Guillaume Duprat: Was sieht eigentlich der Regenwurm? Die Welt mit den Augen der Tiere sehen.
Aus dem Französischen von Susanne Schmidt-Wussow
Knesebeck Verlag, München 2014
40 Seiten, 18 Euro
Glotzen wie die Kuh
In diesem herausragend schön gestalteten Sachbuch haben Kinder ab acht Jahren Gelegenheit, das Sichtfeld von 25 Tieren zu erkunden. Mal ist die Welt verschwommen wie beim Frosch - die Schnepfe hingegen sieht sogar, was auf ihrem Rücken passiert.
Die Giraffe im Hintergrund erscheint ziemlich verwackelt. Die Kuh in der Ferne gar nur schemenhaft. Gestochen scharf sind dafür der Schmetterling und der Kolibri in unmittelbarer Nähe. Allerdings wirken sie ein wenig fahl, so vollkommen ohne jeglichen Rot-Ton. Doch genau so sieht die Maus die Welt: scharf im Nahbereich, verschwommen ab einer Entfernung von dreißig Zentimetern und farblich eingeschränkt. Anders das Eichhörnchen. Mit seinen Rotrezeptoren bildet es die Ausnahme unter den Nagetieren und sieht den Schmetterling so wie der Mensch ihn sieht. Allerdings nur dann, wenn er ihm direkt vor die Nase fliegt.
Die Welt buchstäblich mit anderen Augen zu sehen, etwa mit denen der beiden Nager, des Frosches oder des Regenwurms, das ermöglicht der französische Autor und Illustrator Guillaume Duprat. Sein herausragend schön gestaltetes und originelles Buch für Kinder ab acht Jahren porträtiert 25 Tiere - Säugetiere und Vögel, Reptilien, Amphibien und Insekten - und ihre Sicht der Welt.
Dabei bedient sich Duprat einer so einfachen wie effektvollen Methode: der gesamte Augenbereich seiner fein gemalten, meist jeweils eine Seite einnehmenden Tierporträts lässt sich aufklappen. So erscheint dort, wo beispielsweise eben noch die Kuh glotzte, das Sichtfeld des Wiederkäuers. Da der Illustrator seine Tiere zudem in dasselbe Setting versetzt, sehen alle das Gleiche, aber eben höchst unterschiedlich.
Das Pferd etwa hat wegen seiner seitlich am Kopf sitzenden Augen eine viel bessere Rundumsicht als der Affe. Dafür erkennt es, anders als dieser, seine eigene Nasenspitze nicht. Die Schnepfe wiederum mit ihrem 360 Grad umfassenden Gesichtsfeld sieht sogar, was hinter ihrem Rücken vor sich geht. Davon kann der Frosch nur träumen: Er ahnt mehr, als dass er sieht. Ein Kreis etwa stellt sich ihm als Spinne dar, schreibt Duprat.
Scharfer Adlerblick, kurzsichtige Katze
Es ist faszinierend, die einzelnen Sichtfelder zu vergleichen. Wo der Adler einen knallbunten Fesselballon am Horizont erblickt, erspäht die kurzsichtige Katze rein gar nichts. Und die Biene sieht, weil sie ultraviolett wahrnimmt, ein Gänseblümchen anders als das Chamäleon. Doch würde es tauschen wollen? Immerhin vermag das Reptil mit einem Auge den Boden und mit dem anderen den Himmel zu betrachten!
Warum ist das so? Das erklärt der Autor in der Einleitung und in kurzen Texten auf den Rückseiten seiner Aufklapp-Elemente. Dort beschreibt er etwa Augenaufbau und Linsenform, Dichromaten und Trichromaten, Hell-Dunkel-Rezeptoren, Gesichtsfeld oder Bewegungswahrnehmung. So wird unmissverständlich deutlich, dass alle Bilder im Kopf entstehen, und das Gehirn die Welt macht.
Tatsächlich beruhen diese tierischen Sichtweisen auf neuesten Forschungsergebnissen und daraus resultierenden Annahmen – vom Illustrator wunderbar und anschaulich ins Bild gesetzt. Was genau aber die Maus oder der Kolibri sehen oder gar das Chamäleon, bleibt weiterhin ein Geheimnis. Doch eines, dem sich Guillaume Duprat aufs Schönste annähert.