Kinderpsychologe: Schluss mit massenhafter Ritalin-Behandlung
Bei vielen Kindern wird zu Unrecht ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert, sagt der Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie Hannover, Wolfgang Bergmann. Häufig seien die betroffenen Kinder nicht krank, sondern durch eine zu frühe Einschulung schlicht überfordert.
Dieter Kassel: Sieben bis zehn Prozent der Eltern in Deutschland glauben, dass ihr Kind unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung leidet. Und wenn diese Eltern dann zum Arzt gehen, dann wird diese Störung, bekannt unter der Abkürzung ADHS, häufig auch schnell diagnostiziert. Es folgt dann eine Behandlung – eine Behandlung, bei der ebenfalls recht häufig das Medikament Ritalin eine Rolle spielt.
Das ist die Situation in Deutschland, in den USA ist es ähnlich, allerdings werden dort ADHS-Störungen noch häufiger diagnostiziert und auch die Behandlung mit Medikamenten ist häufiger. Aus den USA kommt jetzt allerdings eine neue Studie, eine Studie der Michigan State University, die den Verdacht nahelegt, dass bis zur Hälfte der ADHS-Diagnosen falsch sind.
Über diese Studie, wie sie durchgeführt wurde, und warum sie auch für Deutschland Bedeutung haben könnte, wollen wir jetzt mit dem Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie Hannover sprechen, mit Wolfgang Bergmann. Schönen guten Morgen, Herr Bergmann!
Wolfgang Bergmann: Guten Morgen!
Kassel: Nun gibt es natürlich eine ganze Reihe von mehr oder weniger seriösen Studien zum Thema ADHS, warum ist diese Studie für sie ernst zu nehmen?
Bergmann: Ja, Sie haben recht, es gibt eine Fülle von Studien, und die meisten sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Jetzt ganz neu gibt es auch aus England eine Studie, die noch mal einen etwas alten Hut herauskramt, nämlich ADHS ist – und zwar ausschließlich – eine genetische Störung.
Bei solchen Studien fällt aber sofort auf, welche methodischen Fehler da zugrunde liegen. Und ganz allgemein gesagt, kann man mit Testverfahren und mit empirischen Verfahren die kindliche Seele überhaupt nicht erfassen. Dies hier ist nun eine Bestätigung von Sachverhalten, die in der Therapie immer wieder schon gesagt, immer wieder als Verdacht gegenüber der Diagnose oder als Vorschlag zu einer besseren Behandlung gesagt wurde, und diese Studie hat eben eine Pointe: Sie sagt, dass ein Fünftel aller Kinder in den letzten vier Jahren allein durch die Tatsache, dass sie zu früh in die Schule gekommen sind, mit ADS diagnostiziert wurden.
Ob nun ein Fünftel die ganz korrekte Zahl ist oder nicht, das ist mir auch ziemlich egal, es legt den Finger in die Wunde, und die Wunde heißt: ADS ist nie ausreichend definiert worden – sowohl analytisch, also was hat das mit der Entwicklung des Kindes zu tun, wie auch körperlich – nie ausreichend definiert worden. Und insofern können sich unter der ADS-Diagnose alle möglichen anderen seelischen Defizite verbergen. Das, wie gesagt, ist von Experten immer wieder gesagt worden, jetzt endlich scheint es sich durchzusetzen.
Kassel: Was haben die denn in Michigan genau gemacht, also haben die dann wirklich Tausende von Fällen angeguckt, in denen zunächst mal ADHS oder ADS diagnostiziert worden ist?
Bergmann: Sie haben eine relevante Teilzahl angeschaut und von da aus dann hochgeschlossen, das ist klar, man kann ja keine zehn Millionen Diagnosen überprüfen. Also das ist jetzt ein empirisch korrektes Verfahren gewesen, davon gehe ich einfach aus. Die Staatsuniversität von Michigan hat in dieser Beziehung einen ausgesprochen guten Ruf, und auch das "Health Economics"-Magazin, in dem diese Studien zum ersten Mal veröffentlicht worden sind, diese Ergebnisse zum ersten Mal veröffentlicht.
Mich aber interessiert eigentlich gar nicht die Korrektheit der Studie im Detail, mich interessiert, dass es hier einen Anstoß gegeben hat in eine endlich richtige Behandlung von Kindern, und das heißt immer auch gleichzeitig, dass der massenhaften Behandlung von Ritalin ein Riegel vorgeschoben wird.
Der große Bundesausschuss der Deutschen Ärztekammer hat dies jetzt als neue Richtlinien an seine Mitglieder verfasst, noch im September ist dies passiert – so schnell haben die, glaube ich, noch nie auf irgendetwas reagiert. Wir wussten es die ganze Zeit, diese Studie belegt es noch mal sozusagen gleichsam mit einer Pointe oben drauf.
Kassel: Die Pointe, die Sie meinen, Sie haben sie ja gerade selber beschrieben, ist eben, dass ungefähr ein Fünftel der ADHS-Fälle in Wirklichkeit auf eine zu frühe Einschulung zurückzuführen war. Das heißt, wenn ich das mal sehr laienhaft formulieren darf, diese Kinder, dieses Fünftel, die waren schlicht und ergreifend ein bisschen überfordert?
Bergmann: Die waren schlicht und ergreifend überfordert. Sie sind in eine Umgebung versetzt worden, in der sie bis zu einer Dreiviertelstunde stillsitzen können, das kann übrigens auch kein sechsjähriges Kind. Wir muten unseren Kindern dasselbe zu. Ich habe in meiner Praxis reihenweise sogenannten ADS-Diagnosen, die dann vorher verfasst wurden, und wenn man dann genau hinschaut, dann ist eine Auffälligkeit: Dieses Kind wurde erst auffällig mit Schuleintritt. Damit haben wir schon mal einen ganz wesentlichen Punkt.
Und zur Diagnostik gehört, zu den Richtlinien der Diagnostik, dass es bereits vor dem Schuleintritt eingetreten sein muss. ADS ist eigentlich eine seelische Erkrankung, die sich in den ersten drei Jahren herausbildet. Aber wenn ich das so sage, stimmt das auch nicht ganz, denn ADS ist überhaupt keine Diagnose, wir wissen gar nicht, was sich unter diesen Buchstaben wirklich verbirgt, wir kennen nur statistische Ergebnisse.
Kassel: Was heißt denn das nun wirklich, um nach Deutschland zu kommen – Sie fordern ja logischerweise Konsequenzen hier, die USA gehen uns sozusagen weiter nichts an, auch wenn Konsequenzen da auch nicht schlecht wären –, was bedeutet denn das für die Diagnose in Deutschland? Denn ich meine, es sind ja nicht die Lehrer und die Eltern, die haben einen Verdacht, es sind ja eigentlich schon ausgebildete Fachleute, die am Ende diese Diagnose stellen.
Bergmann: Na ja, das Problem liegt in der Ungenauigkeit der Diagnose selber. Also ADS, das heißt nichts anderes als dass …
Kassel: Bei Ihnen klingelt das Telefon, Herr Bergmann!
Bergmann: Bei mir klingelt das Telefon, ja, ja, das …
Kassel: Ein begehrter Mann, wollen Sie es kurz …
Bergmann: Das kriege ich jetzt auch gar nicht so schnell raus, ich rede einfach weiter.
Kassel: Reden Sie weiter, wir hoffen, der Mann hat nicht viel Geduld, der Sie anruft.
Bergmann: Das hat jetzt immerhin die weitreichenden Folgen – ich habe es eben schon angedeutet –, dass der große Bundesausschuss, die Versammlung also der Ärztekammern, im Prinzip die Vergabe von Ritalin und auch im Prinzip die Behandlung von hyperaktiven Kindern ganz neue Richtlinien vorschlägt, und zwar genau in die Richtung, in der frühere sogenannte Außenseiter sich bewegt haben.
Da gibt es eine ganze Reihe auch sehr renommierter Namen, die seit zehn, 15 Jahren fordern, wir müssen jetzt endlich mal wissen, was ADS ist – ist das ein Geburtsfehler, ist das im Mutterleib entstanden, ist das vielleicht genetisch, was für sehr unwahrscheinlich ist, oder wird das in der Lebensgeschichte erworben. Dies alles wissen wir bisher nicht. Wir haben nur diese Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizitstörung, Aufmerksamkeitsdefizit, und selbst die stimmt nicht.
Setzen Sie ein sogenanntes ADS-Kind vor einen Computer oder irgendeine andere Tätigkeit, zu der es Spaß und Faszination hat, dann haben Sie große Mühe, dieses Kind da wieder wegzubekommen. Es ist eher so, dass solche Kinder sich überfokussieren, also zu sehr konzentrieren. Nicht einmal die Bezeichnung stimmt, und was sich diagnostisch unter der Bezeichnung eigentlich gemeint ist, das wissen wir überhaupt nicht.
Kassel: Gibt es nicht auch noch den in dem Fall für mich als Laien etwas verwaschenen Unterschied zwischen Symptom und wirklich Krankheit? Also wenn jemand – also um noch mal die Begriffe, weil wir beide manchmal, das H benutzen wir nicht, ADS ist nur das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder -störung, wenn das H dazukommt, ist es die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Aber wenn ein Kind zum einen enorme Konzentrationsprobleme hat und zum anderen vielleicht auch noch hyperaktiv ist, das ist doch eigentlich erst mal ein Symptom?
Bergmann: Ja, das sind zunächst mal reine Symptombeschreibungen. Nun gibt es eben auch lauter Verlegenheit – wissen Sie, wenn Sie versuchen, Symptome diagnostisch in eine Bezeichnung zu fassen, dann stürzen Sie von einer Verlegenheit in die andere, weil immer irgendwas nicht passt –, deswegen gibt es das ADS mit und ohne Hyperaktivität. ADS-Kinder ohne dieses H, das sind eher die unaufmerksamen, aber still in sich zurückgezogenen. Unsereins spricht dann eher von einem unspezifischen Autismus.
Da sieht man, wie diese Diagnose in alle Bereiche hineinragt – in die Biografie eines Kindes, in somatische Zwischenfälle während der Geburt oder vorher schon. ADS war nie eine Diagnose in diesem präzisen Sinn, dass man von da aus rückschließen konnte auf die richtige Behandlung dieser Kinder. Das Einzige war eine rein statistische Diagnose, 18 Kriterienpunkte gibt es, sind elf davon über eine längere Zeit erfüllt, dann ist eigentlich schon dieser ADS-Verdacht für die alte Diagnostik gerechtfertigt. Dass das so nicht geht, kann sich jeder an fünf Fingern abzählen, und es sieht jetzt so aus, als würde mit diesen neuen Richtlinien der Ärztekammern dann auch tatsächlich dem ein Riegel vorgeschoben.
Kassel: Herr Bergmann, ich bin mir ganz sicher, dass wir Post bekommen werden nach diesem Gespräch, das habe ich immer erlebt, wenn ADS und ADHS ein Thema waren, und es wird Eltern geben, die schreiben, seit ihr Kind Ritalin bekommt, sind sowohl das Kind als auch die Eltern glücklich, beide können jetzt ein normales Leben führen, privat wie in der Schule, das war vorher nicht möglich. Und diese Eltern fühlen sich immer in eine Ecke gedrängt: Rabeneltern, lassen nicht genug Zeit, weil sie auf solche Methoden oder Medikamente zurückgreifen. Was sagen Sie denen?
Bergmann: Zwei Dinge sage ich: Zunächst einmal, wir dürfen uns überhaupt keinen Dogmatismus erlauben in diesem noch schwer absehbaren Feld, das heißt, ich bin kein prinzipieller Ritalin-Gegner. Ich gehe davon aus, dass allenfalls zehn Prozent der mit Ritalin verordneten Kinder zu Recht diese Verordnung bekamen. Also das ist Punkt eins. Punkt zwei ist: Bei etwa 60 Prozent, 60 bis 70 Prozent wirkt Ritalin tatsächlich zunächst einmal hervorragend, also die Kinder können stillsitzen, sogar der Schreibstil ändert sich, also die Fähigkeit, ordentlich zu schreiben.
Aber man muss gleich dazusagen, und das sind auch wieder die neuen Richtlinien – ich freue mich wirklich über die Bundesärztekammer, die sagt: Wir dürfen maximal ein Jahr dieses Ritalin verordnen und müssen uns im Verlauf des Jahres noch einmal vergewissern, dass wir bisher schon Fortschritte gemacht haben, nie Ritalin ohne therapeutische Begleitung. Das Teuflische an Ritalin sind die Langzeitfolgen, die können hingehen bis ins Längenwachstum, das sehen Sie dann nicht.
Dann ist das Kind in der Schule angepasst, aber zwei, vier, fünf Jahre später trägt es erhebliche Mängel davon. Und ein ganz wichtiger Punkt ist: Wenn Sie in eine therapeutische Betreuung gehen, dann haben Sie eine sehr gute Chance, zumindest wenn Sie es rechtzeitig machen, dass man das Kind herausführt – eine Belastung für die Familie, ich gebe das gern zu, eine große Belastung –, aber das einzig Mögliche für das Kind. Jetzt haben wir die Möglichkeit, das Kind herauszuführen.
Ritalin hat die Eigenart, die Problematik, die das Kind eh hat und die ja mit dem Medikament nicht verschwindet, dass diese Problematik sich chronifiziert, dass sie chronisch wird. Und wenn dann die großen Entwicklungsschübe mit zehn, elf, zwölf Jahren kommen könnten unter therapeutischer Anleitung, dann laufen sie hier ins Leere.
Kassel: Sagt Wolfgang Bergmann, der Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. Herr Bergmann, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Bergmann: Gern!
Das ist die Situation in Deutschland, in den USA ist es ähnlich, allerdings werden dort ADHS-Störungen noch häufiger diagnostiziert und auch die Behandlung mit Medikamenten ist häufiger. Aus den USA kommt jetzt allerdings eine neue Studie, eine Studie der Michigan State University, die den Verdacht nahelegt, dass bis zur Hälfte der ADHS-Diagnosen falsch sind.
Über diese Studie, wie sie durchgeführt wurde, und warum sie auch für Deutschland Bedeutung haben könnte, wollen wir jetzt mit dem Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie Hannover sprechen, mit Wolfgang Bergmann. Schönen guten Morgen, Herr Bergmann!
Wolfgang Bergmann: Guten Morgen!
Kassel: Nun gibt es natürlich eine ganze Reihe von mehr oder weniger seriösen Studien zum Thema ADHS, warum ist diese Studie für sie ernst zu nehmen?
Bergmann: Ja, Sie haben recht, es gibt eine Fülle von Studien, und die meisten sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Jetzt ganz neu gibt es auch aus England eine Studie, die noch mal einen etwas alten Hut herauskramt, nämlich ADHS ist – und zwar ausschließlich – eine genetische Störung.
Bei solchen Studien fällt aber sofort auf, welche methodischen Fehler da zugrunde liegen. Und ganz allgemein gesagt, kann man mit Testverfahren und mit empirischen Verfahren die kindliche Seele überhaupt nicht erfassen. Dies hier ist nun eine Bestätigung von Sachverhalten, die in der Therapie immer wieder schon gesagt, immer wieder als Verdacht gegenüber der Diagnose oder als Vorschlag zu einer besseren Behandlung gesagt wurde, und diese Studie hat eben eine Pointe: Sie sagt, dass ein Fünftel aller Kinder in den letzten vier Jahren allein durch die Tatsache, dass sie zu früh in die Schule gekommen sind, mit ADS diagnostiziert wurden.
Ob nun ein Fünftel die ganz korrekte Zahl ist oder nicht, das ist mir auch ziemlich egal, es legt den Finger in die Wunde, und die Wunde heißt: ADS ist nie ausreichend definiert worden – sowohl analytisch, also was hat das mit der Entwicklung des Kindes zu tun, wie auch körperlich – nie ausreichend definiert worden. Und insofern können sich unter der ADS-Diagnose alle möglichen anderen seelischen Defizite verbergen. Das, wie gesagt, ist von Experten immer wieder gesagt worden, jetzt endlich scheint es sich durchzusetzen.
Kassel: Was haben die denn in Michigan genau gemacht, also haben die dann wirklich Tausende von Fällen angeguckt, in denen zunächst mal ADHS oder ADS diagnostiziert worden ist?
Bergmann: Sie haben eine relevante Teilzahl angeschaut und von da aus dann hochgeschlossen, das ist klar, man kann ja keine zehn Millionen Diagnosen überprüfen. Also das ist jetzt ein empirisch korrektes Verfahren gewesen, davon gehe ich einfach aus. Die Staatsuniversität von Michigan hat in dieser Beziehung einen ausgesprochen guten Ruf, und auch das "Health Economics"-Magazin, in dem diese Studien zum ersten Mal veröffentlicht worden sind, diese Ergebnisse zum ersten Mal veröffentlicht.
Mich aber interessiert eigentlich gar nicht die Korrektheit der Studie im Detail, mich interessiert, dass es hier einen Anstoß gegeben hat in eine endlich richtige Behandlung von Kindern, und das heißt immer auch gleichzeitig, dass der massenhaften Behandlung von Ritalin ein Riegel vorgeschoben wird.
Der große Bundesausschuss der Deutschen Ärztekammer hat dies jetzt als neue Richtlinien an seine Mitglieder verfasst, noch im September ist dies passiert – so schnell haben die, glaube ich, noch nie auf irgendetwas reagiert. Wir wussten es die ganze Zeit, diese Studie belegt es noch mal sozusagen gleichsam mit einer Pointe oben drauf.
Kassel: Die Pointe, die Sie meinen, Sie haben sie ja gerade selber beschrieben, ist eben, dass ungefähr ein Fünftel der ADHS-Fälle in Wirklichkeit auf eine zu frühe Einschulung zurückzuführen war. Das heißt, wenn ich das mal sehr laienhaft formulieren darf, diese Kinder, dieses Fünftel, die waren schlicht und ergreifend ein bisschen überfordert?
Bergmann: Die waren schlicht und ergreifend überfordert. Sie sind in eine Umgebung versetzt worden, in der sie bis zu einer Dreiviertelstunde stillsitzen können, das kann übrigens auch kein sechsjähriges Kind. Wir muten unseren Kindern dasselbe zu. Ich habe in meiner Praxis reihenweise sogenannten ADS-Diagnosen, die dann vorher verfasst wurden, und wenn man dann genau hinschaut, dann ist eine Auffälligkeit: Dieses Kind wurde erst auffällig mit Schuleintritt. Damit haben wir schon mal einen ganz wesentlichen Punkt.
Und zur Diagnostik gehört, zu den Richtlinien der Diagnostik, dass es bereits vor dem Schuleintritt eingetreten sein muss. ADS ist eigentlich eine seelische Erkrankung, die sich in den ersten drei Jahren herausbildet. Aber wenn ich das so sage, stimmt das auch nicht ganz, denn ADS ist überhaupt keine Diagnose, wir wissen gar nicht, was sich unter diesen Buchstaben wirklich verbirgt, wir kennen nur statistische Ergebnisse.
Kassel: Was heißt denn das nun wirklich, um nach Deutschland zu kommen – Sie fordern ja logischerweise Konsequenzen hier, die USA gehen uns sozusagen weiter nichts an, auch wenn Konsequenzen da auch nicht schlecht wären –, was bedeutet denn das für die Diagnose in Deutschland? Denn ich meine, es sind ja nicht die Lehrer und die Eltern, die haben einen Verdacht, es sind ja eigentlich schon ausgebildete Fachleute, die am Ende diese Diagnose stellen.
Bergmann: Na ja, das Problem liegt in der Ungenauigkeit der Diagnose selber. Also ADS, das heißt nichts anderes als dass …
Kassel: Bei Ihnen klingelt das Telefon, Herr Bergmann!
Bergmann: Bei mir klingelt das Telefon, ja, ja, das …
Kassel: Ein begehrter Mann, wollen Sie es kurz …
Bergmann: Das kriege ich jetzt auch gar nicht so schnell raus, ich rede einfach weiter.
Kassel: Reden Sie weiter, wir hoffen, der Mann hat nicht viel Geduld, der Sie anruft.
Bergmann: Das hat jetzt immerhin die weitreichenden Folgen – ich habe es eben schon angedeutet –, dass der große Bundesausschuss, die Versammlung also der Ärztekammern, im Prinzip die Vergabe von Ritalin und auch im Prinzip die Behandlung von hyperaktiven Kindern ganz neue Richtlinien vorschlägt, und zwar genau in die Richtung, in der frühere sogenannte Außenseiter sich bewegt haben.
Da gibt es eine ganze Reihe auch sehr renommierter Namen, die seit zehn, 15 Jahren fordern, wir müssen jetzt endlich mal wissen, was ADS ist – ist das ein Geburtsfehler, ist das im Mutterleib entstanden, ist das vielleicht genetisch, was für sehr unwahrscheinlich ist, oder wird das in der Lebensgeschichte erworben. Dies alles wissen wir bisher nicht. Wir haben nur diese Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizitstörung, Aufmerksamkeitsdefizit, und selbst die stimmt nicht.
Setzen Sie ein sogenanntes ADS-Kind vor einen Computer oder irgendeine andere Tätigkeit, zu der es Spaß und Faszination hat, dann haben Sie große Mühe, dieses Kind da wieder wegzubekommen. Es ist eher so, dass solche Kinder sich überfokussieren, also zu sehr konzentrieren. Nicht einmal die Bezeichnung stimmt, und was sich diagnostisch unter der Bezeichnung eigentlich gemeint ist, das wissen wir überhaupt nicht.
Kassel: Gibt es nicht auch noch den in dem Fall für mich als Laien etwas verwaschenen Unterschied zwischen Symptom und wirklich Krankheit? Also wenn jemand – also um noch mal die Begriffe, weil wir beide manchmal, das H benutzen wir nicht, ADS ist nur das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder -störung, wenn das H dazukommt, ist es die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Aber wenn ein Kind zum einen enorme Konzentrationsprobleme hat und zum anderen vielleicht auch noch hyperaktiv ist, das ist doch eigentlich erst mal ein Symptom?
Bergmann: Ja, das sind zunächst mal reine Symptombeschreibungen. Nun gibt es eben auch lauter Verlegenheit – wissen Sie, wenn Sie versuchen, Symptome diagnostisch in eine Bezeichnung zu fassen, dann stürzen Sie von einer Verlegenheit in die andere, weil immer irgendwas nicht passt –, deswegen gibt es das ADS mit und ohne Hyperaktivität. ADS-Kinder ohne dieses H, das sind eher die unaufmerksamen, aber still in sich zurückgezogenen. Unsereins spricht dann eher von einem unspezifischen Autismus.
Da sieht man, wie diese Diagnose in alle Bereiche hineinragt – in die Biografie eines Kindes, in somatische Zwischenfälle während der Geburt oder vorher schon. ADS war nie eine Diagnose in diesem präzisen Sinn, dass man von da aus rückschließen konnte auf die richtige Behandlung dieser Kinder. Das Einzige war eine rein statistische Diagnose, 18 Kriterienpunkte gibt es, sind elf davon über eine längere Zeit erfüllt, dann ist eigentlich schon dieser ADS-Verdacht für die alte Diagnostik gerechtfertigt. Dass das so nicht geht, kann sich jeder an fünf Fingern abzählen, und es sieht jetzt so aus, als würde mit diesen neuen Richtlinien der Ärztekammern dann auch tatsächlich dem ein Riegel vorgeschoben.
Kassel: Herr Bergmann, ich bin mir ganz sicher, dass wir Post bekommen werden nach diesem Gespräch, das habe ich immer erlebt, wenn ADS und ADHS ein Thema waren, und es wird Eltern geben, die schreiben, seit ihr Kind Ritalin bekommt, sind sowohl das Kind als auch die Eltern glücklich, beide können jetzt ein normales Leben führen, privat wie in der Schule, das war vorher nicht möglich. Und diese Eltern fühlen sich immer in eine Ecke gedrängt: Rabeneltern, lassen nicht genug Zeit, weil sie auf solche Methoden oder Medikamente zurückgreifen. Was sagen Sie denen?
Bergmann: Zwei Dinge sage ich: Zunächst einmal, wir dürfen uns überhaupt keinen Dogmatismus erlauben in diesem noch schwer absehbaren Feld, das heißt, ich bin kein prinzipieller Ritalin-Gegner. Ich gehe davon aus, dass allenfalls zehn Prozent der mit Ritalin verordneten Kinder zu Recht diese Verordnung bekamen. Also das ist Punkt eins. Punkt zwei ist: Bei etwa 60 Prozent, 60 bis 70 Prozent wirkt Ritalin tatsächlich zunächst einmal hervorragend, also die Kinder können stillsitzen, sogar der Schreibstil ändert sich, also die Fähigkeit, ordentlich zu schreiben.
Aber man muss gleich dazusagen, und das sind auch wieder die neuen Richtlinien – ich freue mich wirklich über die Bundesärztekammer, die sagt: Wir dürfen maximal ein Jahr dieses Ritalin verordnen und müssen uns im Verlauf des Jahres noch einmal vergewissern, dass wir bisher schon Fortschritte gemacht haben, nie Ritalin ohne therapeutische Begleitung. Das Teuflische an Ritalin sind die Langzeitfolgen, die können hingehen bis ins Längenwachstum, das sehen Sie dann nicht.
Dann ist das Kind in der Schule angepasst, aber zwei, vier, fünf Jahre später trägt es erhebliche Mängel davon. Und ein ganz wichtiger Punkt ist: Wenn Sie in eine therapeutische Betreuung gehen, dann haben Sie eine sehr gute Chance, zumindest wenn Sie es rechtzeitig machen, dass man das Kind herausführt – eine Belastung für die Familie, ich gebe das gern zu, eine große Belastung –, aber das einzig Mögliche für das Kind. Jetzt haben wir die Möglichkeit, das Kind herauszuführen.
Ritalin hat die Eigenart, die Problematik, die das Kind eh hat und die ja mit dem Medikament nicht verschwindet, dass diese Problematik sich chronifiziert, dass sie chronisch wird. Und wenn dann die großen Entwicklungsschübe mit zehn, elf, zwölf Jahren kommen könnten unter therapeutischer Anleitung, dann laufen sie hier ins Leere.
Kassel: Sagt Wolfgang Bergmann, der Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. Herr Bergmann, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Bergmann: Gern!