Berliner "Halle-Luja" als Anlaufstelle
Gut die Hälfte der Obdachlosen in der Hauptstadt stammt aus Ost- und Mittelosteuropa. Auf der Suche nach einem besseren Leben in Berlin landen sie auf der Straße: Wo sich auch kirchliche Organisationen um sie kümmern – und außerdem der Politik ins Gewissen reden.
Berlin, an einem grauen Wintertag: Vor dem Hauptbahnhof stehen drei junge Roma und versuchen, den Reisenden, die meist schnell an ihnen vorbeigehen, eine Obdachlosen-Zeitung zu verkaufen. Rund 20 Euro verdienen sie am Tag, erzählen sie, das sei mehr als in ihrer Heimat in Rumänien. Doch eigentlich suchen sie Arbeit, erklärt einer:
"Ist egal welche Arbeit, ich arbeite in Baustelle, Restaurant, Hotel, ich hab kein Problem, aber keine Papiere, keine Anmeldung, ich hab kein Anmeldung, sagen: ohne Anmeldung nicht geben Arbeit."
Armutsmigration in Europa
Michael Danner kennt diese Geschichten. Der Sozialarbeiter bei der "Mobilen Anlaufstelle für europäische Wanderarbeiter" des Berliner Caritas-Verbandes stattet den Roma regelmäßige Besuche ab:
"Auch das ist Europa, nicht nur die Erweiterung, dass wir alle Reisefreiheit haben, dass Deutschland ein Budget-Überschuss hat, das sicher auch ein Stück weit damit erwirtschaftet wird, dass wir viele ausländische Hilfsarbeiter haben, die das alles hier mit aufbauen. Was am unteren Ende rauskommt sind wirklich Armutsmigranten, die zu Hause keine Perspektive finden und hier zumindest eine Hoffnung haben auf ein bisschen ein besseres Überleben, auch wenn es nach meinen Wert-Maßstäben nicht menschenwürdig ist."
Auch die Situation vor der Wärmelufthalle am S-Bahnhof Frankfurter Allee wirkt nicht sehr menschenwürdig. Die von der Stadtmission betriebene Notunterkunft für Obdachlose, die meist nur "Halle-Luja" genannt wird, öffnet um 21 Uhr, doch schon zwei Stunden früher stehen hier die ersten, um einen der begehrten hundert Übernachtungsplätze zu bekommen.
Es ist kalt, viele der Männer sind angetrunken und es kommt immer wieder zu Rangeleien, sagt Stas, einer der beiden Security-Mitarbeiter:
"Mir ist das hier sehr aufgefallen, dass die Leute untereinander Gruppen haben. Jede Nationalität hat ihre eigene Gruppe und das ist hier das Gefährliche, denk ich mal, weil die Polen sind gegen die Südländer, die Südländer sind gegen die Russen und die Deutschen sind für sich allein, sag ich mal so, gibt's ja auch relativ wenige hier."
Beratungsangebote in der Muttersprache
Während sich manche nach dem Essen sofort in ihr Doppelstockbett zurückziehen, nutzen andere die Gelegenheit für eine Beratung. Viele freuen sich, wenn ihnen ein Ansprechpartner gegenüber sitzt, mit dem sie in ihrer Muttersprache reden können, erklärt Petra Schwaiger.
Die Sozialarbeiterin leitet das Projekt "Frostschutzengel", das im Auftrag von Diakonie und Caritas Obdachlose aus Polen, Rumänien und anderen Ländern der EU berät.
"Unsere Klientinnen und Klienten, die waren nicht obdachlos in ihrem Heimatland, also das ist jetzt keine Migration von wohnungslosen Menschen, sondern die Menschen kommen hierher mit dem Ziel zur Arbeitssuche, scheitern dann an Barrieren, und werden deshalb obdachlos. Das heißt, die Ursache ist der fehlende Zugang zu Integrationsleistungen."
Doch diesen Zugang haben Bundestag und Bundesrat erst vor gut einem Jahr eingeschränkt. Unionsbürger, die noch nicht in Deutschland gearbeitet haben, besitzen in den ersten fünf Jahren keinen Anspruch auf Sozialhilfe oder Hartz IV. Existenzsichernde Leistungen, so die damalige Bundes-Arbeitsministerin Andrea Nahles, seien im Heimatland zu beantragen.
"Opfer von Schwarzarbeit und Ausbeutung"
Dem hält die Berliner Caritas-Chefin Ulrike Kostka entgegen:
"Wir können doch nicht zusehen, dass Menschen auf der Straße verelenden, sondern es muss wirklich viel dafür getan werden, dass die Menschen auch zum Beispiel Zugang zum Arbeitsmarkt finden, weil viele sind auch Opfer von Schwarzarbeit und Ausbeutung, und das ist nun einmal nicht innerhalb von kürzester Zeit zu erledigen, sondern es braucht eine gute Beratung und natürlich auch eine Aufklärung im Heimatland. Aber es kann nicht sein, dass dieses Problem einfach an Suppenküchen und Kirchen abgeschoben wird, sondern das ist eine europäische Frage, und da muss ich Frau Nahles auch deutlich widersprechen."
Auch der Bezirksbürgermeister von Berlin Mitte, Stephan von Dassel, wünscht sich eine europäische Lösung der Frage. In der Zwischenzeit ist seine Lösungsstrategie allerdings eine ganz andere.
Camp im Tiergarten geräumt
Nach Beschwerden von Anwohnern und Mitarbeitern des Grünflächenamtes hatte der Grünen-Politiker Ende Oktober ein Obdachlosen-Camp im Tiergarten räumen lassen und die Abschiebung osteuropäischer Obdachloser gefordert:
"Das wilde Campieren, das Zelten in Grünanlagen ist nicht zulässig, wir lassen es nicht zu. Wir wissen, dass das keine Lösung ist für die Menschen, aber wir können nicht als Ordnungsamt, als Grünflächenamt so lange warten, bis sozusagen die soziale Schieflage in Europa sich beseitigt hat, und erst dann das Ordnungsrecht umsetzen."
Von Dassel musste sich für seine Politik harsche Kritik anhören, auch auf der Berliner Strategiekonferenz zum Thema Obdachlosigkeit, zu der sich Senat, Bezirke und Wohlfahrtsverbände im Januar getroffen haben. Berlin sei die Hauptstadt der Herzen, fasste Kostka die Konferenz zusammen.
Und die Leiterin der Berliner Diakonie, Barbara Eschen, ergänzte:
"Wir sagen: Allen in Berlin lebenden obdachlosen Menschen ist erst mal eine Unterkunft zu gewähren, ganz egal welchen Pass sie haben, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, auch Menschen, die eben aus anderen EU-Ländern kommen."
Begrenzte Unterbringung ist Pflicht
Grundlage dafür ist das Polizeirecht, oder in Berlin das ASOG, das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz. Es verpflichtet die Kommunen, Obdachlosen eine Unterkunft anzubieten, um Gefahr von ihrem Leben anzuwenden. Doch diese Unterbringung ist auf wenige Wochen begrenzt und umfasst keinen Anspruch auf eine dauerhafte Unterkunft, betont der Sprecher des Verwaltungsgerichtes Berlin, Stephan Groscurth:
"Wenn ich ein milderes Mittel zur Verfügung habe, nämlich zum Beispiel ein Zugfahrkarte zu kaufen oder Busfahrkarte und denjenigen, der betroffen ist, mit Proviant zu versorgen und ihn in seine Heimat zu schicken, dann kann das im Einzelfall das richtige Mittel sein und das mildeste Mittel, um diese Gefahr abzuwehren. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass man herkommt und dass der Staat sagt, wir haben ja Polizeirecht und deswegen komme ich auf jeden Fall sicher unter. Das wäre zu kurz gegriffen, das ist wirklich das letzte Mittel im Einzelfall und kann die sozialhilferechtliche Seite nicht ersetzen."
Vor allem aber kann das ASOG nicht die Diskussion darüber ersetzen, welche Politik Obdachlosigkeit bekämpft und welche sie vielleicht auch fördert. Ein Camp zu dulden könne unerwünschte Folgen haben, so Stephan von Dassel:
"Wir müssen immer wissen, dass diese Toleranz dann auch Berlin als Ort für Menschen ohne Obdach wieder attraktiv macht, und deswegen, finde ich, braucht es klare Regeln, was geht und was geht nicht, welche Hilfe haben wir und welche Hilfe gibt es nur in den Heimatländern. Das klingt immer hart, aber ich finde es ehrlicher und ich finde es eigentlich auch für die Menschen würdiger."
Plädoyer für Beratung und Klärung der Situation
"Die rechtlichen Rahmenbedingungen dürfen natürlich nicht so aussehen, dass Anreizsysteme geschaffen werden, damit Menschen kommen. Aber so einfach verlässt man auch seine Heimat nicht. Wenn sie aber dazu führen, dass sie Menschen von Leistungen so ausschließen, dass sie dann auf der Straße landen, produziert es auch jede Menge Leid und auch indirekte Kosten. Deswegen: Es darf nicht nur schwarz-weiß gedacht werden. Man muss die rechtlichen Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Menschen eine Perspektiv-Beratung bekommen, Unterbringung und dann aber auch eine Weiterleitung. Es geht nicht darum, eine Leistung auf Dauer oder so, sondern es geht um die Klärung der Situation."
Auch die Berliner Diakonie-Chefin Barbara Eschen hält eine offene Perspektiv-Beratung im Umgang mit Obdachlosen aus anderen EU-Ländern für zentral – auch wenn das Ergebnis für manche den Traum von einem besseren Leben zerstört.
"Das ist so, wir kommen in ausweglose Situationen im Einzelnen hinein, aber wir können bei vielen auch zur Klärung beitragen, sowohl was die Ansprüche als auch was die eigene Einstellung anbelangt, dass die überhaupt erst mal wissen, was sie hier erwarten können, und dass sie dann eben selber möglicherweise zu der Einsicht kommen, dass sie besser nach Hause gehen."
Doch selbst wenn ein Großteil der gescheiterten europäischen Arbeitsmigranten Berlin wieder verlassen würde, das Problem der Obdachlosigkeit wäre damit nicht gelöst. Schon heute fehlen in der Stadt Tausende bezahlbarer Wohnungen – und Berlin wächst jedes Jahr um 60.000 Menschen.