"Es gibt religiösen Analphabetismus"
"Ein bisschen Verfolgung ist für die Kirche immer gesund", sagt
der frühere Untergrundpriester Tomáš Halík aus Tschechien. Er selbst etwa habe bei Verhören versucht, die eigene Angst nicht zu ignorieren, aber sich auch nicht von ihr dominieren zu lassen.
Philipp Gessler Am Anfang der Woche war Tomáš Halík in Berlin. Er wurde 1948 in eine Prager Intellektuellen-Familie hinein geboren – in einer Zeit schlimmster Verfolgung der Kirchen in der damaligen CSSR. Er fand zum christlichen Glauben, erlebte die Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 und wurde 1978 zum Priester der katholischen Kirche geweiht. Ein Priester, der im Untergrund wirkte – nicht einmal seine Mutter durfte wissen, dass er ein katholischer Geistlicher war. In mehreren Berufen war Tomáš Halík offiziell bis 1989 tätig, unter anderem als Psychotherapeut für Drogenabhängige. Nach der „samtenen Revolution" in CSSR konnte er sich endlich zu seiner Berufung als Priester bekennen. Er habilitierte sich in Theologie und Soziologie und veröffentlichte mehrere Bücher. Derzeit lehrt Halík Soziologie an der Karlsuniversität. In den Jahren 2001 und 2003 war er Gastprofessor in Oxford und Cambridge.
In wenigen Wochen wird er den hoch angesehenen und mit über eine Million Pfund dotierten Templeton-Preis für Verdienste um den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Religion erhalten. Vor ihm haben diesen Preis unter anderem Mutter Teresa, Frère Roger, Alexander Solschenizyn, Carl Friedrich von Weizsäcker, der Dalai Lama und Desmond Tutu erhalten. Tomáš Halíks Autobiografie ist gerade auf Deutsch erschienen. Darin schreibt er, dass Zeiten der Verfolgung für die Kirche normal seien. Das ist recht überraschend. Deshalb war meine erste Frage an ihn, wo er die Gefahren und wo er die Chancen für die Kirche in Zeiten der Verfolgung sehe.
Tomáš Halík: Ich meine, ein bisschen Verfolgung ist für die Kirche immer gesund. Aber wenn das zu viel ist, das ist wirklich zu viel, also wenn das Leben der Kirche ist nicht so selbstverständlich von allen akzeptiert – das ist ein Impuls für die Christen, in die Tiefe zu gehen.
Gessler: Was meinen Sie mit "in die Tiefe gehen"?
Halík: Also in den sogenannten normalen Zeiten ist die Religiosität für viele Leute etwas aus Konformität oder Folklore, und in der Verfolgungszeit, das ist die Sache für eine persönliche Entscheidung. Ein Theologe hat einmal geschrieben, dass es drei verschiedene Beziehungen zwischen Glaube und Kultur, zwischen Religion und Gesellschaft gibt. Die erste ist die Identität – man ist in die Kirche, in die Religion so geboren wie in eine Familie –, dann die Verfolgungszeit und dann die Zeit der Pluralität. Wir haben die Verfolgungszeit im Konflikt zwischen Religion und Gesellschaft, Religion und dem Staat, Religion und dem Regime erfuhren, wenn wir wieder in diese traditionelle Gesellschaft zurückziehen, diese Identität zwischen Kirche und Kultur. Aber das ist nicht geschehen. Wir leben heute in einer pluralistischen Gesellschaft.
Die Kirche ist nicht von allen sehr positiv angenommen. Aber das ist auch eine Herausforderung, das ist etwas ganz anderes als wie Verfolgung der Kirche. Wir leben heute nach dem Fall des Kommunismus in einer pluralistischen Gesellschaft, im Osten wie im Westen. Die Kirche ist nicht von allen positiv angenommen. Aber das ist etwas ganz anderes als die Zeit der Verfolgung. Es gibt einige Christen, die sind nicht imstande, ohne einen Gegner zu leben, und die haben dieselbe Strategie und Taktik, dieselbe Stellung zu dieser pluralistischen Gesellschaft wie früher gegen die kommunistische Gesellschaft. Aber das ist meiner Meinung nach, das ist ein großer Fehler, das ist eine ganz neue Situation.
Papst Johannes Paul II. spielte wichtige politische Rolle
Gessler: Jetzt haben Sie ja selber die Zeit der Verfolgung erlebt, auch Verhöre und ähnlich Schlimmes überstanden. Wie haben Sie die Angst in diesen Situationen überwunden?
Halík: Also Angst ist ganz normal, das ist ein Signal für die Gefahr. Das ist wie Schmerz. Also die Angst selbst ist nicht so etwas Schlimmes, das ist ganz normal, dass, wo die Gefahr ist, auch die Angst da ist. Aber das Wichtigste ist, dass die Angst unser Leben nicht bestimmen darf.
Gessler: Nun haben wir ja gerade die Heiligsprechung von Karol Wojtyla erlebt in Rom. Schätzen Sie das auch so ein, wie immer wieder gesagt wurde, dass er eine zentrale Rolle gespielt hat beim Fall des Eisernen Vorhangs und beim Zusammenbruch des Warschauer Paktes?
Halík: Ja, ich meine, das ist wahr. Der Papst Johannes Paul II. spielte eine sehr wichtige politische Rolle. Aus dem moralischen Klima nach seinem ersten Besuch in Polen ist die Bewegung Solidarnosc entstanden, und diese Bewegung hat das Monopol der kommunistischen Macht zerstört.
Gessler: Sie haben geschrieben, dass Sie fast glauben, der erste Priester zu sein, der in seinem Pontifikat geweiht wurde damals in Erfurt. Haben Sie ihm das jemals gesagt?
Halík: Ja. Ich war geheim geweiht in der Privatkapelle von Bischof Aufterbeck in Erfurt, und das war gerade am Vorabend der Inthronisation des Papstes im Oktober 1978. Und an dem nächsten Tag zelebrierte ich meine erste Messe, und nach dem sah ich die Inthronisation des Papstes im westlichen Fernsehen. Ich sagte damals zu mir selbst: Also vielleicht werde ich einmal eine Gelegenheit haben, diesem Papst zu sagen: Ich bin vielleicht der erste Priester, der unter Ihrem Pontifikat geweiht wurde. Und ich hatte diese Gelegenheit elf Jahre gehabt, das war gerade in der Zeit von Kanonisierung der Agnes von Prag im November 89. Damals war es uns tschechischen und slowakischen Christen zum ersten Mal erlaubt, nach Rom zu fahren und an dieser Kanonisation teilnehmen. Ich schickte einen Brief dem Heiligen Vater mit einer Bitte um eine kurze Begegnung, und er hat mich eingeladen für ein Abendessen, und das war gerade ein Tag vor dem Fall der Berliner Mauer.
Und der Papst kam im Fernseher - in den Nachrichten - und sagte: Das ist das Ende vom Kommunismus. Und ich konnte das nicht glauben, ich sagte ihm: Vielleicht, Heiliger Vater, das Päpstliche funktioniert in dem politischen Bereich nicht so viel. Also meiner Meinung nach, wird es in unserem Land eine Perestroika in fünf Jahren, zehn Jahren geben. Sagt er, nein, nein, Sie müssen bereit sein, das kommt sehr bald. Und es kam in zehn Tagen.
Starke Verfolgung der Kirche in Tschechien
Gessler: Jetzt ist ja die tschechische Republik genauso wie die neuen Bundesländer, also das Gebiet der ehemaligen DDR: Bei manchen Forschern gelten sie als die am stärksten säkularisierten Gegenden der ganzen Welt. Wenn Sie so etwas lesen, schmerzt Sie das und haben Sie sich mal Gedanken gemacht, wie man das vielleicht wieder zurückdrehen kann?
Halík: Meiner Meinung nach ist es nicht so einfach. In unserem Land war eine starke Verfolgung der Kirche, weil die tschechoslowakische Republik war schon vor dem Krieg ein relativ säkularisiertes Land mit hohem Niveau von Bildung, ein Land von Industrie und Urbanisation. Und auch die komplizierte tschechische religiöse Geschichte spielte eine wichtige Rolle – die Verbrennung von Jan Hus, dann die gewaltige Rekatholisation in dem 17. Jahrhundert, dann die Verbindung der Kirche mit der Habsburger Monarchie. Das alles spielt eine Rolle. In Polen, die katholische Kirche spielt eine ganz andere Rolle.
Das war eine Säule der nationalen Identität gegen das orthodoxe Russland und das protestantische Deutschland – also bei uns war das nicht so, das war sehr kompliziert. Ich sollte die Situation in der tschechischen Republik heute mehr als eine Entkirchlichung charakterisieren als eine Entspiritualisierung. Es gibt eine große Sehnsucht nach der Spiritualität, auch die jungen Leute stellen sich die spirituellen Fragen. Auf einem relativ kleinen Gebiet der tschechischen Republik gibt es einige Bereiche, wo eine religiöse Wüste ist. Es gibt auch Inseln von der Volksreligiosität. Aber es gibt auch die Schichten von jungen Leuten, Künstlern, Intellektuellen, die haben ein großes Interesse an den religiösen, spirituellen Fragen. Es ist ein Problem, das auf der Seite der Kirche wenige Vertreter sind der Kirche, die bereit sind, mit diesen Suchenden zu diskutieren.
Geistige Lage der Gesellschaft ist sehr bunt
Gessler: Jetzt hat Jürgen Habermas davon gesprochen, wir befinden uns mittlerweile in einem postsäkularen Zeitalter. Würden Sie dem zustimmen?
Halík: Ja, Säkularisierung war eine wichtige Etappe der europäischen Kulturgeschichte. Und viele Intellektuelle erwarteten, was geschieht in Europa, muss später auch ganz global sein. Aber das ist nicht so. Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten ist ganz anders als in Europa, und auch die außereuropäischen Kontinente sind gar nicht säkular. Also Religion ist mehr vital und mehrschichtiges Phänomen als viele europäische Intellektuelle vor 50 Jahre dachten.
Gessler: Aber es bleibt dabei, dass anscheinend in Europa die Säkularisierung trotz dieses gewissen Zwischenhochs nach den Anschlägen vom 11. September immer weiter voranschreitet – ist das auch Ihr Eindruck?
Halík: Ich meine, die geistige Lage der heutigen Gesellschaft ist sehr bunt. Der Begriff Säkularismus ist nicht imstande, diese Situation ganz präzise zu beschreiben. Es gibt einen Apatheismus mehr als einen Atheismus. Die Leute, die sind apathisch gegenüber Religion. Es gibt einen religiösen Analphabetismus. Die Leute, die wissen praktisch gar nichts über Religion, die äußern sich ganz radikal über Religion und Kirche, aber ihre Ansichten sind nicht an Erfahrung oder Kenntnissen gedeckt. Und meiner Meinung nach: Der große Unterschied ist heute nicht zwischen den sogenannten Gläubigen und Nicht-Gläubigen, aber zwischen Bleibenden und Suchenden. Die Zahl der Verbleibenden der Leute, die sind ganz identifiziert mit dem kirchlichen Glauben, aber auch die Zahl derer, die sich ganz mit dem Atheismus identifiziert, sinkt. Aber die Zahl der Suchenden wächst. Und für die Kirche ist es sehr wichtig, mit diesen Suchenden zu sprechen, zu kommunizieren.
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