sich zum Beispiel an der Respektlosigkeit festmacht, die Sie geschildert haben. Und diese Kinder entwickeln sich zu kleinen Tyrannen. Wie kommen Sie zu dieser These?
Winterhoff: Ja, das ist natürlich eine Frage von Diagnostik. Ich bin Kinderpsychiater, tiefenpsychologisch orientiert. Und von daher, wenn Sie die Verhaltensweisen, die diese Kinder an den Tag legen, zuordnen den natürlichen Entwicklungsphasen, sind wir in diesem Bereich stehend. Das heißt noch einmal gesagt, in diesem Alter ist jedes Kind respektlos. Das heißt, Sie haben einen Zehnjährigen, einen 15-Jährigen vor sich, der aber den psychischen Reifegrad eines Kleinkindes hat.
Brink: Wir sprechen mit dem Bonner Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff über die heutigen Kinder, die immer respektloser werden und deren Psyche Schaden genommen hat. Sie sagen ja, es liegt auch daran, dass sich das Eltern-Kind-Verhältnis, man kann ja eigentlich dann sagen, fast auf den Kopf gestellt hat, wenn dieser Respekt, der wichtig ist für die Psyche des Kindes, nicht mehr funktioniert?
Winterhoff: Ja, das ist aber den Eltern, das ist allen Erwachsenen nicht bewusst. Das heißt, wir sind alle davon betroffen. Aus meiner Sicht verkraften wir diese Gesellschaft nicht, den technischen Fortschritt nicht, den Wohlstand nicht, und vor allen Dinge leben wir ja jetzt in einer nicht mehr positiv zukunftsweisenden Gesellschaft. Und unbewusst wird das Kind zur Kompensation genutzt. Das heißt, die Konzepte, Kinder als Partner zu sehen, die ja Anfang der 90er aufkamen und leider heute auch in Institutionen wie Kindergarten und Grundschule vorliegen, und damit wird ja in diesen Bereichen eklatant gegen neurologische Gesetze verstoßen, die weitere Beziehungsstörung, die Projektion, dass Erwachsene geliebt werden wollen, und die aktuelle Beziehungsstörung der Symbiose resultieren aus einer Kompensation der nicht zu verkraftenden Gesellschaft. Das heißt, es geht überhaupt nicht um Schuld, sondern es geht darum, auch mit dem Buch bewusst zu machen, dass jeder von uns in einer dieser Beziehungsstörungen sein könnte und damit das Kind keine Chance hat auf eine gesunde Entwicklung.
Brink: Sie haben ein Buch dazu geschrieben, wir haben es erwähnt, "Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder die Abschaffung der Kindheit". Das heißt, wenn ich Ihren Thesen folge, dann ist dieses Missverhältnis zwischen Eltern und Kindern auch schlecht für die Kinder, weil sie ihre Kindheit verlieren dadurch?
Winterhoff: Weil sie sie gar nicht leben können. Sie bleiben also auf der frühesten Stufe stehen. Frühkindlicher Narzissmus bedeutet, dass das Kind noch nicht einmal unterscheiden kann zwischen Gegenstand und Mensch. Sie müssen das ja so sehen, das Gehirn ist angelegt, aber die Entdeckung, wie man nachher Gegenstände sieht oder einen Menschen sieht, hat ja etwas mit Erfahrung zu tun. Und im Rahmen der psychischen Verschmelzung der Symbiose verhalten sich heute Eltern oft wie Gegenstände, das heißt sie lassen sich von den kleinen Kindern, ohne dass es ihnen bewusst wäre, permanent steuern und bestimmen. Und damit ist es noch nicht einmal möglich diesen Kindern festzustellen, dass Menschen Menschen sind.
Brink: Also wenn ich Ihnen so zuhöre, dann wird mir ein bisschen gruselig zumute. Das ist ja eine Entwicklung, die dann Heerscharen von tyrannischen Kindern hinterlässt. Können wir das überhaupt umkehren? Und wenn ja, müssen wir da nicht bei den Eltern anfangen?
Winterhoff: Ja nicht nur bei den Eltern, wir müssten in der Gesamtgesellschaft anfangen. Wir müssten dringend die Konzepte im Kindergarten und Grundschule überprüfen. Wir müssen sehen, dass die Kinder eine Chance bekommen auf Nachreifung. Dann könnten wir diesen Prozess unterbrechen. Das heißt, wir müssen dringend anhalten, wir müssen dringend Analysen machen. Und das ist auch mein Anliegen, letztendlich mit diesen Hypothesen nach außen zu treten, um damit auch verschiedenen Fachgruppen die Möglichkeit zu geben, entsprechende Konzepte zu entwickeln.
Brink: Herr Dr. Winterhoff, jetzt geben Sie uns doch mal ein Beispiel. Was kann man denn tun zum Beispiel im Kindergarten, also wo das mit drei Jahren irgendwie anfängt, was können die denn tun, die überforderten Erzieher?
Winterhoff: Sie müssen zunächst einmal sehen, dass ja in vielen Kindergarten heute partnerschaftliche Konzepte vorherrschen und dass die Vorstellung vorherrscht, dass Kinder eine Persönlichkeit haben in dem Alter.
Brink: Also so eine Nach-68er-antiautoritäre-Erziehung?
Winterhoff: Ja, das ist letztendlich aus dem modernen Denken erwachsen. Es gibt ja, wenn es um Menschenführung geht, zwei Denksysteme, das moderne Denken und das traditionelle Denken. Und je kleiner Kinder sind, desto mehr ist eher ein traditionelleres Denken erforderlich. Und das moderne Denken müsste dann mit beginnendem Jugendalter stärker eintreten. Und heute geht man eben davon aus, dass diese Kinder schon Persönlichkeiten haben. Man hat eben in weiten Bereichen offene Situationen, offene Gruppen. Die Kinder können frei entscheiden, was sie machen und finden in dem Erzieher und auch in dem Grundschullehrer zunehmend kein Gegenüber mehr.
Brink: Das heißt ganz konkret, wenn ich mir das jetzt im Kindergarten vorstelle, heißt das feste Essenszeiten, Begrüßung der Erzieher schon für Dreijährige als Respektperson?
Winterhoff: Nein, so nicht. Es ist so, dass die Abläufe immer gleich sein müssen. Das Gehirn kann nur lernen mit immer gleichen Durchgängen. Wenn Sie jetzt ein ganz kleines Kind nehmen, brauchen Sie in der Badewanne an einer Stelle die Seife, an der anderen die Quietschente und an der anderen einen Waschlappen. Und das dürfen Sie bei kleinen Kindern noch nicht mal verstellen, ansonsten sind die irritiert. Oder wenn ein kleines Kind draußen durch ein Viertel geht, dann muss es das Mäuerchen sein und der Hauseingang. Das heißt, kleine Kinder brauchen immer gleiche Abläufe und nur dann können sie lernen. Das heißt, es gibt Sicherheit, diese Gleichheit. Und diesem Gesetz zum Beispiel entspricht man heute in diesem Bereich nicht, sondern ich habe permanent eine Wechselhaftigkeit und damit kann das Gehirn nicht lernen.
Brink: Vielen Dank, Michael Winterhoff. Er ist Kinder- und Jugendpsychiater. Und wir sprachen mit ihm über die heutigen Kinder, die zu kleinen Tyrannen heranwachsen. Und wenn Sie die Thesen von Herrn Winterhoff noch mal nachlesen wollen, dann können Sie das tun in seinem Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder die Abschaffung der Kindheit". Schönen Dank für das Gespräch!
Winterhoff: Ja, danke auch!
Michael Winterhoff: Ja, guten Morgen!
Brink: Sie sagen, die heutigen Kinder haben sich verändert, und zwar zu ihrem Nachteil. Wie ticken denn unsere Kinder heute?
Winterhoff: Na ja, ich stelle fest, dass seit 15 Jahren die Kinder sich gravierend verändert haben. Das sehen Sie in der Praxis. Nehmen Sie die Begrüßungssituation. Vor 15 Jahren war es so, dass ein Kind sich ab dem dritten Lebensjahr zu den Eltern gestellt hatte und hat angemessen zu den Eltern gegrüßt. Heute ist es so, dass die Kinder bis zum zwölften Lebensjahr, dass die am Boden spielen, mit Kleinkinderspielzeug eher, dass sie die gar nicht ausfindig machen. Und wenn Sie die Eltern nach den Kindern befragen, dann blicken die bestenfalls kurz auf, spielen weiter, eine Begrüßung ist gar nicht möglich. Ältere Kinder bleiben sitzen, während die Eltern stehen und freundlich begrüßen, wirken eher abweisend und lassen zu 60 Prozent meine dargebotene Hand in der Luft stehen, also gravierende Veränderungen.
Das heißt, man muss feststellen, ich stelle fest, dass Kinder sich nicht mehr auf den Erwachsenen einstellen, zumindest die, die zu mir kommen, und dass eine gewisse Respektlosigkeit vorliegt.
Brink: Ist denn das so schlimm, wenn Kinder nicht grüßen?
Winterhoff: Ja, ich könnte Ihnen ja viele andere Situationen noch darstellen. Ich muss sagen, vor zwölf Jahren war deutlich, dass die erlernten Kriterien zur diagnostischen Feststellung zur Therapie nicht mehr funktionierten. Also auch, wenn Sie einen Intelligenztest anwenden, dann müssten Sie als Ergebnis ein gleichbleibendes Niveau haben bei einem Test mit elf Untertests. Und heute stellen Sie fest, dass das Fieberkurven ergibt. Das heißt, das ist nicht nur in der Begrüßungssituation so, sondern das ist in allen Anforderungssituationen so.
Brink: Sie haben das Wort Respektlosigkeit genannt. Warum ist das denn Ihrer Erfahrung nach so schlimm, wenn Kinder respektlos sind?
Winterhoff: Ja, das Schwierige ist ja etwas anders. Das Schwierige ist ja, dass etwas nicht zusammenpasst. Zu mir kommen nur engagierte Eltern, die sind alle beziehungsfähig, die haben bewusst ihre Kinder, die haben ihre Kinder von klein auf erzogen, und obwohl diese optimalen Bedingungen vorliegen, ich arbeite überwiegend mit kompletten Familien, die Kinder haben oft Geschwisterkinder, ein Elternteil ist nachmittags anwesend, suchen diese Eltern meine Praxis auf und haben respektlose Kinder. Also kann die Respektlosigkeit dieser Kinder nicht zusammenhängen mit einer fehlenden Erziehung. Nein, sie hängt zusammen mit einer fehlenden Entwicklung.
Brink: Was haben Kinder heute für ein Verhältnis dann zu ihren Eltern, wenn Sie das feststellen?
Winterhoff: Na ja, ich stelle fest, dass eben immer mehr Kinder aufgrund von den Eltern nicht bewussten Beziehungsstörungen im frühkindlichen Narzissmus verbleiben, das ist normalerweise eine Durchgangsphase gewesen im Alter von zehn bis 16 Monate. In dem Alter hat kein Kind Respekt, und tragischerweise ist es auch nicht beziehungsfähig.
Brink: Sie behaupten ja, es wachse eine Generation heran, deren Psyche unterentwickelt sei, was sich zum Beispiel an der Respektlosigkeit festmacht, die Sie geschildert haben. Und diese Kinder entwickeln sich zu kleinen Tyrannen. Wie kommen Sie zu dieser These?
Winterhoff: Ja, das ist natürlich eine Frage von Diagnostik. Ich bin Kinderpsychiater, tiefenpsychologisch orientiert. Und von daher, wenn Sie die Verhaltensweisen, die diese Kinder an den Tag legen, zuordnen den natürlichen Entwicklungsphasen, sind wir in diesem Bereich stehend. Das heißt noch einmal gesagt, in diesem Alter ist jedes Kind respektlos. Das heißt, Sie haben einen Zehnjährigen, einen 15-Jährigen vor sich, der aber den psychischen Reifegrad eines Kleinkindes hat.
Brink: Wir sprechen mit dem Bonner Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff über die heutigen Kinder, die immer respektloser werden und deren Psyche Schaden genommen hat. Sie sagen ja, es liegt auch daran, dass sich das Eltern-Kind-Verhältnis, man kann ja eigentlich dann sagen, fast auf den Kopf gestellt hat, wenn dieser Respekt, der wichtig ist für die Psyche des Kindes, nicht mehr funktioniert?
Winterhoff: Ja, das ist aber den Eltern, das ist allen Erwachsenen nicht bewusst. Das heißt, wir sind alle davon betroffen. Aus meiner Sicht verkraften wir diese Gesellschaft nicht, den technischen Fortschritt nicht, den Wohlstand nicht, und vor allen Dinge leben wir ja jetzt in einer nicht mehr positiv zukunftsweisenden Gesellschaft. Und unbewusst wird das Kind zur Kompensation genutzt. Das heißt, die Konzepte, Kinder als Partner zu sehen, die ja Anfang der 90er aufkamen und leider heute auch in Institutionen wie Kindergarten und Grundschule vorliegen, und damit wird ja in diesen Bereichen eklatant gegen neurologische Gesetze verstoßen, die weitere Beziehungsstörung, die Projektion, dass Erwachsene geliebt werden wollen, und die aktuelle Beziehungsstörung der Symbiose resultieren aus einer Kompensation der nicht zu verkraftenden Gesellschaft. Das heißt, es geht überhaupt nicht um Schuld, sondern es geht darum, auch mit dem Buch bewusst zu machen, dass jeder von uns in einer dieser Beziehungsstörungen sein könnte und damit das Kind keine Chance hat auf eine gesunde Entwicklung.
Brink: Sie haben ein Buch dazu geschrieben, wir haben es erwähnt, "Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder die Abschaffung der Kindheit". Das heißt, wenn ich Ihren Thesen folge, dann ist dieses Missverhältnis zwischen Eltern und Kindern auch schlecht für die Kinder, weil sie ihre Kindheit verlieren dadurch?
Winterhoff: Weil sie sie gar nicht leben können. Sie bleiben also auf der frühesten Stufe stehen. Frühkindlicher Narzissmus bedeutet, dass das Kind noch nicht einmal unterscheiden kann zwischen Gegenstand und Mensch. Sie müssen das ja so sehen, das Gehirn ist angelegt, aber die Entdeckung, wie man nachher Gegenstände sieht oder einen Menschen sieht, hat ja etwas mit Erfahrung zu tun. Und im Rahmen der psychischen Verschmelzung der Symbiose verhalten sich heute Eltern oft wie Gegenstände, das heißt sie lassen sich von den kleinen Kindern, ohne dass es ihnen bewusst wäre, permanent steuern und bestimmen. Und damit ist es noch nicht einmal möglich diesen Kindern festzustellen, dass Menschen Menschen sind.
Brink: Also wenn ich Ihnen so zuhöre, dann wird mir ein bisschen gruselig zumute. Das ist ja eine Entwicklung, die dann Heerscharen von tyrannischen Kindern hinterlässt. Können wir das überhaupt umkehren? Und wenn ja, müssen wir da nicht bei den Eltern anfangen?
Winterhoff: Ja nicht nur bei den Eltern, wir müssten in der Gesamtgesellschaft anfangen. Wir müssten dringend die Konzepte im Kindergarten und Grundschule überprüfen. Wir müssen sehen, dass die Kinder eine Chance bekommen auf Nachreifung. Dann könnten wir diesen Prozess unterbrechen. Das heißt, wir müssen dringend anhalten, wir müssen dringend Analysen machen. Und das ist auch mein Anliegen, letztendlich mit diesen Hypothesen nach außen zu treten, um damit auch verschiedenen Fachgruppen die Möglichkeit zu geben, entsprechende Konzepte zu entwickeln.
Brink: Herr Dr. Winterhoff, jetzt geben Sie uns doch mal ein Beispiel. Was kann man denn tun zum Beispiel im Kindergarten, also wo das mit drei Jahren irgendwie anfängt, was können die denn tun, die überforderten Erzieher?
Winterhoff: Sie müssen zunächst einmal sehen, dass ja in vielen Kindergarten heute partnerschaftliche Konzepte vorherrschen und dass die Vorstellung vorherrscht, dass Kinder eine Persönlichkeit haben in dem Alter.
Brink: Also so eine Nach-68er-antiautoritäre-Erziehung?
Winterhoff: Ja, das ist letztendlich aus dem modernen Denken erwachsen. Es gibt ja, wenn es um Menschenführung geht, zwei Denksysteme, das moderne Denken und das traditionelle Denken. Und je kleiner Kinder sind, desto mehr ist eher ein traditionelleres Denken erforderlich. Und das moderne Denken müsste dann mit beginnendem Jugendalter stärker eintreten. Und heute geht man eben davon aus, dass diese Kinder schon Persönlichkeiten haben. Man hat eben in weiten Bereichen offene Situationen, offene Gruppen. Die Kinder können frei entscheiden, was sie machen und finden in dem Erzieher und auch in dem Grundschullehrer zunehmend kein Gegenüber mehr.
Brink: Das heißt ganz konkret, wenn ich mir das jetzt im Kindergarten vorstelle, heißt das feste Essenszeiten, Begrüßung der Erzieher schon für Dreijährige als Respektperson?
Winterhoff: Nein, so nicht. Es ist so, dass die Abläufe immer gleich sein müssen. Das Gehirn kann nur lernen mit immer gleichen Durchgängen. Wenn Sie jetzt ein ganz kleines Kind nehmen, brauchen Sie in der Badewanne an einer Stelle die Seife, an der anderen die Quietschente und an der anderen einen Waschlappen. Und das dürfen Sie bei kleinen Kindern noch nicht mal verstellen, ansonsten sind die irritiert. Oder wenn ein kleines Kind draußen durch ein Viertel geht, dann muss es das Mäuerchen sein und der Hauseingang. Das heißt, kleine Kinder brauchen immer gleiche Abläufe und nur dann können sie lernen. Das heißt, es gibt Sicherheit, diese Gleichheit. Und diesem Gesetz zum Beispiel entspricht man heute in diesem Bereich nicht, sondern ich habe permanent eine Wechselhaftigkeit und damit kann das Gehirn nicht lernen.
Brink: Vielen Dank, Michael Winterhoff. Er ist Kinder- und Jugendpsychiater. Und wir sprachen mit ihm über die heutigen Kinder, die zu kleinen Tyrannen heranwachsen. Und wenn Sie die Thesen von Herrn Winterhoff noch mal nachlesen wollen, dann können Sie das tun in seinem Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder die Abschaffung der Kindheit". Schönen Dank für das Gespräch!
Winterhoff: Ja, danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.