Warum Eltern und Kinder ihre innere Ruhe wiederfinden sollten
70 bis 80 % der Grundschüler sind verhaltensauffällig, diagnostiziert der Kinderpsychiater Michael Winterhoff. Die Erwachsenen hätten einen gewichtigen Anteil an Fehlentwicklungen: In der digitalen Welt seien sie ständig gehetzt, gereizt und in Zeitnot: "Die Leidtragenden sind die Kinder".
Kinder sind mehr als nur das Produkt ihrer Eltern. Doch deren Erziehung und deren Befindlichkeit hat maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Nachkommen. Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff liefert in seinem neuen Buch eine erschreckende Diagnose: Danach seien 70 bis 80 Prozent der Grundschüler verhaltensauffällig und befänden sich in der Entwicklungsphase von Kleinkindern.
"Die Situation ist dramatisch", sagt Michael Winterhoff im Deutschlandfunk Kultur. Bei vielen von ihm behandelten Kindern und Jugendlichen fehlten bestimmte "psychische Anteile"
"Die Situation ist dramatisch", sagt Michael Winterhoff im Deutschlandfunk Kultur. Bei vielen von ihm behandelten Kindern und Jugendlichen fehlten bestimmte "psychische Anteile"
"Das Thema ist gar nicht Erziehung, sondern wie entwickelt sich unsere Psyche. Und bis Mitte '95 hat sich die Psyche der Kinder wie von alleine gebildet, sie waren mit drei Jahren kindergartenreif, haben erkannt: Ich bin in einem Kindergarten, da ist eine Erzieherin, an der kann ich mich orientieren. (Sie waren) mit sechs Jahren schulreif, die wollten in die Schule gehen, waren lernwillig, wissbegierig, konnten vier Stunden auf dem Stuhl sitzen bleiben."
Der Erwachsene von heute ist "gehetzt, genervt, gereizt"
Im Eltern-Kind-Verhältnis habe es in zwei Jahrzehnten durch die Schnelllebigkeit der digitalen Welt drastische Veränderungen gegeben, so die Analyse von Winterhoff. Und so stellt er auch den Eltern ein erschreckendes Zeugnis aus:
"Also insgesamt hat sich der Erwachsene verändert und in den letzten Jahren dramatisch, das hat sich noch mal verstärkt durch die Smartphones. Gehen Sie mal in die Stadt, schauen Sie in die Gesichter – gehetzt, genervt, gereizt, depressiv –, und wenn Sie mal einen haben, der strahlt und entspannt ist, denken Sie schon –übertrieben - er hat Drogen genommen."
"Also insgesamt hat sich der Erwachsene verändert und in den letzten Jahren dramatisch, das hat sich noch mal verstärkt durch die Smartphones. Gehen Sie mal in die Stadt, schauen Sie in die Gesichter – gehetzt, genervt, gereizt, depressiv –, und wenn Sie mal einen haben, der strahlt und entspannt ist, denken Sie schon –übertrieben - er hat Drogen genommen."
Kinder leiden unter "nicht-geerdeten" Erwachsenen
Er sei allerdings kein Feind der digitalen Welt, betont Winterhoff, "das wäre ja auch völliger Blödsinn". Er plädiert vielmehr dafür, diese digitale Welt im Sinne eines Zeitgewinns für Eltern und Kinder zu nutzen. Damit könne man ruhiger, gelassener und abgegrenzter werden, zum Beispiel auch bei einem handyfreien Waldspaziergang:
"Und wir können dann über unsere Intuition verfügen. Es ist angelegt, mit Kindern umzugehen, dazu braucht man keine Bücher. Und durch diese Veränderung, dass der Erwachsene sich keine Zeit mehr für sich nimmt, in der er sich erdet, kommt er in diesen Ausnahmezustand. Und die Leidtragenden sind selbstverständlich die Kinder." (ue)
Das Interview im Wortlaut:
Katrin Heise: "Die Wiederentdeckung der Kindheit: Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen", so lautet der Titel des gerade veröffentlichten Buches von Michael Winterhoff. Er ist Kinderpsychiater und hat schon in mehreren Büchern Erfahrungen aus seiner Praxis verarbeitet. Seine aktuelle Analyse: 70 bis 80 Prozent der Grundschüler sind verhaltensauffällig, sie stecken in der Entwicklungsphase von Kleinkindern fest und sind somit eben nicht lebenstüchtig. Das zu registrieren, macht mir Angst, ehrlich gesagt. Ich grüße Sie, Michael Winterhoff, schönen guten Tag!
Michael Winterhoff: Ja, guten Morgen, Frau Heise!
Heise: Das klingt wirklich dramatisch. Was beobachten Sie?
Winterhoff: Ja, die Situation ist auch dramatisch. Die sehen Sie noch deutlicher beim Übergang Schule/Beruf. Das heißt, wenn Sie heute Auszubildende oder Praktikanten sich anschauen, dann hat ein sehr hoher Prozentsatz wichtige Dinge gar nicht mehr drauf – wie Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit, Erkennen von Strukturen und Abläufen.
Das Handy ist ihnen wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht. Und über all das, was sie mal gelernt haben, können sie nicht angemessen verfügen. Also muss etwas schieflaufen, ansonsten würden wir nicht in eine solche Schieflage geraten.
Den Kindern von heute fehlen "psychische Anteile"
Heise: Damit wir jetzt nicht alle miteinander den Kopf in den Sand stecken und die Welt für verloren erklären: Was können denn heute 10- bis 15-Jährige mal besonders gut? Worin sind die Ihnen und mir, als wir so alt waren wie die, vielleicht sogar überlegen?
Winterhoff: Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich mit der Seite nicht befasst bin. Ich bin Kinderpsychiater. Es geht gar nicht darum, dass das schlechte Jugendliche wären, die zu mir kommen. Die sind alle erzogen, die sind freundlich, zuvorkommend, aber es fehlen ihnen psychische Anteile.
Das heißt, das Thema ist gar nicht Erziehung, sondern wie entwickelt sich unsere Psyche. Und bis Mitte '95 hat sich die Psyche der Kinder wie von alleine gebildet, sie waren mit drei Jahren kindergartenreif, haben erkannt: Ich bin in einem Kindergarten, da ist eine Erzieherin, an der kann ich mich orientieren, mit sechs Jahren schulreif, die wollten in die Schule gehen, waren lernwillig, wissbegierig, konnten vier Stunden auf dem Stuhl sitzen bleiben …
Der digitale "Ausnahmezustand" der Eltern überträgt sich
Heise: Ich weiß nicht, ob das die Lehrer von damals wirklich so … Also ich erinnere mich an meine Klasse, da war das nicht unbedingt der Fall, aber im Großen und Ganzen ist das so Ihre Analyse. Sie machen dafür ja einerseits die Digitalisierung unserer Welt, andererseits aber vor allem die Wandlung des Elternseins, sage ich mal, verantwortlich. Beginnen wir auch mal damit, mit den Eltern: Wie haben die sich denn verändert?
Winterhoff: Also insgesamt hat sich der Erwachsene verändert und in den letzten Jahren dramatisch, das hat sich noch mal verstärkt durch die Smartphones. Gehen Sie mal in die Stadt, schauen Sie in die Gesichter – gehetzt, genervt, gereizt, depressiv –, und wenn Sie mal einen haben, der strahlt und entspannt ist, denken Sie schon übertrieben, er hat Drogen genommen.
Das heißt, der Erwachsene kommt immer mehr in einen Ausnahmezustand rein, dass er gehetzt ist. Er wird morgens wach, schon rattert der Kopf, muss daran denken, man ist in der einen Situation, gedanklich in der nächsten. Das liegt an der Überfrachtung der Problematik in der digitalen Welt. Wir empfangen viel zu viel Meldungen, wir müssen viel zu viele Entscheidungen treffen. Und wir machen da einen entscheidenden Fehler.
Das ist auch der Versuch hier jetzt gegenüberzustellen 1990, vor der digitalen Zeit, 2017 gegenüber. Das heißt, der technische Fortschritt und die gesellschaftlichen Veränderungen haben dazu geführt, dass wir immer mehr Zeit für uns hatten. Und je mehr Zeit wir für uns haben, desto ruhiger sind wir, desto gelassener, desto abgegrenzter.
Und wir können dann über unsere Intuition verfügen. Es ist angelegt, mit Kindern umzugehen, dazu braucht man keine Bücher. Und durch diese Veränderung, dass der Erwachsene sich keine Zeit mehr für sich nimmt, in der er sich erdet, kommt er in diesen Ausnahmezustand, und die Leidtragenden sind selbstverständlich die Kinder.
Und wir können dann über unsere Intuition verfügen. Es ist angelegt, mit Kindern umzugehen, dazu braucht man keine Bücher. Und durch diese Veränderung, dass der Erwachsene sich keine Zeit mehr für sich nimmt, in der er sich erdet, kommt er in diesen Ausnahmezustand, und die Leidtragenden sind selbstverständlich die Kinder.
Wie man sich in der digitalen Zeit besser abgrenzen kann
Heise: Nun gut, das unterstellt bei jedem Ihrer Sätze, dass die digitale Veränderung eigentlich eine negative ist und uns von uns entfernt. Da würde Ihnen sicherlich auch eine ganze Kohorte von Menschen widersprechen.
Ich möchte auf eine Sache kommen, die Sie ganz oben in auch nicht nur diesem Buch, sondern auch in verschiedenen Büchern schon analysiert haben: Sie stellen fest, dass die Erwachsenen im Zuge ihrer ganzen Entwicklung wahrscheinlich – und Sie haben eben auch von Intuition gesprochen, die man eigentlich hat, die man aber zunehmend verliert –, dass die ihre Beziehung zu den Kindern verändern, dass Eltern zunehmend eine symbiotische Beziehung zu ihren Kindern entwickeln.
Winterhoff: Also erst mal, um das noch mal klarzustellen: Ich habe nichts gegen eine digitale Welt, das wäre ja auch völliger Blödsinn. Und ich hoffe, dass wir so weit kommen, dass wir die digitale Welt nutzen, dass wir wieder viel Zeit für uns haben, dann wäre das Ganze gar kein Problem. Das heißt, ich habe ja auch ganz klar Lösungen zu diesem Problem, wie man in der digitalen Zeit genauso in sich ruhen und abgegrenzt sein kann und über die Intuition verfügt.
Wenn man diesen Mechanismus aber nicht kennt, ist man in Gefahr, in Defizite zu geraten Und Kinder sind immer das schwächste Glied einer Gesellschaft und bieten sich dann unbewusst an zur Kompensation. Das heißt, 80 Prozent von dem, was wir tun, ist unbewusst, und keiner möchte das, aber es kommt dadurch zu Verschiebungen, sodass Kinder von vielen Erwachsenen gar nicht mehr als Kinder gesehen werden und Eltern in der Gefahr sind, in eine Symbiose zu rutschen. Das bedeutet, das Kind ist ein Teil ihrer selbst, sie fühlen dann fürs Kind, denken fürs Kind, gehen fürs Kind in die Schule.
Ratschlag für Eltern: Ein Waldspaziergang ohne Handy
Heise: Und das sind dann die sogenannten Helikoptereltern.
Winterhoff: Na ja, ich störe mich sehr an diesem Begriff, weil diese Eltern ja nicht bewusst in diese Position gehen, es gibt auch noch andere Begriffe. Es geht hier nicht um eine Diffamierung, es geht um eine Aufklärung, weil jeder von uns in der Lage wäre, innerhalb kurzer Zeit diesen Zustand zu verändern. Und dann könnte man auch dem Kind gegenüber wieder das klare Gegenüber sein, das Kinder brauchen. Kinder suchen Halt, Kinder suchen Orientierung, und das geht nur, wenn man abgegrenzt ist.
Heise: Und da, ehrlich gesagt, war ich doch sehr erstaunt. Denn Sie haben tatsächlich einen ganz handfesten Ratschlag für Eltern, die quasi ihre Intuition als Eltern verloren haben und eben diese Abgrenzung zum Kind nicht mehr hinkriegen. Ihr Ratschlag lautet: ein Waldspaziergang, mal ganz allein und ohne Handy.
Die Vermeidung des "Tunnelblicks" erzeugt Glücksfühle
Winterhoff: Ja, es geht auch um den Punkt, wenn ich etwas mache - wenn ich mit mir mich konfrontiere, aber nichts mache, so rum, nicht abgelenkt bin -, dann komme ich zu mir. Das heißt, der Waldspaziergang ist eine Möglichkeit, Yoga, Meditation wäre eine andere, oder sich in eine Kirche zu setzen.
Wenn man den Waldspaziergang macht, dann wäre es wichtig, dass man alleine ist, kein Handy angeschaltet hat, dass man nicht joggt, nicht Fahrrad fährt, sondern einfach vor sich hin geht. Und Sie werden erleben, wenn Sie sich auf einen längeren Waldspaziergang einlassen, dass Sie nach zwei, drei Stunden in einer veränderten Verfassung sind.
Das heißt, zwei, drei Stunden sind Sie gedanklich hochgedreht, sehr unter Strom, sehr unter Druck, und von jetzt auf gleich ist dieser Zustand behoben, Sie ruhen wieder in sich, Sie sind entspannt, merken erst mal, wie angespannt Sie waren. Sie sind nicht mehr im Tunnelblick, nehmen den Wald insgesamt wahr und haben Glücksgefühle.
Dann sind Sie so, wie wir 1990 waren. Wenn man regelmäßig das wiederholt – ich gehe alle zwei Wochen ein, zwei Stunden durch den Wald –, dann bleibt man in sich ruhend. Würde ich vier Wochen nicht gehen, fängt schon die innere Unruhe an, nach acht Wochen wäre ich in diesem Zustand des Katastrophenalarms, im Hamsterrad.
Heise: Michael Winterhoff, Kinderpsychiater, empfiehlt die digitale Entziehungskur, so würde ich es doch mal nennen. Danke schön, Herr Winterhoff!
Winterhoff: Vielen Dank fürs Interview!
Heise: "Die Wiederentdeckung der Kindheit: Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen" ist dieser Tage im Gütersloher Verlagshaus erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.