Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Online-Magazins Slippery Slopes.
Gebt den Kindern eine Stimme an der Urne!
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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht plant, Kinderrechte eigens ins Grundgesetz aufzunehmen. Kinderrechte tatsächlich besser zu achten, hätte revolutionäre Konsequenzen, kommentiert Arnd Pollmann.
Nehmen wir an, jemand würde behaupten, Kinder seien keine Menschen. Wer so redete, würde sich umgehend aus dem Kreis respektabler Diskursteilnehmer verabschieden. Aber bedeutet dies automatisch, dass Kinder auch die gleichen Grund- und Menschenrechte haben?
Trotz bester Absichten bestätigt die in dieser Woche angekündigte Grundrechtsreform einen unguten Verdacht: Kinder gelten hierzulande und wohl auch weiterhin gerade nicht als vollwertige Grundrechtsträger. Denn wenn dem so wäre, kämen die Konsequenzen weniger einer rechtlichen Reform als einer kleinen Revolution gleich.
Verfassungsrechtliche Größenunterschiede
Ein erstes Missverständnis betrifft die Annahme, Kinderrechte seien zusätzliche Grundrechte. Sicher, Kinder bedürfen eines besonderen Schutzes. Das gilt im Übrigen auch für andere vulnerable Gruppen; z.B. Frauen, Flüchtlinge oder Schwerbehinderte. Man darf all dies in einer Verfassung erwähnen – muss es aber nicht. Die besondere Schutzbedürftigkeit dieser Gruppen generiert nicht schon eine eigene Klasse von Grundrechten. Denn Grundrechte müssen per se für alle gelten.
Der nächste Denkfehler betrifft die Annahme, man könne einerseits Grundrechte für Kinder fordern und zugleich die rechtliche Verfügungsgewalt ihrer Eltern unangetastet lassen. So will es der vorgelegte Gesetzentwurf. Es ist aber gerade der Sinn von Grund- und Menschenrechten, das Individuum zu schützen. Egal, ob klein oder groß.
Elterliche Entscheidungswillkür
Und der Staat muss diesen Schutz notfalls auch gegen den Willen von Eltern durchsetzen. Laut statistischem Bundesamt stieg die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in 2018 um etwa 10%. Und auch in Diskussionen um die Impfpflicht oder religiöse Beschneidungsrituale müsste gelten: Wenn das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 des Grundgesetzes auch Kindern zukommt, übertrumpft deren Wohl im Gefährdungsfall die elterliche Entscheidungswillkür.
Und damit kommen wir zum dritten Denkfehler. Gemeint ist der Irrtum, dass man ein bestimmtes Grundrecht nur dann besitzen kann, wenn man es auch aktiv auszuüben vermag.
Nehmen wir ein Baby, das weder sprechen noch twittern kann: Warum sollte es ein Grundrecht auf Meinungsfreiheit oder eines auf Wahrung des Fernmeldegeheimnisses haben? Nun, schon bald wird dieses Kind plappern, bei WhatsApp unterwegs sein und Geheimnisse vor Eltern und auch dem Staat haben. Und so besitzt es jene Rechte eben schon jetzt und nicht erst dann, wenn es erwachsen ist.
Wahlrecht auch für Minderjährige
Oder nehmen wir das Wahlrecht: Bei Wahlen geht es darum, dass diejenigen, die der Herrschaft unterworfen sind, mitbestimmen dürfen, wer diese Herrschaft ausüben wird. Und da zu den Beherrschten fraglos auch Minderjährige gehören, ist es schlicht undemokratisch, dass ein kinderloses Ehepaar bei Wahlen genauso ins Gewicht fällt wie eine fünfköpfige Familie.
Die Frage, ob ein Kind am Sonntag allein ins Wahllokal findet oder die Parteiprogramme studiert hat, ist belanglos. Selbiges lässt sich auch mit Blick auf viele Erwachsene bezweifeln. Entscheidend ist, ob die Stimme wirklich jedes Menschen vor Ort zählt. Und vielleicht sollten schon Schwangere für ihr Ungeborenes mitabstimmen dürfen.
Ein verfassungsrechtlicher Reifeprozess
Natürlich werden das viele für absurd halten und davor warnen, Eltern könnten ihre Stellvertreterposition missbrauchen. Aber das tun Eltern sowieso den ganzen Tag. Und ich sagte es schon: Die Konsequenzen werden revolutionär sein. Nötig wäre eine inklusive und damit reifere Auffassung vom "Subjekt" der Grundrechte, die sich weigert, zwischen Kindern und Erwachsenen zu diskriminieren.
Es wäre schön, wenn dies in der Verfassung nicht eigens betont werden müsste. Aber vielleicht ist der in dieser Woche angekündigte Gesetzesvorstoß trotz aller Mängel notwendig. Denn das Grundrechtsverständnis vieler Erwachsener steckt noch immer in den Kinderschuhen.