Intensiver Austausch mit Atheisten
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Für viele Menschen spielt die Kirche keine Rolle mehr. Um dennoch im Ortsleben verankert zu bleiben, bieten einige Gemeinden nicht nur Seelsorge, sondern öffnen sich für vielfältige Kultur-Veranstaltungen – mitunter sogar für Sportwettkämpfe.
Ein Sonntag im Sommer: Die Dortmunder Pauluskirche ist gut besucht. Die Anwesenden hören Organist Dietmar Korthals zu, der sie quasi musikalisch anfeuert. Das Publikum sitzt nämlich nicht in den Bänken, sondern läuft im Rahmen eines Stadtlaufs durch die Kirche. Die Pfarrer Sandra und Friedrich Laker begrüßen die Sportgruppen am Altar.
Mit Sport und Philosophie neue Peergroups ansprechen
Die Aktion hat für die Paulus-Gemeinde Symbolcharakter. Sie möchte damit zeigen, dass sie für alle Bürger, also für die gesamte Zivilgesellschaft offen ist, erklärt Friedrich Laker:
"Sie kommen aus allen Schichten der Gesellschaft, sie vertreten sehr unterschiedliche Meinungen, die aber dann in der Kirchengemeinde nicht alle zum Tragen kommen, weil eben nur eine kleine Peergroup sich angesprochen fühlt durch die traditionellen Angebote."
Die deshalb in der Pauluskirche zum Beispiel um Konzerte oder philosophische Abende ergänzt werden.
Fallstudie zur Öffnung von Kirchgemeinden
Ob und wie es Kirchengemeinden gelingen kann, sich stärker zu öffnen, interessiert auch die Forschung. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland etwa hat im Juni 2019 die Ergebnisse von sechs Fallstudien veröffentlicht. Forschungsobjekte waren Stadt- und Landgemeinden aus der ganzen Republik. Die Religions-Soziologin Hilke Rebenstorf erklärt den Forschungsansatz:
"Wir haben uns gedacht, dann wollen wir nicht nur die Eigenperspektive der Gemeinden haben. Sondern wir wollen auch wissen, wie werden die Gemeinden wahrgenommen durch andere zivilgesellschaftliche Akteure."
Ehrenamtliche oft mehrfach tätig
Das Forscherteam hat neben Gemeindemitgliedern auch Vereinsvorsitzende, Kommunalpolitiker, Vertreter von Bürgerbüros, Schulen oder Kindergärten befragt. Da gerade die evangelische Kirche sehr stark auf ehrenamtliche Arbeit setzt, war es hier relativ leicht, Querverbindungen zu finden:
"Zum Teil sind es dann auch einzelne Personen, die mehrfach aktiv sind", sagt Hilke Rebenstorf. "Und dann sind sie eben aktiv in der Kirchengemeinde und in einem Stadtteilbüro und in einer Bürgerinitiative. Und darüber erfährt man auch voneinander und man hält nicht damit hinterm Berg und unterstützt sich dann bei bestimmten Tätigkeiten."
Eine Kirche als "Landmarke" zieht Spenden an
Das gilt auch für Bochum-Stiepel. Der Stadtteil hat seinen dörflichen Charakter bis heute bewahrt. Örtliche Vereine und andere Einrichtungen beteiligen sich rege am Gemeindeleben, indem sie Gottesdienste und Feste mitgestalten. Außerdem haben die Bürgervertreter mit dafür gesorgt, dass die über 1000 Jahre alte Dorfkirche aufwändig restauriert werden konnte. 800.000 Euro Spendengelder kamen zusammen, erinnert sich Pfarrer Jürgen Stasing:
"Es gibt ja Menschen, die gar nicht mehr einen besonderen Bezug zu den Inhalten von Kirche haben. Aber wenn sie sehen, dass so eine alte Kirche mit mittelalterlichen Malereien Unterstützung braucht, dann sagen sie: Das ist unsere Landmarke, da setzen wir uns auch voll für ein. Das heißt aber nicht, dass sie hinterher im Gottesdienst erscheinen."
Kirche als Konzertraum: Von Kammermusik bis Rolling Stones
Seit langem ist die Stiepeler Dorfkirche bekannt für Kammerkonzerte in hervorragender Akustik. Jahr für Jahr kommen tausende Musikfreunde in den Ort. Die Dortmunder Nordstadt wiederum lockt mit günstigen Mieten, wodurch sie studentisch und multikulturell geprägt ist. Das sei eine gute Voraussetzung, meint Hilke Rebenstorf:
"Wie lebendig ein Gemeindeleben ist, hängt weniger davon ab, wie hoch der Anteil der Evangelischen in der Bevölkerung ist, als davon, wie lebendig diese Sozialräume insgesamt sind."
Die lebendige Nordstadt motiviert das Team der Pauluskirche – und diese Leidenschaft überträgt sich: Manche Besucher sind wieder in die Kirche eingetreten und engagieren sich ehrenamtlich. Darum kann die Gemeinde selbst größere Konzerte veranstalten. Sogar Mick Taylor, Ex-Gitarrist der Rolling Stones, war schon zu Gast in der Kirche.
Den Austausch mit Atheisten suchen
Die Konzerte bringen Menschen mit verschiedensten Weltanschauungen zusammen. Intensive Gespräche sind dort nicht wirklich möglich. Dafür gibt es die philosophischen Abende, freut sich Pfarrer Friedrich Laker:
"Diesem offenen Austausch, auch mit überzeugten Atheistinnen und Atheisten, dem haben sich die Gemeinden traditionellerweise nie geöffnet. Das ist jetzt eine neue Erfahrung, die aber die Gemeinde bereichert. Weil sie uns auch nochmal in unserer kirchlichen Frömmigkeit, in unserer Theologie hinterfragt und uns selbst verändert."
Die Gemeinde in Bochum-Stiepel plant währenddessen, eine Streuobstwiese für die Bürgerinnen und Bürger anzulegen. Sie wird auf einer nicht benötigten Friedhofsfläche entstehen, erzählt Pfarrer Jürgen Stasing. Als Vorbild dient das bekannte Gedicht von Theodor Fontane.
Fontanes Herr von Ribbeck dient als Vorbild
"Der ist gestorben und war so schlau, eine Birne mit in sein Grab zu legen, dass auch Leute danach noch sich freuen können an schönen Birnen. Und deshalb dürfen die Früchte auch von allen gegessen werden."
Kirchengemeinden haben also viele Möglichkeiten, sich für die Zivilgesellschaft zu öffnen. Natürlich vorausgesetzt, dass sie die Potenziale ihres Standortes, ihrer Gebäude und Ausstattung gut kennen – und diese entsprechend zu nutzen und gegebenenfalls zu modifizieren bereit sind.