Die "Mannfrauen" Albaniens
Sie schlüpfen in die Rolle eines Mannes, um ein unabhängiges Leben führen zu können: die "Mannfrauen" in Albanien. Die italienische Regisseurin Laura Bispuri hat einen Spielfilm über diese extreme Lebenswahl gedreht - an Originalschauplätzen, in der Originalsprache, mit vielen Laiendarstellern.
Susanne Burg: Sie sind Italienerin und immer wieder nach Albanien gefahren. Wie würden Sie Ihre Reisen umschreiben, sind das Expeditionen, Forschungsreisen?
Laura Bispuri: Ja, also, die Vorbereitungen für diesen Film haben sehr lange gedauert, dreieinhalb Jahre insgesamt. Und während ich an dem Skript für diesen Film schrieb, bin ich immer wieder in diese Berge gefahren und habe mir das alles angeguckt. Das war also sozusagen eine lange Studienzeit, ich habe die Welt erforscht dort, die Traditionen der Menschen, ihre Kultur. Ich habe auch sehr viel erfahren dort, das ist eine sehr heftige Landschaft, kann man sagen. Und sie ist während meiner Zeit dort praktisch in mich gedrungen. Ich habe diese Landschaft aufgesogen und sie hat mir auch sehr viel geschenkt, diese Welt, diese verhexten Berge. Es wirkt schon alles sehr verzaubert. Ich habe eine gewisse Liebe zu dieser Landschaft und dieser Welt entwickelt.
Burg: Sie haben dann auch in Albanien an Originalschauplätzen gedreht. Kann man denn im neorealistischen Sinne auch die Wirklichkeit in den Film hineinziehen?
Die Freiheit der Männer genießen
Bispuri: Ich mag es, dass Sie den Begriff Neorealismus benutzen. Man hat mir einmal gesagt, eine Freundin hat mir einmal gesagt, dass meine Filme sind wie gezeichneter Neorealismus, ein selbst entworfener. Das ist wirklich eine sehr heftige, eine sehr wahre, eine sehr tiefe Realität, die ich zeige, von Orten und auch von Menschen. In Albanien haben wir ja wirklich nur an Originalschauplätzen, an Originalorten gedreht, viel mit Menschen, die keine Schauspieler sind wie zum Beispiel die beiden jungen Mädchen in dem Film. Aber ausgehend von dieser realistischen Basis habe ich versucht, auch lyrische Momente einzuflechten, also poetische Momente, die sich abheben von dem Realismus, der vorher sozusagen die Grundlage bildet, die zum Neorealismus eine gewisse Distanz schaffen.
Burg: Kommen wir noch mal zur Geschichte an sich. Sie haben ja auch recherchiert. Warum wählen manche Frauen ein Leben als Mann, welche Möglichkeiten bietet ihnen das? Immerhin müssen die Sworn Virgins auf ihr sexuelles Leben verzichten.
Bispuri: Die Gründe dafür, warum Frauen diesen Weg gehen, sind sehr unterschiedlich. Gründe für diese wirklich extreme Lebenswegwahl. Und es sind ja auch verschiedene Leute, die das machen, verschiedene Personen. Und manche dieser eingeschworenen Jungfrauen haben ein Keuschheitsgelübde abgelegt, weil es zum Beispiel keine anderen männlichen Nachkommen in der Familie gab und die Familie dann einen männlichen Nachfolger sozusagen brauchte, der sich um gewisse Dinge kümmert, um die sich Frauen eben nicht kümmern durften oder konnten. Und andere wiederum wollten arrangierten Heiraten entfliehen und wieder andere wollten einfach die Freiheit der Männer genießen. Und ganz andere wiederum haben sich ohnehin schon immer als Männer gefühlt und sind dann diesen Schritt ganz natürlich gegangen.
Also, es sind ganz verschiedene Geschichten und auch, was das Thema der Freiheit betrifft, sind das unterschiedliche Gründe, warum diese Wahl getroffen wird. Und viele von diesen Frauen haben sich tatsächlich schon im Alter von zwölf, dreizehn entschieden, diesen Schritt zu gehen, in einem Alter, wo sie eigentlich überhaupt nicht absehen konnten, was für Konsequenzen das hat, was daraus folgt, diese ganze Situation nicht wirklich verstehen konnten. Und das Gesetz des Kanun, wenn man denn diese Wahl einmal getroffen hat, hat einen sehr hohen Wert. Also, man muss sich an diese Wahl dann eben auch in der Gesellschaft halten.
Burg: Warum wählt Ihre Filmheldin zunächst diesen Weg?
Bispuri: In unserem Fall sind es zwei Elemente, die dazu geführt haben. Einmal ist es die Wesensart der kleinen Hana, die schon ganz früh daran interessiert war, ihre eigene Freiheit zu haben. Also, sie will die Freiheit, fühlt aber auch die strengen Regeln, sie spürt, dass sie sehr eingeschränkt ist. Und als sie dann mit ihrer Cousine, mit der sie wie eine Schwester aufwächst, ausreist einmal als Kinder, kriegt sie abends, als sie wiederkommen, eine Ohrfeige und ihr wird erklärt, das geht und das geht nicht und diese Regeln sind soundso.
Aber am nächsten Tag, was macht sie, sie geht alleine noch mal weg und kommt dann aber wieder. Aber man sieht halt einfach, dieses Kind nimmt sich seine Freiheit, sie möchte das haben. Und ihr Onkel, also ihr Ziehvater sozusagen, der sieht das und er erkennt das auch an. Und sie haben beide ein sehr gutes Verhältnis eigentlich und sie weiß diesen Onkel auch, der sie ja aufgenommen hat, sehr zu schätzen. Und er erkennt halt klar diese Tendenz in ihr und sagt dann: Wenn du so sein willst, wenn du diese Freiheit willst, dann gibt es für dich eigentlich nur eine Möglichkeit, nämlich diesen Weg zu gehen, dich zu einer eingeschworenen Jungfrau zu machen.
Und diese Möglichkeit hast du. Und als ihr dann mehr oder weniger alles wegbricht, als ihre Schwester dann bereits gegangen ist, also ihre Cousine, da entscheidet sie, dass sie diesen Weg gehen wird. Sie wählt diesen Weg einerseits, weil sie halt von ihrer Wesensart ein freiheitsliebender Mensch ist und andererseits aus Respektsbekundung oder Anerkennung für ihren Onkel.
Burg: Zu Beginn trägt sie noch Männerkleidung, aber dann beginnt sie auch so, sich selbst anders wahrzunehmen, ihr eigenes Geschlecht zu entdecken. Es ist nicht nur eine äußere Reise nach Italien, sondern auch eine innere Reise. Und natürlich ist Ihr Film auch ein schöner Beitrag zum Genderdiskurs. Hat es Sie, Laura Bispuri, auch gereizt, über die Frauen- und Männerrollen nachzudenken?
Eine innere Reise
Bispuri: Der Schritt zur "Vergine giurata" war für mich wie ein neuer Ausgangspunkt, ein Startpunkt im Film. In dem italienischen Teil des Films entwickelt sich ja die Figur, die so etwas wie ein Halbwesen ist. Sie ist weder Mann noch Frau, obwohl sie eigentlich mehr Frau ist. Aber diese Figur, die kann man auch in einer Gesellschaft wie der unseren finden. Und ich denke, das ist ein sehr aktuelles Thema. Und dann ist dann halt auch noch diese große Reise, die diese Figur unternimmt.
Ich bin sehr froh, dass Sie gesagt haben, die innere Reise dieser Person zu zeigen, weil ich glaube, dass das im Kino eine der schwierigsten Angelegenheiten ist, eine innere Reise zu zeigen. Das Vorhaben war, diese sehr starke innere Tiefe zu zeigen. Es ist sicherlich ein Film, der einen über die Geschlechter nachdenken lässt, über das Weibliche und das Männliche, und seine Sicht darüber um 360 Grad drehen lässt.
Die Geschichte ist sicher auch an die Figur des Mark gebunden, zu der Hana wird, als sie in die Berge geht. Sie geht diesen Schritt vom Weiblichen zum Männlichen, eine große Reise innerhalb des Geschlechterthemas. Ich glaube auch, dass es eine sehr gegenwärtige Handlung ist, was auch ein Grund für meine Entscheidung für dieses Thema war.
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