Kindliche Beichte
Ein Mädchen stiehlt in "Die Zeit wird es zeigen" aus einer Laune heraus ein Fahrrad. Es hievt ihren jüngeren Bruder auf den Gepäckträger. Nach einem Sturz fällt er ins Koma. Die israelische Schriftstellerin Mira Magén hat einen kitschfreien Roman über kindliche Schuld und Verantwortung geschrieben.
Wenn die Hauptfigur eines Romans Anna heißt, scheint Vorsicht angebracht. Und wie viel mehr noch, wenn der Rezensent freimütig bekennt, dass sich die komplexe Handlung kaum nacherzählen lässt. Haben wir es hier also mit jener Sorte unglücklicherweise auch noch beliebter Souflé-Prosa zu tun, in denen Figuren mit universell anschlussfähigem Namen in wichtigtuerischer Melancholie durch eine vage Existenz gleiten und "unter einem Geheimnis leiden"?
Anna ist jedoch eine Abkürzung der Vornamen ihrer Großeltern: Ahuva und Chana. Die Autorin des Romans "Die Zeit wird es zeigen" aber heißt Mira Magén, ist eine der profiliertesten Schriftstellerinnen der israelischen Gegenwartsliteratur und mit ihren vier vorangegangenen Romanen auch deutschen Lesern bereits bestens bekannt.
Worum geht es? Das Mädchen Anna ist dreizehneinhalb Jahre alt, als es in einer kindlichen Laune ein Fahrrad stiehlt, ihren jüngeren Bruder Tom auf den Gepäckträger hievt und ihn am Ende der wilden Fahrt vom Rad fallen sieht. Und schweigt. Über Wochen, Monate hinweg, in denen sie mit Gott hadert und das Erwachen Toms aus dem Koma gleichzeitig erhofft und befürchtet. Währenddessen gerät das gesamte Familiengeflecht in eine schwere Krise, und nichts, aber auch gar nichts hat dies mit dem sogenannten "Nahost-Konflikt" zu tun.
Da ist etwa Mike – "als Busfahrer der Linie 18 chauffiert er seine Träume bis zur Zentralpost in der Jaffastraße und wieder zurück in die Wohnung in Kiriat Jovel." Da ist seine Frau Sara, die ein Kind verliert ... Da sind Annas Eltern, die von ihrer Arbeitersiedlung in Jerusalem an den Strand von Tel Aviv aufbrechen, um den stotternden Rekonvaleszenten Tom wenigstens etwas Sonne und Meer zu schenken. Sie sind konservativ in jenem Sinne, dass sie große Veränderungen fürchten und religiös auf verzweifelt pragmatische Weise: "Glaubst Du an Gott?" "Das hängt von Gott ab. Wenn Er etwas für Tom unternimmt ... "
Irgendwann in diesem Sommer aber wird das Mädchen Anna, nun selbst der Ohnmacht nahe, sich frei sprechen, das heißt, zu ihrer Verantwortung stehen. Wider Erwarten regeneriert sich auch Toms schwer verletztes Gehirn, doch ist dieser Roman bis zur letzten Seite bar jeglicher Klischees und routinierten Trostes. Eher lässt er an Albert Camus´ "illusionslose Mitmenschlichkeit" denken, die unter einem mediterranen Licht die schrecklichen Wunder unserer Existenz auszuhalten versucht.
Mira Magén, die aus einem orthodoxen Elternhaus stammt, verweigert sich in diesem tief bewegenden Buch auch stilistisch jeder Süßlichkeit - und glaubt dennoch an die letztlich ethische Grundierung der menschlichen Neugier. "Eines Tages", lässt sie ihre Heldin Anna sagen, "werde ich studieren. Ich habe die Welt bereits ausgeschöpft. Um mehr zu wissen, muss ich studieren." Denn es gilt: "Seit Anna alles gebeichtet hatte, ging sie mit offenem Blick durch die Welt, und die beiden Augen, die sie hatte, reichten ihr nicht."
Man muss nicht unbedingt religiös sein, um sich bei dieser Geschichte, die nirgendwo in Richtung Lehrstück abrutscht, an das berühmte Jesus-Wort von der Wahrheit zu denken, die freimacht. Aber man darf sich durchaus daran erinnern – und so vielleicht auch die schöne Ergänzung zu jenem kraftvollen Satz aus dem Buch Jeremia entdecken, das Mira Magén ihrem Roman als Motto vorangestellt hat: "Herr, wenn ich gleich mit dir rechten wollte, so behältst du doch recht; dennoch muss ich vom Recht mit dir reden."
Besprochen von Marko Martin
Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen. Roman.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, 396 S.,
Klappenbroschur, 15,40 Euro
Anna ist jedoch eine Abkürzung der Vornamen ihrer Großeltern: Ahuva und Chana. Die Autorin des Romans "Die Zeit wird es zeigen" aber heißt Mira Magén, ist eine der profiliertesten Schriftstellerinnen der israelischen Gegenwartsliteratur und mit ihren vier vorangegangenen Romanen auch deutschen Lesern bereits bestens bekannt.
Worum geht es? Das Mädchen Anna ist dreizehneinhalb Jahre alt, als es in einer kindlichen Laune ein Fahrrad stiehlt, ihren jüngeren Bruder Tom auf den Gepäckträger hievt und ihn am Ende der wilden Fahrt vom Rad fallen sieht. Und schweigt. Über Wochen, Monate hinweg, in denen sie mit Gott hadert und das Erwachen Toms aus dem Koma gleichzeitig erhofft und befürchtet. Währenddessen gerät das gesamte Familiengeflecht in eine schwere Krise, und nichts, aber auch gar nichts hat dies mit dem sogenannten "Nahost-Konflikt" zu tun.
Da ist etwa Mike – "als Busfahrer der Linie 18 chauffiert er seine Träume bis zur Zentralpost in der Jaffastraße und wieder zurück in die Wohnung in Kiriat Jovel." Da ist seine Frau Sara, die ein Kind verliert ... Da sind Annas Eltern, die von ihrer Arbeitersiedlung in Jerusalem an den Strand von Tel Aviv aufbrechen, um den stotternden Rekonvaleszenten Tom wenigstens etwas Sonne und Meer zu schenken. Sie sind konservativ in jenem Sinne, dass sie große Veränderungen fürchten und religiös auf verzweifelt pragmatische Weise: "Glaubst Du an Gott?" "Das hängt von Gott ab. Wenn Er etwas für Tom unternimmt ... "
Irgendwann in diesem Sommer aber wird das Mädchen Anna, nun selbst der Ohnmacht nahe, sich frei sprechen, das heißt, zu ihrer Verantwortung stehen. Wider Erwarten regeneriert sich auch Toms schwer verletztes Gehirn, doch ist dieser Roman bis zur letzten Seite bar jeglicher Klischees und routinierten Trostes. Eher lässt er an Albert Camus´ "illusionslose Mitmenschlichkeit" denken, die unter einem mediterranen Licht die schrecklichen Wunder unserer Existenz auszuhalten versucht.
Mira Magén, die aus einem orthodoxen Elternhaus stammt, verweigert sich in diesem tief bewegenden Buch auch stilistisch jeder Süßlichkeit - und glaubt dennoch an die letztlich ethische Grundierung der menschlichen Neugier. "Eines Tages", lässt sie ihre Heldin Anna sagen, "werde ich studieren. Ich habe die Welt bereits ausgeschöpft. Um mehr zu wissen, muss ich studieren." Denn es gilt: "Seit Anna alles gebeichtet hatte, ging sie mit offenem Blick durch die Welt, und die beiden Augen, die sie hatte, reichten ihr nicht."
Man muss nicht unbedingt religiös sein, um sich bei dieser Geschichte, die nirgendwo in Richtung Lehrstück abrutscht, an das berühmte Jesus-Wort von der Wahrheit zu denken, die freimacht. Aber man darf sich durchaus daran erinnern – und so vielleicht auch die schöne Ergänzung zu jenem kraftvollen Satz aus dem Buch Jeremia entdecken, das Mira Magén ihrem Roman als Motto vorangestellt hat: "Herr, wenn ich gleich mit dir rechten wollte, so behältst du doch recht; dennoch muss ich vom Recht mit dir reden."
Besprochen von Marko Martin
Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen. Roman.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, 396 S.,
Klappenbroschur, 15,40 Euro