Kinderspiel und Rummelplatz

Von Michael Laages |
Sorgsam dosierter Remmidemi-Ton: Ein junges Theater-Ensemble aus Deutschland brasilianisiert mit einheimischer Unterstützung Brechts Fragment über den "Untergang des Egoisten Johann Fatzer".
Che Guevara und Ulrike Meinhof, Brasiliens historische Schlager-Muse Carmen Miranda, aber auch der Medien-Mogul Silvio Santos, eine Art Berlusconi à la Brasil heutzutage - nichts weniger als die Weltgeschichte der Aufbrüche und Umstürze nimmt die andcompany aus Berlin ins Visier, wenn sie den Fall Fatzer einmal mehr aufrollt; und damit eine der kompliziertesten, widersprüchlichsten, radikalsten und modernsten Geschichten im Fundus des Stückeschreibers Bert Brecht.

Der ist Ende 20, als er die Fabel von vier Deserteuren zu entwerfen beginnt, die von den Schlachtfeldern vor Verdun zurück nach Deutschland flüchten und in der erstbesten größeren Stadt, eben Mülheim an der Ruhr, unentdeckt zu überleben versuchen; erst in einem Panzer-Wrack, dann in einem Kellerloch. Der Hunger quält; und erst kommt noch immer das Essen, dann die Revolution, auf die sie hoffen. Während sie also theoretisch schon den Bürgerkrieg der Klassen anstelle des noch immer nicht beendeten Krieges der Staaten setzen wollen, scheitert das Quartett der Herren Fatzer und Schöning, Kaumann und Koch an den Egoismen und Lüsten, wie sie dem alten Menschen bislang immer eigen waren. Fatzer aber, der klügste und am wenigsten verlässlichste, bittet die anderen zum Urteil über die eigenen Untaten - danach werden sie ihn, des blanken Überlebens wegen, womöglich verspeisen.

Die Produktion ist sprachlich bunt gemischt, manchmal wird direkt in der Szene, manchmal auf Übertiteln übersetzt; und im Spiel entwickelt sich ein sorgsam dosierter Remmidemmi-Ton aus Kinderspiel- und Rummelplatz, in dem Brechts vorrevolutionäre Polit-Propaganda zugleich ganz ernst und sehr unernst genommen wird - die aufgekratzte Laienspiel-Spektakelei von Karschnia und Nicole Nord, Musiker Sascha Sulimma und Bühnen-Maler Jan Brokof schafft reichlich Distanz, während die Mistreiter aus insgesamt vier lokalen freien Gruppen aus Sao Paulo vor allem durch massive kämpferisch-spielerische Ernsthaftigkeit überzeugen. Deutlicher geht es ihnen um "etwas" mit diesem Brecht, und sei es um die gedankliche Alternative zum handelsüblichen Reformismus auch zu Hause in Brasilien; die Zahl der Hugo-Chavez- und Evo-Morales-Fans ist zuletzt auch und gerade in Lula-Land beträchtlich gestiegen.

Vor allem aber war schon in den ersten "Fatzer.Braz"-Voraufführungen beim Festival in Sao Jose do Rio Preto und auch jetzt in Sao Paulo zu sehen, wie grundsätzlich anders der Text hier durch den Körper geht - mag Brechts "Fatzer" (auch und erst recht in Heiner Müllers Fassung) zunächst vor allem Kopfgeburt und Gedanken-Spiel gewesen sein, so eignet sich brasilianisches Theater-Handwerk diese eher abstrakte Spielform ganz körperlich an; alles ist Bewegung, Tanz, Energie. Die deutschen Ideenstifter wirken darin ein bisschen wie die Clowns: Besonders angestrengt gerade da, wo sie ein bisschen komisch sein wollen. Brecht allerdings, und vor allem dessen auch in brasilianischen Interpretationen späterer Stücke allzu oft unübersehbarer Musealität, bekommt dieser körperliche, schrill geplusterte Mummenschanz grundsätzlich ziemlich gut.

Ähnliche Erfahrungen im Mit- und Nebeneinander hat kurz zuvor in Sao Paulo Tilmann Köhler gesammelt, auch ganz ohne Brecht; der in Dresden engagierte Regisseur stellte mit ebenfalls deutsch-brasilianisch durchmischtem Ensemble "Haut aus Gold/Die neuen Argonauten" vor, die Endfassung eines in drei größeren Probenzyklen betriebenen Projekt über Kontraste im deutschen Blick auf die brasilianische Fremde und umgekehrt - all dies unter Verwendung des antiken "Medea"-Mythos. Köhler rühmt wie Karschnia die Erfahrung der anderen, der Körper-Sprache.

"andcompany&co." kommen mit "Fatzer.Braz" vom 27. bis 30. Oktober ins HAU nach Berlin und reisen am 4. November ins "Pumpenhaus" nach Münster, am 6. weiter ins Forum Freies Theater (FFT) nach Düsseldorf sowie am 7. November nach Mülheim an der Ruhr, wo die Aufführung im Ringlokschuppen gastiert.
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