Hartwig Tegeler, geboren 1956, ist Filmkritiker, Journalist und Regisseur. Seit 1990 arbeitet er für verschiedene ARD-Sender als Autor und Regisseur für Feature und Hörspiele.
Für die Provinz ist das Streaming ein Rettungsanker
04:19 Minuten
Mit der Klage über den Verlust des "heiligen" Gemeinschaftserlebnisses im großen Kinosaal kann der Filmjournalist Hartwig Tegeler wenig anfangen. Er lebt auf dem Land, und da gibt es keine Kinos. Er profitiert vom Ausbau des Streamings.
Es begann an einem Samstagabend vor wirklich vielen, vielen Jahren in einem kleinen Dorf. Im Ersten lief kurz nach 22 Uhr ein Schwarz-Weiß-Film von einem japanischen Regisseur, dessen Name für mich damals ebenso unaussprechlich war wie der des Hauptdarstellers.
Ich hatte weder etwas von Akira Kurosawa gehört noch von Toshiro Mifune, und dass der Film eine Übertragung von Shakespeares "Macbeth" ins historische Japan war. Keine Ahnung, was das bedeutete.
Meine Eltern waren auf einer Feier und hatten verboten, so spät zu gucken. Schlich mich also zum Fernseher, machte das Licht nicht an und erlebte gebannt das "Schloss im Spinnwebwald" – Japan 1957. Plötzlich ein Geräusch. Kamen meine Eltern zurück? Fernseher aus. Fehlalarm. Fernseher wieder an. Das ging einige Male so. Danach war nichts mehr so, wie es vorher war. Angstlust – Angst, entdeckt zu werden, Lust am Schauen dieser Geschichte –, sie war hier für mich geboren. Vielleicht kam ich deswegen danach nie mehr von Filmen los.
Filmbildung via Streaming
Auch wir Landbewohner – Standort des Mikros, in das das hier gesprochen wird: nordöstliches Niedersachsen, gute Breitband-Internetverbindung –, wir Landbewohner können auch, wenn wir weit weg sind vom Schuss, in Liebe verfallen sein dem Kino eines Kurosawa, eines Soderbergh, eines Christian Petzold, Nolan, Kiarostami, eines Michael Hanecke. Ja, auch wir schauen ab und an dänische Filme, nicht nur Serien, oder solche aus Taiwan, tauchen vier Stunden ab in "Zack Snyders Justice League" oder den neuen François Ozon. Das alles aber eben nicht unbedingt im Kino.
Für uns Provinzler, deren "Lichtspielort" Kilometer um Kilometer von zu Hause entfernt sein kann, weit weg von der Chance, das Kino als "heiliges" Gemeinschaftserlebnis zu feiern – was die Metropolen-Filmkritiker allzu gerne tun –, für uns bieten die Streamingdienste inzwischen ja auch erstaunliche Filmbibliotheken. Vor Jahren liefen "Das Schloss im Spinnwebwald" oder ein Bergman oder ein Truffaut selbstverständlich bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Heute führt der Weg zur Filmbildung neben der Arte-Mediathek allein über Video-on-Demand oder eben die Streamingdienste. Auch das eine Realität!
Gemischtwarenläden sind sie in der Regel. Aber Suchen war ja immer auch eine Kulturtechnik. Bei der man in den Tiefen des Algorithmus auch schon mal einen Berlinale-Gewinner finden kann, den außer Festivalbesuchern eh niemand auf der Leinwand zu sehen bekommen hatte.
Hoher Stellenwert des Streamens wird bleiben
Das war vor der Pandemie schon so, das hat sich als Tendenz in ihr verstärkt. Perspektive? Der Tübinger Historiker Mischa Meier hat in der Rückschau auf historische Pandemien bemerkt, dass "die Rückkehr zum Zustand [davor] empirisch gesehen der unwahrscheinlichste Fall" ist.
Aus dem Blickwinkel des Metropolenbewohners mit all seinen Multiplexen und Arthouse-Kinos ein Grauen, diese Vorstellung!
Aus dem Blickwinkel des Metropolenbewohners mit all seinen Multiplexen und Arthouse-Kinos ein Grauen, diese Vorstellung!
Aus der Sicht der Filmbesessenen, die es in die Provinz verschlagen hat, könnte dieser Wandel nur ein gelassenes "Na und?" evozieren. Wir Landpomeranzen freuen uns über die zahlreich ausgebauten Portale. Kinobesuch bleibt infrastrukturell eben einfach die Ausnahme.
Das erste Verlorengehen im Strudel eines Films, in seinen unendlichen Tiefen hatte ich beim Anschauen von Kurosawas "Schloss im Spinnwebwald". Auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. Da gab es keine Magie der Leinwand. Aber es gab eine Magie des Films! Auch ich liebe die Riesenleinwand. Was ich sagen möchte: Es sind die Geschichten, die packen. Wie sie technisch präsentiert werden, sorry, das ist manchmal einfach schlicht egal. Ja, ich sehe vielleicht weniger, aber das, was ich sehen will, was ich sehen soll, sehe ich in jedem Fall.