Die Orthodoxie streitet über die Kirche in der Ukraine
Das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel hat die orthodoxe Kirche der Ukraine als von Moskau unabhängig anerkannt. Nun droht Moskau, den Kontakt abzubrechen. Dazu befragen wir Thomas Bremer, Professor für Ostkirchenkunde in Münster.
Kirsten Dietrich: Die orthodoxen Kirchen streiten sich über die Ukraine. Das klingt erstmal weit weg, ist aber näher als man vielleicht denkt. Ungefähr zwei Millionen orthodoxe Christen leben auch in Deutschland, die drittgrößte christliche Gemeinschaft nach Katholiken und Protestanten. In Osteuropa stellen die Orthodoxen die Mehrheit. Die Kirchen sind meist national organisiert, und sie sind oft eng mit der politischen Führung verbunden. Deswegen ist es keine Randnotiz, wenn die Führung der russisch-orthodoxen Kirche in der letzten Woche verkündete, man breche den Kontakt ab zu den Kirchen, die sich zum Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel zählen – denn Konstantinopel habe in der Ukraine eine orthodoxe Kirche anerkannt, die sich von Moskau unabhängig macht. Moskau und Konstantinopel – das sind die beiden zentralen Pole in der Welt der Orthodoxie. Die meisten kleineren Kirchen ordnen sich entweder Moskau oder Konstantinopel zu. Was bedeutet das, wenn die beiden großen Player sich über die Ukraine streiten, welche Motive stehen dahinter? Darüber habe ich vor der Sendung mit Thomas Bremer gesprochen, er ist Professor für Ostkirchenkunde an der Universität Münster. Zunächst wollte ich von Thomas Bremer wissen, warum der Streit um den Status der orthodoxen Kirche in der Ukraine gerade jetzt eskaliert. Schließlich gibt es bereits einige kleinere, von Moskau unabhängige Kirchen in der Ukraine.
Zankapfel Selbständigkeit
Thomas Bremer: Also, in der Ukraine gibt es seit den 90er-Jahren drei orthodoxe Kirchen, von denen allerdings nur eine, wie man das nennt, kanonisch ist. Das heißt, nur eine wird auch von den anderen orthodoxen Kirchen in der Welt anerkannt, und die anderen beiden sind eben unkanonische Kirchen, die sich abgespalten haben und die von niemandem in der Welt anerkannt worden sind als orthodoxe Kirchen. Der Konflikt ist jetzt vor allem deswegen eskaliert, weil der ökumenische Patriarch in Konstantinopel auf Bitten politischer Kräfte vor allem, also des ukrainischen Präsidenten und des Parlaments, in Aussicht gestellt hat, dass er eine selbstständige, das nennt man in der Fachsprache: autokephale Kirche in der Ukraine gründen will. Das wäre dann die Möglichkeit für die beiden bisher noch nicht anerkannten Kirchen, sich aufzulösen und dieser neuen Kirchenstruktur, die von Konstantinopel anerkannt ist, beizutreten. Das Problem ist allerdings natürlich, dass es dann zwei orthodoxe Kirchen gäbe: die einzige bisher existierende kanonische, also offizielle Kirche und dann diese jetzt neu zu gründende Kirche.
Dietrich: Die Ukraine muss man sich ja so vorstellen, dass sie kirchlich zwischen zwei großen Blöcken steht. Einerseits ist da das Moskauer Patriarchat, also die de facto größte Gruppe innerhalb der Orthodoxie, und andererseits das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, das de facto den ersten Rang innehat, der Primus inter Pares, also der Größte unter den eigentlich nominell Gleichen. Die Ukraine steht dazwischen, so war es bisher auch in ihrer gesamten Geschichte. Also, das heißt, wenn die Kirche in der Ukraine jetzt de facto selbstständig wird, kann sie das gar nicht anders realisieren, als indem sie sich zu Konstantinopel anstelle zu Moskau schlägt?
Bremer: Zunächst würde ich gerne sagen: die Stellung von Konstantinopel ist von allen orthodoxen Kirchen anerkannt, der erste, Primus inter Pares, wie Sie gesagt haben, der erste unter Gleichen, aber der Umfang dieser ersten Position, was das konkret bedeutet, das ist umstritten. Das ist auch die Grundlage des jetzigen Streits, weil Konstantinopel für sich selber viel weitergehende Rechte beansprucht als andere Kirchen, vor allem eben Moskau, bereit sind, das zuzugeben.
Um die Ukraine wurde schon immer gestritten
Was die Situation der Ukraine, die Lage der Ukraine betrifft, ist das sehr stark historisch bedingt. Das hängt einfach damit zusammen, dass das Gebiet, in dem heute die Ukraine liegt, die Stadt Kiew, der Ort gewesen ist, von wo aus diese Region, also die ostslawischen Völker im zehnten Jahrhundert christianisiert worden sind. Sie haben das Christentum von Konstantinopel bekommen. Über viele Jahrhunderte war der Metropolit, also der Bischof von Kiew, ein zum Patriarchat von Konstantinopel gehörender Bischof. Das ist zunächst auch so geblieben, als sich durch die politischen Umstände das Schwergewicht dieses Staates nach Norden verlagert hat und später dann Moskau die Hauptstadt geworden ist. Es gibt alte Vereinbarungen zwischen Konstantinopel und Moskau, die umstritten sind, die jetzt diskutiert werden, aber die besagen, dass der Bischof von Kiew von Moskau geweiht werden solle. Das bedeutet also, die Frage, wo die Ukraine kirchlich historisch hingehört, ist immer umstritten gewesen, die Zugehörigkeit hat sich sehr oft geändert.
Ein letzter Punkt in dem Zusammenhang, den ich nennen möchte ist, dass es in der Ukraine ein sehr starkes Nationalbewusstsein gibt. Das ist in den letzten Jahren, seit dem Krieg, noch mehr gewachsen. Viele Ukrainer, die vorher vielleicht eher nationalindifferent waren, sind jetzt überzeugte Ukrainer. Das bedeutet, dass auch der Wunsch nach einer Kirche gewachsen ist, die unabhängig von Moskau ist. Die jetzige kanonische Kirche hat einen relativ hohen Grad an Selbstständigkeit, aber sie gehört zum Moskauer Patriarchat. Das Problem ist, dass der Wunsch nach Autokephalie, also kirchlicher Selbständigkeit, sehr verständlich ist und berechtigt ist, aber ich meine, die Art und Weise, wie Konstantinopel und manche Leute in der Ukraine das unternommen haben, die ist sehr, sehr schwierig, und die muss man kritisieren.
Dietrich: Das heißt, Sie sehen den Schuldigen in dem Fall auch nicht nur allein bei dem Patriarchat von Moskau, das da seinen Einfluss ausweiten möchte.
Politische Konflikte verschärfen kirchliche Spannungen
Bremer: Nein, das kann man überhaupt nicht sagen, weil das Patriarchat von Moskau in den letzten, man kann sagen: Jahrhunderten fast unbestritten die kirchliche Oberhoheit über die Ukraine gehabt hat, und das hat auch Konstantinopel anerkannt. Die Situation hat sich dadurch geändert, dass heute die Ukraine als einen selbstständigen Staat gibt, der unabhängig ist. Und sie hat sich noch mal verschärft dadurch, dass es diesen Krieg gibt in der Ukraine, hinter dem Russland steht. Das hat die Tendenzen befördert, dass man eine selbstständige Kirche haben möchte in der Ukraine. Man könnte sagen, die Moskauer Kirche hat versäumt und hat nicht verstanden, dass es diesen Wunsch nach Selbstständigkeit gibt. Man hat immer versucht, die kanonische Kirche in der Ukraine an sich selbst zu binden. Es gibt natürlich auch Menschen – das muss man auch sagen – in dieser Kirche, die wollen gerne mit Moskau zusammenbleiben, und die nächste Zeit wird zeigen, wie viele zu der neuen Kirche übertreten werden und wie viele in der alten Kirchenstruktur bleiben werden. Wenn man von Schuld oder besser von Verantwortung sprechen möchte: Die Verantwortung Konstantinopels liegt darin, diese Dinge in der Ukraine unternommen zu haben, ohne die einzige Kirche, die Konstantinopel bisher anerkannt hat, zu konsultieren und also auf politische Initiative hin dort Schritte unternommen zu haben.
Dietrich: Ist das jetzt eher ein politischer Konflikt, der den Krieg in der Ukraine um ukrainisches Territorium mit kirchlichen Mitteln weiterführt oder ist das eher ein kirchliches Ringen darum, wer eigentlich in der großen Familie der orthodoxen Kirchen das Sagen hat, Konstantinopel oder Moskau?
Ringen um die Macht zwischen Moskau und Konstantinopel
Bremer: Das Bedauerliche ist, dass man in diesem Konflikt diese beiden Ebenen kaum voneinander trennen kann. Es geht natürlich auch darum, welche Kirche wie wichtig ist und welche Möglichkeiten hat innerhalb der Orthodoxie. Das ist ein Streit, den es schon länger gibt zwischen Moskau und Konstantinopel und der sich auch schon an anderen Problemfeldern entzündet hat, jetzt nicht nur in der Ukraine. Aber dadurch, dass wir die Initiative des Präsidenten und des Parlaments haben, dass die Politik sehr stark dahintersteht, dass es so starken Druck gibt, dass es auch einen politischen Druck – muss man auch sagen – auf die kanonische Kirche gibt, dass Moskau natürlich auch politische Interessen hat, dadurch kann man die politische Ebene nicht wegdenken, die ist immer mit diesen kirchlichen Entwicklungen verbunden.
Dietrich: Was bedeutet diese Trennung denn de facto? Was bedeutet es, wenn die russisch-orthodoxe Kirche sagt, es kann keine gemeinsamen Gottesdienste mehr geben, es kann kein gemeinsames Abendmahl mehr geben? Ist das ein Bruch, der in der Praxis wirklich spürbar ist?
Bremer: Ja, das glaube ich schon. Das ist ein Bruch der Kirchengemeinschaft, und es wird man hier in Deutschland zum Beispiel auch spüren. Es gibt ja eine orthodoxe Bischofskonferenz von Deutschland, und die russische Kirche hat auch erklärt, dass sie nicht mehr in Gremien mitarbeiten wird, denen ein Vertreter von Konstantinopel vorsitzt. In Deutschland ist das der Fall. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz ist der Metropolit Augustinus, der zum Patriarchat von Konstantinopel gehört, und es ist zu erwarten, dass die russischen Bischöfe, die es gibt in Deutschland, in dieser Kommission, in der Bischofskonferenz, die Mitarbeit einstellen werden. Es hat auch Folgen, zum Beispiel für russische Gläubige, die etwa in der Türkei sind oder die auf dem Berg Athos sind, der zum Patriarchat von Konstantinopel gehört, und die jetzt dort in den orthodoxen Kirchen die Kommunion nicht mehr empfangen können. Also es ist ein Bruch der Kirchengemeinschaft zwischen Moskau und Konstantinopel.
Eine Spaltung der orthodoxen Welt droht
Dietrich: Wird das sich weiter ausweiten, steht zu befürchten, dass da wirklich eine richtige Trennung der orthodoxen Welt in zwei Hälften geben wird, die sich da gegenüberstehen?
Bremer: Das hängt stark davon ab, wie die anderen orthodoxen Kirchen reagieren. Momentan warten die ab, und soweit ich das sehen kann, unterhalten die anderen orthodoxen Kirchen, also die rumänische, die serbische, die bulgarische Kirche und so weiter, noch Beziehungen zu beiden, nämlich zu Moskau und zu Konstantinopel. Wenn es so sein wird, dass sich diese Kirchen oder ein großer Teil dieser Kirchen eindeutig auf eine Seite stellt und gegen die andere, dann wird es zu einem Schisma in der Orthodoxie kommen. Wenn es den anderen orthodoxen Kirchen gelingt, die Einheit sozusagen mit beiden Kirchen zu erstreiten, dann wird man das vielleicht in Grenzen halten können.
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