Ukrainisches Kino
Das Dovzhenko Center in Kiew hat mehr als 5000 Titel Filme aus verschiedenen Ländern im Archiv. Direktorin Olena Honcharuk sagt, ukrainische Filmkunst gebe es schon seit dem Ende des 19. Jahrhundert. © picture alliance / NurPhoto/ Oleksandr Rupeta
Widerstand durch Film
12:26 Minuten
Durch den Konflikt mit Russland erlebt das ukrainische Kino seit 2014 ein Revival. Filmschaffende sehen es als Mittel zur Stärkung der nationalen Identität – auch weil die Ukraine auf eine erstaunliche Kinogeschichte zurückblicken kann.
Der Zug rollt auf den Kameramann zu, der im letzten Moment zur Seite springt. Dann ein Schnitt – eine Frau im Bubikopf steigt aus dem Bett und zieht sich die Strümpfe an. In seinem Dokumentarfilm „Der Mann mit der Kamera“ von 1929 hat Dsiga Wertow ukrainisches Großstadtleben aufgezeichnet. Diese avantgardistische, atemlose Collage zählt zu den großen Meisterwerken des Weltkinos.
Es gab immer den Mythos, dass es kein eigenes ukrainisches Kino neben dem sowjetischen gegeben habe. Doch dieser Mythos sei falsch, meint die Direktorin des Kiewer Dovzhenko Centers, des nationalen Filmarchivs und Kulturzentrums der Ukraine, Olena Honcharuk.
Stalin macht dem unabhängigen Kino ein Ende
„Die ukrainische Filmkunst begann schon Ende des 19. Jahrhunderts. Vor dem Ersten Weltkrieg entstanden private Filmstudios, 1922 wurde die staatliche Film-Organisation VUFKU gegründet", erläutert Honcharuk. "Unter deren Ägide entstanden Studios, die zu den modernsten in Europa zählten.“
Man spricht vom ukrainischen Hollywood. Aber 1930, so Honcharuk, sei das Studio von Stalin geschlossen worden. Die Zeit des unabhängigen ukrainischen Films war damit vorbei, das Kino musste nun die zentralistische Sowjetideologie vermitteln.
Ab den Sechzigerjahren gab es einzelne Regisseure, die an einer ukrainischen Filmkunst arbeiteten, nach der Unabhängigkeit 1991 gab es wieder eine eigene Filmproduktion. Aber russisches Kino dominierte weiter – viele ukrainische Filmschaffende gingen nach Moskau.
Renaissance ab 2014
Das änderte sich mit der Annexion der Krim 2014. Da begann, sagt Honcharuk, die Renaissance der ukrainischen Filmkunst. Es wurde eine staatliche Förderung eingeführt, Filmschaffende kamen aus Russland zurück. Seitdem feiert der ukrainische Film wieder internationale Erfolge.
Im Moment habe er allerdings, so Honcharuk, eine wichtigere Aufgabe: Kultur und Geschichte können die nationale Identität stärken, meint sie – das sieht sie auch als Aufgabe des Dovzhenko-Archivs.
Zwar seien der russische und der ukrainische Film lange Zeit eng verbunden gewesen, und vielleicht würden sie sich irgendwann auch wieder annähern. Aber jetzt müssten beide Kinematografien strikt getrennt werden.
Boykott russischer Kultur
Das sieht auch der ukrainische Regisseur Taras Tomenko so. Zwar sei er selbst von russischer Filmkunst beeinflusst, sagt Tomenko. Aber nun müsse man russische Kultur boykottieren, weil sie russischer Eroberungspolitik diene.
Tomenkos Dokumentarfilm „Taubes Gestein“, der auf der diesjährigen Berlinale lief, erzählt von Kindern, die ihren Alltag im Kriegsgebiet in der Ostukraine verbringen. In gewisser Weise sei der Film, meint Tomenko, eine Fortsetzung seines Dokumentarfilms „Slovo Haus“ über den stalinistischen Terror der Dreißigerjahre.
Wie in den Dreißigerjahren, meint Tomenko, wolle Russland der Ukraine auch heute wieder die Unabhängigkeit nehmen. Deshalb müsse der Unterschied zwischen russischer und ukrainischer Kultur betont werden, und dafür sei das Kino zentral wichtig: Es sei ein sehr kraftvoller Ausdruck nationaler Identität, so Tomenko.
Ein neues Unabhängigkeitsgefühl
Russische Kultur zu boykottieren, findet auch die ukrainische Filmkritikerin Natalia Serebryakova richtig. Sie ist im April nach Berlin geflohen. Wenn sie internationale Festivals besucht – unter anderem jährlich die Berlinale – schaut Serebryakova seit Jahren keine russischen Filme mehr. In der Ukraine, sagt sie, sei das Kino in den letzten Jahrzehnten Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels gewesen.
2007 kam der ukrainische Film „Orangelove“ ins Kino: In der Liebesgeschichte zweier junger Menschen spiegeln sich die sozialen Probleme des Landes wider. Damit unterschied sich der Film damals von den sonst so erfolgreichen, seichten ukrainischen Unterhaltungsfilmen – und wurde trotzdem ein Kassenschlager.
Die Orangene Revolution von 2004, auf die der Film Bezug nahm, hat – so meint Serebryakova – ein neues Unabhängigkeitsgefühl, gerade unter jungen Leuten, geschaffen. Und eine neue Generation Filmschaffender habe begonnen, sich ukrainischer Lebenswelt und Sprache zuzuwenden.
Weiblicher Blick im ukrainischen Kino
Bemerkenswert sei auch der weibliche filmische Blick: Der große Anteil weiblicher Filmproduzenten in der Ukraine sei Europarekord. Aber die Ukrainer hätten trotz des Aufschwungs des ukrainischen Kinos weiter sehr gerne russische Filme und Serien geschaut – auch noch nach der Krim-Annexion.
Der weitere Konsum russischer Kultur sei für das Land und seine Identität nicht gut gewesen. Doch damit sei es jetzt vorbei, meint Serebrykova – das hat erst Russlands Invasion endgültig erreicht.