Kinderschutz ja, aber Hände weg vom Grundgesetz!

Kinder sollen in Deutschland besser geschützt werden, vor sozialer Verwahrlosung und – wenn nötig – vor überforderten und gewalttätigen Eltern. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Es sind die Umstände, wie eine solche veränderte Politik entsteht und auf den Weg gebracht werden soll, die Anlass zu Misstrauen gibt.
Erinnern wir uns: Bislang focht besonders die konservative Seite des politischen Spektrums für den grundgesetzlich verbrieften Schutz der Familie, was in der Praxis hieß: Der Staat hat sich aus diesem privaten Raum herauszuhalten und nur in sehr eng definierten Fällen die Ermächtigung zum Eingreifen. Man kann und sollte das ändern, wenn sich die Verhältnisse geändert haben, sprich – wenn sich die Situation der Kinder in ihren Familien verschlechtert hat.

Aber haben sich die Verhältnisse in Deutschland so sehr geändert? Nach der Wucht von Bildern und Debatten zu urteilen, könnte das so sein. Aber trifft es wirklich zu, dass es in Deutschland sozusagen eine gute alte Zeit gab, in der es Kindern besser ging? Weniger Kapitalverbrechen, weniger Gewalt, weniger Verwahrlosung? Die Kriminologen bestreiten dies. Die Zahl der Kinder, die Jahr für Jahr durch elterliche Gewalt zu Tode kommen, ist in etwa konstant. Jeder Fall ist grauenhaft und einer zuviel. Aber der medial verbreitete Eindruck: Es wird ja alles immer schlimmer! Der stimmt so nicht. Und wer behauptet, dass Eltern nur heutzutage überlastet sind? Haben wir eine Ahnung, wie sich die psychischen Belastungen junger Eltern ausgewirkt haben, die als Kinder den Krieg miterlebt haben? Könnte es nicht sein, dass mit den heutigen Maßstäben ein erheblicher Prozentsatz jener Kinder, die in den 50er und 60er Jahren aufgewachsen sind, heute als sozial verwahrlost gelten würden?

Wenn nun Kinder von Staats wegen besser geschützt werden sollen als früher, wenn zum Beispiel den Eltern auferlegt wird, mit dem Nachwuchs zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, dann ist das richtig. Und wenn man der Meinung ist, dass Elternrecht öfter mal zurückzustehen hat gegenüber staatlichem Eingriffsrecht, wenn es um Kinder geht, dann kann man das diskutieren. Irritierend ist aber, dass es daherkommt als schleichender politischer Paradigmenwechsel unter der nicht zutreffenden Annahme, dass sich die Verhältnisse so sehr zum Schlechteren verändert hätten. Verändert hat sich über die Jahre allenfalls der massenmediale Vervielfältigungsapparat, der uns diese verschlimmerte Lage suggeriert. Und die Politik reagiert hier eben nicht auf Analyse, sondern auf emotionale Reize, denen sie sich nicht mehr entziehen kann oder mag. So wird denn also der Kindergipfel medienwirksam inszeniert und als Gipfel der Symbolpolitik die Debatte, ob besondere Kinderrechte nicht ins Grundgesetz geschrieben werden sollen. Es ist eine dieser beliebten modischen Konjunkturen, nun alle möglichen Politikfelder dadurch aufzuwerten, dass sie als Staatsziel im Grundgesetz auftauchen: Kultur, Umwelt und Tierschutz, nach den Kinderrechten dann womöglich die Frauenrechte oder die besonderen Rechte gebrechlicher alter Menschen!? Nichts verdrießt die Bürger inzwischen mehr als diese wohlfeile Form von Scheinpolitik, die Aktion vortäuscht, aber nichts bringt – und nebenbei Gefahr läuft, das Grundgesetz zu einer Art Wunschkatalog zu entwerten.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." So steht es knapp und präzise in Artikel eins, damit ist alles gesagt, und damit haben staatliche Stellen letztendlich jede Handlungsfreiheit, wenn Leben, Gesundheit und damit die Menschenwürde von Kindern gefährdet ist. Mehr ist weder nötig noch sinnvoll. Wer Kindern wirklich helfen will, der muss Geld in die Hand nehmen. Der sollte dafür sorgen, dass Ganztagsschulen mit anständiger Ausstattung geschaffen werden, die ihren Namen verdienen und sich nachmittags nicht nur als privat getragene, gut gemeinte Hausaufgabenhilfe zeigen; der sollte die kommunale Sozialarbeit in ihren Strukturen wieder stärken, die über viele Jahre als Sozialgedöns diffamiert worden ist. Wer Kindern helfen will, der darf nicht übersehen, dass es im Zeitalter von Internet und Computer eine neue Formen sozialer und emotionaler Verwahrlosung gibt, die weit in die Mittelschichten reicht und sich den gängigen sichtbaren Mustern entzieht. Da gäbe es für die Politik viel Arbeit. Also: Tut was für die Kinder. Aber lasst die Finger vom Grundgesetz.