Elin Rosteck: "Neulich bin ich Patentante geworden. Nach der Taufe in der Kirche habe ich die Pfarrerin ein bisschen näher kennengelernt. Sie hat mir von den Sorgen und Nöten erzählt, die man als Nachwuchskraft mit der Kirche so hat heutzutage und von ihrer ewig langen Ausbildung. Da kam mir dann die Frage – wer will heute eigentlich noch Pfarrer werden?"
Jedes Schäfchen zählt
Katrin Berger hat ihren "Entsendungsdienst" als Pfarrerin in der tiefsten Provinz Westfalens absolviert. 14 Jahren dauerte ihre Ausbildung. Ob sie einmal eine feste Stelle bekommt, ist unklar. Doch eins weiß sie: Sie will etwas bewegen, gerade in dieser Zeit, in der sich ihre Kirche bewegen muss.
Applaus in der Kirche – ja, fast schon "Standing Ovations" für die junge Pfarrerin. Gerade hat der Superintendent des Kirchenkreises Lübbecke sie feierlich in ihren Berufsstand erhoben. Ein wichtiger Moment für Katrin Berger. Nach 14 Jahren Ausbildung hat sie die Erlaubnis für die "öffentliche Verkündigung" erhalten, wie das in Kirchensprache heißt. Noch gestern Abend wollte sie alles hinschmeißen. Und ihre Kirche steht vor großen Entscheidungen. Sie muss sich verändern. Aber ... ob da alle mitziehen?
45.000 Kilometer in anderthalb Jahren
Einige Wochen nach der Ordination hat sie der Alltag längst wieder eingeholt. Ein langer Tag liegt vor ihr, mit jeder Menge Arbeit und jeder Menge Kilometern. Wir fahren durch ihren Seelsorgebezirk – mitten auf dem Land in Ostwestfalen. 45.000 Kilometer in anderthalb Jahren. Ihre Kirche hat sie hierher verpflanzt; auf ihre erste Probestelle als Pfarrerin.
In zwanzig Minuten soll sie hier, in Levern, in dem Altenheim, vor dem sie geparkt hat, einen Gottesdienst halten. Katrin Berger übt eigentlich noch. Hier in der Gemeinde Levern, Stemwede, übt sie Gottesdienst und Pfarrer-Sein.
Die Orgel aus dem Laptop
Der große Aufenthaltsraum ist schon seit einer halben Stunde voll. Alte Damen in Rollstühlen oder mit Rollatoren. Viele sind offenbar nur körperlich anwesend. Und noch immer helfen die Pflegerinnen weiteren alten Leuten in den Raum hinein. Die Orgel kommt aus dem Laptop, auf dem provisorischen Altar steht neben einer Kerze eine Flasche duftendes Pflegeöl. Katrin Berger kommt einmal im Monat zum Predigen in dieses Altenheim.
Sie malt mit dem Öl Kreuze auf Stirnen, schlängelt sich dafür zwischen Rollatoren und Rollstühlen hindurch, klettert über ausgestreckte Beine und Spazierstöcke und navigiert sich durch engste Lücken in der Bestuhlung.
"Ich glaube, es geht mir eigentlich darum, dass sie merken: Gott meint es gut mit dir. Der hat dich auch lieb. Und man muss da nicht immer groß und stark sein und schon gar nicht, wenn man alt und zerbrechlich wird und vielleicht nicht mehr so oft angefasst wird; und man nicht mehr so viel Zärtlichkeit hat und Kuscheln und so; und da ein Zeichen zu setzen und im wahrsten Sinne des Wortes zu sagen: Gott kommt dir ganz nah und tut dir was Gutes."
Manchmal fließen auch Tränen
Es sind wettergegerbte Gesichter, die sich ihr entgegenstrecken; Gesichter, in denen die harte Arbeit eines langen Lebens eingraviert ist; Gesichter, über die ein Leuchten geht bei ihrer Berührung, ihren Worten. Manchmal fließen auch Tränen.
Mittags geht sie am Mittellandkanal eine Runde mit dem Hund. Perla hat sie im Internet gefunden und sich direkt in sie verliebt. Katrin Berger braucht diesen Hund. Rundum sind Felder und Wiesen und Bauernhöfe, keine Stadt; keine jungen Leute, mit denen sich eine 34-Jährige austauschen könnte. Sie, die zuvor mitten in Köln gelebt hat, jeden Tag neue Menschen, neue Geschichten; sie hat ihre Kirche hierher geschickt. Ganz schön einsam. Ganz schön hart.
Perla ist so eine Art Partnerersatz, sagt Katrin Berger. Aber sich in einen Mann neu zu verlieben, das sei gerade gar nicht ihr Thema.
14 Jahre Ausbildung – viele springen ab
Sie will endlich eine feste Stelle in einer Gemeinde. Die evangelische Kirche wird schon sehr bald sehr viele freie Stellen haben, weil sich kaum noch jemand fürs Studium einschreibt; drei alte Sprachen lernen; auf wissenschaftlichem Niveau! Und dann auch noch Pfarrer werden; bei den Verhältnissen heute ... Das will kaum noch jemand, viele springen auch ganz am Ende noch ab. Eigentlich also müsste die Kirche die wenigen Bewerber umschwärmen. Doch Katrin Berger durfte sich in diesem Sommer noch immer nicht auf freie Stellen bewerben. Nach 14 Jahren Ausbildung braucht eine Pfarramts-Anwärterin noch eine weitere Erlaubnis. So schreibt es ihre Kirche vor.
Wir sind auf dem Weg zum nächsten Arbeitseinsatz. Auf dem Parkplatz vor dem Dorfkrug wechselt sie unten rum wieder in die Arbeitskleidung: also in die feinen schwarzen Schuhe. Und zieht wieder die Kleidertasche mit dem Talar aus dem Kofferraum. Sie ist pünktlich; genau richtig zum Ende des Sektempfangs.
Gottesdienst in der Gastwirtschaft
Das Ehepaar Rothardt feiert heute seine diamantene Hochzeit. 60 Jahre Ehe. Die ganze Familie ist eingeladen. 35 Personen. Gottesdienst in der Gastwirtschaft. Alles, damit keine weiteren Schäfchen verlorengehen. Kirche muss raus aus den alten Klamotten, rein in eine neue Existenz, sagt sie, sie muss unter die Leute, muss zu den Leuten. Denn die finden den Weg nicht mehr. Weder in die Kirche, noch in die Pfarrhäuser. Vor allem die Jungen nicht.
"Konfirmanden fühlen sich nicht zuhause in unserer Liturgie. Da kann ich machen, was ich will, und ich mache eine Menge – aber die fühlen sich da eine ganz lange Weile nicht zuhause. Und da denke ich dann, oh, wie kriege ich das hin? Dass Ihr merkt, Ihr dürft hier auch sein und eigentlich geht es auch um euch und nicht um uns und unsere Traditionen."
Gleich werden auch hier noch Tränen fließen. Tränen der Rührung. Wenn Katrin Berger die kleine Ansprache hält, die sie eigens für das Jubelpaar geschrieben hat.
Noch einen Termin hat sie heute Abend. Es war ein langer Tag, alles in allem, aber mittwochs die Abendandacht um 21.00 Uhr, die muss sein. Dietmar hat die Birnen aus den Kronleuchtern herausgeschraubt. Er stellt fünf Stühle im Kreis um die Kerzen herum und legt lindgrüne Decken drauf; wie in einem Café. Alles Ideen von Katrin Berger.
Andacht zu zweit
Es ist neun Uhr; sie sind nur zu zweit, gut, mit der Reporterin zu dritt. Aber die Pfarrerin hält das aus. Im Sommer vor einem Jahr hat Katrin Berger angefangen mit diesen Andachten. Anfangs kamen viele Leute, schöpften Kraft aus der Stille, der Liturgie, so wie die Pfarrerin. Dann bröckelte es und jetzt sind sie meistens nur zu zweit. Sie ist bereit für das Neue. Sie will eine eigene Stelle, eine eigene Gemeinde, die zu ihr passt und die sich bewusst für sie entscheidet, für Katrin Berger; die Pfarrerin mit den frischen Ideen.
Ein paar Wochen später. Stemwede steht Kopf. Festival dies Wochenende! Ein Bauer hat seine Äcker und Grünflächen abgetreten, und für drei Tage geht hier echt die Luzie ab. 10.000 Leute im sonst so menschenleeren Niemandsland zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Drei Bühnen haben die Organisatoren aufgebaut und mittendrin eine Zeltstadt mit Essensbuden und Souvenirläden. "Hier Kiffen" steht auf einem riesigen schwarzen Schild; und ein Stück weiter, etwas abseits von all dem Trubel, ist ein kleines weißes in der Ferne zu erkennen: "Hier Ort der Ruhe".
Gott für Festivalmüde
Ein niedriger Tisch mit ein paar Bibeln und drei paar quietschgelben Ohrenschützern. Mit Zetteln drauf: "Kommet her zu mir, alle, die Ihr erschöpft seid". "Ich will Euch Ruhe schenken. Die Bibel". Gott für Anfänger und für Festivalmüde.
Jetzt ist auch Katrin Berger da; in abgetragenen Jeans und einer speckigen Jeansjacke. Das hier ist was anderes, als eben noch in der Kirche, wo sie gerade zwei junge Leute getraut hat; oder Sonntags im Gottesdienst, auf der Kanzel.
"Ich predige gerne, ich mache das total gerne, an Texten zu arbeiten. Aber ich frage mich, was aus diesem Genre wird. Ich weiß nicht mehr, wie man das angehen soll, weil es wahrscheinlich ganz wenige gibt, die jede Woche in diese eingeübte Form des fast mönchischen Lebens, da sich einfinden können, dem was abgewinnen können und dann auch noch sich so was anhören wollen."
Vielleicht ist das hier die Zukunft der Kirche: Da sein, wo die Menschen sind.
Die Festivalbesucher können kleine Zettel mit ihren Sorgen und Nöten beschreiben und sie in die Schubladen der selbstgebastelten Klagemauer stecken, die die Gemeindehelfer unter dem dritten Zeltdach liebevoll aus Pappe aufgebaut haben. Und: Sie tun es.
Kirche vor Ort scheint zu funktionieren. Zumindest hier und heute. Die Pfarrerin klappt den Jackenkragen hoch und kramt in ihrer Umhängetasche nach den dicken Socken. Ohrenschützer wünscht sie sich jetzt schon, murmelt sie, gegen den Krach; aber heute Nacht will sie hier durchhalten. Werbung machen. Akquise für Gott.