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Der Esstisch als Schlachtfeld
Es ist angerichtet - wenn die Familie im Kino zu Tisch beisammen kommt, bleibt die Lage selten ruhig. Hier werden die großen Dramen und Tragödien verhandelt, über die man sich in die Haare kriegt. Wir haben die schönsten Esstischmomente im Kino zusammengestellt.
"Angerichtet" ist der deutsche Titel des Romans von Herman Koch, dessen Verfilmung "The Dinner" mit Richard Gere, Laura Linney und Rebecca Hall ins Kino kommt. Zwei Brüder und ihre Frauen, die am Tisch des Nobelrestaurants überlegen, ob sie die Verbrechen, die ihre Söhne begangen haben, vertuschen sollen. "Angerichtet" ist eine treffende Metapher dafür, was sich in der Filmgeschichte beim gemeinsamen Essen oder beim - in der Regel - verhinderten gemeinsamen Essen abspielt.
Hartwig Tegeler mit den TopFive der Filme, in denen am Esstisch die Pathologien der Gesellschaften oder der Familien sichtbar werden:
Platz 5 - "In Zeiten des abnehmenden Lichts" von Matti Geschonneck (D 2017)
Aufgebaut wird der riesige, schwere Eichentisch mit seiner komplizierten Mechanik nur zu besonderen Anlässen. Natürlich aber muss er am 90. Geburtstag des DDR-Partei-Patriarchen Wilhelm das opulente Buffet tragen, zu dem Verwandte, Nachbarn und Genossen sich in der Villa des Jubilars eingefunden haben. Doch der wacklige Tisch bricht krachend zusammen. Das alte Fundament des realen Sozialismus kurz vorm Zusammenbruch 1989, 90 ist so schwankend und mürbe, dass die Zukunft in Gestalt des kleinen Urenkels, der für eine Bockwurst auf den Tisch klettert, den zusammenkrachen lässt wie ein Kartenhaus. Trotz der Nägel, die Wilhelm, vor der Parteikarriere Handwerker, aus Stabilisierungsgründen in ihn geschlagen hat.
Platz 4 - "Django Unchained" von Quentin Tarantino (2012)
Es ist großes Theater, das sich am großen Esstisch des sadistischen Sklavenhalters - Leonardo Dicaprio - abspielt, wenn Christoph Waltz und Jamie Foxx Interesse an einem teuren Kampf-Sklaven vortäuschen, in Wirklichkeit aber Djangos Frau Broomhilda aus der Sklaverei freikaufen wollen. Ringkampf mit Worten, getaktet, rhythmisiert durch den Ablauf der Speisen: Vorspeise, Hauptgang, Nachtisch. Zum letzteren gibt es ´White Cake´. Zwischendurch natürlich erlesene Weine und ebensolche Pointen, die die Dramatik auf die Spitze treiben. Bis die Knarren gezogen werden und der nicht nur sadistische, sondern auch psychopathische Plantagenbesitzer Tarantino-gemäß kurz vorm großen Massaker ausrastet.
Platz 3 - "Im August in Osage County" von John Wells (2013)
Weniger blutig, aber ein nicht minder zerstörerisches Psycho-Massaker spielt sich zwischen Meryl Streep und Julia Roberts und den anderen am ovalen Tisch in der "guten Stube" beim Beerdigungsdinner in Osage County, Oklahoma, ab. Das gemeinsame Essen, hier ein Auflauf, der zu Boden knallt, dort ein Glas Wein zuviel auf die vielen Tabletten, bringen den schwelenden Familienkonflikt zur Explosion. Eruption. Die wohlgehüteten, aber selbstredend zerstörerischen Geheimnisse fliegen allen um die Ohren. Am Ende ist die Krebskranke, zerfressen von ihrem Hass, alleine. Die drei Töchter werden nie mehr an den gemeinsamen Tisch zurückkehren.
Platz 2 - "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" von Luis Buñuel (1972)
Sie sind sechs. Angehörige des Großbürgertums, Buñuels geliebtes Hassobjekt. Geplant ist ein stilvolles Essen. Gedeckt der Tisch. Edle Tischdecken, auf denen Weine und Speisen bereitet sind. Aber immer wieder verhindern irgendwelche Missverständnisse das Mahl. Der Tisch bleibt verwaist. Und nicht mal klar ist, ob das ganze wirklich real oder nur geträumt ist. Das Ganze eben bester Buñuel. Die gesellschaftlichen Rituale der Bourgeoisie erweisen sich als Farce, als Mummenschanz, als hohle Geste. Aber die Gänseleberpastete, die gereicht wird, wenn sie denn tatsächlich am Tisch zusammenkommen, die sechs, scheint exquisit.
Platz 1 - "Das Fest" von Thomas Vinterberg (1998)
Noch ein Geburtstag am großen Tisch, nicht oval, nicht rund, sondern zusammengesetzt aus mehreren einzelnen Elementen, so dass die Hierarchie der Gesellschaft sich deutlich repräsentieren kann. Die gehört zum gemeinsamen Mahl natürlich immer dazu. Hotelier Helges Geburtstagsfeier auf dem Familiensitz. Alle sitzen vor ihren Gläsern, die Suppe ist serviert. Jetzt kommen die Reden. Christians Zwillingsschwester hat sich vor kurzem umgebracht. Christin hält nun vor versammelter Gästeschar am Tisch seine "Wahrheitsrede". Nüchtern schildert er, wie der jetzt 60jährige Jubilar seine nun erwachsenen Kinder über Jahre vergewaltigt hat. Das Fest verläuft sich im Chaos. Im ersten Dogma-95-Spielfilm umkreist Thomas Vinterberg auf grandiose Weise den Tisch mit den Gästen, um seinem in einem Interview geäußertes Credo zu präsentieren: "Wo die Familie ist, ist keine Wahrheit." Und am Esstisch dieser Familien ebenso wenig. Deswegen eignen sich Tische so wunderbar als filmisches Minenfeld.