Gegen die Thermoskannentheologie
Nach innen schön warm, aber nach außen keine Ausstrahlung: So soll die Evangelische Kirche nicht sein, meint Bertold Höcker, der Superintendent des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte. "Permanente Veränderung" sei der Auftrag.
Kirsten Dietrich: Über ihre Zukunft nachzudenken, das hat die Evangelische Kirche in Deutschland seit acht Jahren all ihren Mitgliedern zur Aufgabe gemacht. 2006 nämlich veröffentlichte der damalige Ratsvorsitzende und Berlin-Brandenburgische Bischof Wolfgang Huber ein sogenanntes Impulspapier unter dem Titel "Kirche der Freiheit". Die Kernfrage darin: Wie sieht die evangelische Kirche in 30 Jahren aus, wenn sie nach Berechnungen der Demografen bis dahin die Hälfte ihrer Mitglieder verloren hat und die jetzigen Strukturen wahrscheinlich nicht aufrechterhalten werden können? Das Papier hat für viel Kritik gesorgt, vor allem wegen seiner betriebswirtschaftlichen Sprache, die so gar nicht zu dem passt, was viele Protestanten von ihrer Kirche gewohnt sind und an ihr schätzen.
Seitdem jedenfalls diskutiert die evangelische Kirche über die Zukunft, in der nächsten Woche zum Beispiel bei einem großen Zukunftsforum im Ruhrgebiet. Eingeladen ist die sogenannte Mittlere Führungsebene, also diejenigen, die Kirchenkreise und andere Zusammenschlüsse von Gemeinden leiten. Einer der Teilnehmer wird Bertold Höcker sein, er ist Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Berlin Stadtmitte und daneben auch Unternehmensberater. Ich wollte von ihm wissen, was denn die Reformbemühungen in seinem Kirchenkreis schon verändert haben?
Bertold Höcker: Es hat sich eine Menge verändert, ich möchte das gerne an drei Dingen deutlich machen: Zum Ersten in der ganzen Finanzsteuerung, da versuchen wir stark, unser Wirtschaften zu optimieren und genau zu unterscheiden, welche Bereiche der Kirche können wir wirtschaftlich betreiben, welche aber sind jeglicher wirtschaftlichen Verfügung entzogen, wie zum Beispiel Seelsorge, das Kümmern um Leidende, das kann man nicht ökonomisieren. Aber dagegen der Umgang mit unseren Immobilien und mit den uns anvertrauten Vermögen und Ressourcen, da ist noch viel Potenzial. Das ist der erste Bereich. Der zweite Bereich ist der Umgang mit dem Personal: Personalentwicklung, Gesundheitsmanagement und vieles andere mehr, was es vorher nicht gab, ist jetzt Teil des kirchlichen Bemühens um Reformen. Und der dritte Bereich ist die inhaltliche Überlegung: Wie können wir das Evangelium in dieser Zeit für urban lebende Menschen aussagen?
Dietrich: Kann ich das ganz knapp zusammenfassen unter: Sie versuchen jetzt, besser zu wirtschaften?
Höcker: Das wäre reduziert. Das ist primär eine inhaltliche Frage und das bessere Wirtschaften ist ein Bereich davon. Aber letztlich ist immer die oberste Frage: Wie können wir das Evangelium in diese Zeit für urban lebende Menschen aussagen?
Dietrich: Ihr Kirchenkreis definiert das urbane Leben ja in sehr vielen verschiedenen Ausprägungen, also von sehr sozial eher schwachen Gebieten, in Moabit, in Kreuzberg vielleicht, auch über Boom-Gegenden in Prenzlauer Berg oder auch eben in anderen Teilen von Kreuzberg, oder die historische Mitte von Berlin mit ihren vielen Lücken und Aufgaben und Verantwortung. Kann man da überhaupt wirklich dieses eine Reformkonzept, was da immer wieder angemahnt wird, haben oder anwenden?
Höcker: Also, es gibt kein einheitliches Reformkonzept jenseits der Leitidee, das Evangelium aktuell auszusagen und den Auftrag der Kirche zu erfüllen. Und den Auftrag der Kirche zu erfüllen, nämlich das Evangelium zu verkünden, ist immer der Leitgedanke aller Kirchenreformen. Stadtmitte ist nun ein Kirchenkreis, in dem Urbanität par excellence vorkommt. Und Urbanität ist im Sinne der Kirche immer eine Synthese von Heterogenität. Und natürlich sind wir ein Kirchenkreis, der unglaublich heterogen ist, und ein Beispiel dafür ist, dass 80 Prozent der Wohnbevölkerung des Kirchenkreises sich alle fünf Jahre austauschen.
Dietrich: Wie reagiert man dann als Leiter eines Kirchenkreises darauf?
Höcker: Wir versuchen, die kirchliche Arbeit auf allen Ebenen auf diese Strukturen einzustellen, ebenso auch, dass 80 Prozent der Kirchenmitglieder, die zu Stadtmitte gehören, in Single-Haushalten leben und sich klassischerweise die kirchliche Arbeit an Familien richtet. Da versuchen wir, für alle Lebensformen Angebote zu entwickeln und auf sie zuzugehen.
Dietrich: Sie sagen, letztendlich kommt es darauf an, das Evangelium angemessen zur Situation zu sagen. Das klingt jetzt wie eine relative Selbstverständlichkeit, warum braucht man dann so einen groß angelegten Reformprozess dafür?
Höcker: Sie brauchen schon den Reformprozess dafür, weil der Auftrag der Kirche oft von anderen geheimen Zielen unterlaufen wird, wie zum Beispiel, ach, wir möchten so eine Thermoskannentheologie haben, nach innen ist es schön warm, aber nach außen hat es keine Ausstrahlung mehr. Und es gibt vielfach das geheime Ziel, bestehende Strukturen zu erhalten, weil man das kennt, es gibt eine gewisse Sicherheit, und Veränderung macht immer Angst. Und deswegen ist es wichtig zu sagen, der Auftrag der Kirche ist, sich permanent zu verändern. Und deswegen brauchen wir es nicht zu fürchten, denn Christus ist unser Herr, was haben wir zu fürchten?
Dietrich: Nun steht die Kirche eben auch dafür, dass man Halt gibt, dass man Sicherheiten vermittelt. Ist vielleicht doch auch verständlich, warum es diese Angst vor Veränderung gibt, oder?
Höcker: Das Gute in der Kirche ist, dass wir auch wagen können, dazu zu stehen. Es gibt diese Angst vor Veränderung, es gibt den Wunsch, sozial homogen es sich gemütlich zu machen. Das entspricht aber nicht unserem Auftrag. Und deswegen ist die Auftragsorientierung so wichtig in allen Reformschritten zu haben. Gleichzeitig sagen wir aber auch, ja, aber unser Gefühl ist oft ein anderes. Und dann muss man mit dem Auftrag der Kirche gegen die Ängste vorgehen.
"Der Schwung ist langsam verebbt"
Dietrich: Als das Impulspapier "Kirche der Freiheit" vor acht Jahren veröffentlicht wurde, da hatte man das Gefühl, in der evangelischen Kirche soll eigentlich kein Stein mehr auf dem anderen bleiben, es soll alles auf diese Reform konzentriert werden, die Kirche soll ganz anders aussehen, bis hin zu Gottesdienstquoten, bis zu Taufquoten, also ein riesiger Impuls zu Veränderung. Was ist aus diesem Schwung geworden, wie ... Ist der wirklich noch so brennend wie am Anfang?
Höcker: Also, ich weiß nicht, ob der je brennend war. Es gab einen Schwung, aber der Schwung ist langsam verebbt. Und ich glaube, es erweist sich als Irrweg, wenn wir uns in den Angeboten rein an ökonomischen Marktgesetzen orientieren. Ein Gottesdienst hat unabhängig von der Zahl der Teilnehmenden eine große Verheißung. Und ob eine Amtshandlung wie Taufe oder Bestattung gut oder schlecht ist, wird auch nicht an Teilnehmendenzahlen entschieden. Und auch Dienstleistungen innerhalb von kirchlichen Ebenen können wir nicht orientieren an dem, was sich allein wirtschaftlich handelnde Institutionen und Unternehmen leisten können. Das schaffen wir einfach nicht, dafür haben wir zu wenig Ressourcen.
Dietrich: Das heißt, die doch zumindest auf der sprachlichen Ebene relativ wirtschaftsorientierte Herangehensweise dieses Reformprozesses hat sich verändert oder muss doch umgebaut werden, das ließ sich so nicht halten?
Höcker: Also, es ließ sich schon halten, dass wir gucken, wie wir mit den uns anvertrauten Ressourcen möglichst effektiv das Evangelium zu verkünden haben. Das, würde ich sagen, ist der Leitsatz, nach dem wir die Reform ausrichten müssen. Aber das bedeutet nicht, dass wir alle Bereiche der Ökonomie unterwerfen können. Denn im Umgang mit Menschen können Sie das nicht tun. Und man hat in der ersten Euphorie gedacht, dass wir das auch noch schaffen, es geht aber nicht. Sie können in der Seelsorge oder im Gottesdienst nicht wesentlich ökonomische Kategorien anwenden. Aber in anderen Bereichen schon.
Dietrich: Die evangelische Kirche befragt ja regelmäßig ihre Mitglieder und fragt, was die so von der Kirche halten, wie sie zur Kirche stehen, befragt auch die Nichtmitglieder, und hat jetzt gerade jüngst die neusten Ergebnisse vorgelegt mit dem Ergebnis – ich würde es mal so zusammenfassen –, die Engagierten sind noch engagierter, die Gleichgültigen sind noch gleichgültiger. Wir würden Sie diese Ergebnisse vor dem Hintergrund des Reformprozesses interpretieren?
Höcker: Also, ich finde, dass sie sehr gut zusammenpassen. Denn sowohl die Reform als auch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt, dass es einen Ruf zur Entscheidung gibt. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir mitmachen, wollen wir nicht mitmachen? Wir müssen uns entscheiden, wollen wir uns am Auftrag der Kirche orientieren oder gemütlich miteinander soscheln. Immer ruft es zu Profil und Entscheidung auf, das ist ja auch das Wesen des Christentums. Das ist ja auf Dauer nichts für lau. Es ruft immer zur klaren Positionierung und polarisiert deshalb auch.
Dietrich: Eine andere These ist ja, dass es entscheidend ist, ob man überhaupt Kontakt zu einem Pfarrer oder einer Pfarrerin hat. Nun ist es ein zentraler Aspekt der Reform, Aufgaben zu konzentrieren, also gerade nicht mehr in jeder Gemeinde alles zu haben, nicht mehr überall jemanden zu haben. Wie passt das denn zusammen oder wie geht man damit um als jemand, der dafür zuständig ist, wie die Pfarrstellen im Kirchenkreis verteilt werden?
Höcker: Ja, das ist ja genau das Ziel, dass wir die Pfarrerinnen und Pfarrer, die primär als Kontaktpersonen wahrgenommen werden, genau für diese Arbeit auch freistellen und sie nicht mit Dingen beschäftigen, die sie a) nicht gelernt haben und b) wofür sie zu teuer sind und c) was sie gar nicht machen sollen. Denn, sage ich mal, das Negativbeispiel ist: Die Pfarrperson macht den Dienst des Kirchwartes und den Abendmahlsgottesdienst leitet aber der Prädikant, weil man für die Aufgaben des Pfarrers jemand gefunden hat, aber für den Kirchdienst nicht. Das kann es doch nicht sein, sondern die Kirchenreform hat auch das Ziel, dass erkennbare Kontaktpersonen für die evangelische Kirche sichtbar und ansprechbar sind. Und dazu müssen wir auch entsprechende Strukturen schaffen. Und da ist eine Möglichkeit, in kirchlichen Orten zu denken und nicht mehr in Kirchengemeinden.
Dietrich: Ist das nicht eher ein Konzept für die Stadt als für das Land?
Höcker: Ja, ich glaube, Stadt und Land haben völlig unterschiedliche Konzepte. Sie folgen auch in der Theologie einem anderen Referenzrahmen, und das wird noch viel zu wenig reflektiert. Ich glaube, dass in der Stadt die kirchliche Arbeit wirklich anders aussehen muss als auf dem Land.
"Das Christentum ist eine städtische Religion"
Dietrich: Und wie bringt man das dann zusammen? Also, wer entwirft dann das Konzept fürs Land? Weil, wenn ich den Reformprozess so richtig verstehe, ist das einer, der eben im städtischen Rahmen viel besser oder viel leichter funktioniert.
Höcker: Also, das Christentum ist von früh an in den Städten entstanden und niemals auf dem Land. Das Christentum ist eine städtische Religion. Und sie hat sich von ihren frühesten Quellen an immer auch nur in Städten verbreitet, in Rom, Korinth, und bedenken Sie, wo Paulus hingegangen ist, der ist nicht aufs Land gegangen, der ist immer nur in die Städte gegangen. Und das Land muss andere Konzepte erarbeiten. Das können Sie aber nicht den Superintendent von der Mitte der Hauptstadt fragen, sondern da müssen Sie die Kolleginnen und Kollegen fragen, die ganz hervorragende Arbeit auf dem Land leisten. Aber die können nicht die Konzeptionen der Stadt kopieren, so wie wir nicht die Konzeption des Landes kopieren können, sondern wir müssen immer gucken, wie sieht der Auftrag der Kirche in unserem Kontext aus?
Dietrich: Das heißt, die klassische Gemeinde mit dem klassischen Pfarrer, das ist definitiv das Modell der Vergangenheit?
Höcker: Aus meiner Sicht ist es das. Weil eine einzelne Kirchengemeinde, das, was ursprünglich eine Kirchengemeinde sein soll, gar nicht mehr der gesamten Fülle, die der Auftrag beinhaltet, vorhalten kann. Das geht nur in Formen der Zusammenarbeit, dass wir in einer Region dieses Angebot vorhalten oder auf anderen Ebenen, und wir immer schauen, auf welcher Ebene wird der kirchliche Auftrag am angemessensten erfüllt.
Dietrich: Wie man mit dem Ärger über immer größer werdende Kirchenkreise auf dem Land umgeht, das ist ein Thema der Workshops in der nächsten Woche, ein anderes Thema ist aber auch zum Beispiel, was man von den Dinosauriern und ihrem Aussterben als Kirche lernen kann, komplett mit Evolutionsbiologen. Worauf freuen Sie sich denn am meisten?
Höcker: Ich freue mich darauf, ich gehe da nicht hin, ich gehe zu einem Angebot, wo wir den Fragen nachgehen, wir bieten etwas an und keiner kommt. Was hat das für Konsequenzen? – Da bin ich ganz gespannt, denn das ist eine sehr städtische Frage.
Dietrich: Wohin steuert die Reform der Evangelischen Kirche in Deutschland? Ich sprach mit Bertold Höcker, Superintendent des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte und in der nächsten Woche einer von ungefähr 800 Teilnehmern des Zukunftsforums der Evangelischen Kirche im Ruhrgebiet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.