395 Stufen in die Einsamkeit
Ein Leben als Eremit? Vielen wäre das wohl zu radikal. In Linz können Menschen, die einmal alles hinter sich lassen wollen, Stille und Einsamkeit auf Zeit verbringen: in der Türmerstube des Mariendoms, 395 Stufen über der Stadt.
Aloisia Moser bittet ins Vorzimmer. Auf einen nicht einmal zwei Quadratmeter großen Windfang folgt eine zweite Tür. Dahinter ein winziger Raum, knapp drei mal drei Meter, ein schmales Bett, an der Wand, drei kleine Regalbretter für Bücher, eine in die Fensternische gemauerte Tischplatte mit einem Stuhl, eine Spüle und eine alte Doppel-Kochplatte. Hinter dem Raum: eine Toilette mit Waschbecken. Das wars. Still ist es hier oben in der kahlen Türmerstube, 68 Meter über den Dächern von Linz im Turm des Mariendoms.
"Das einzige, was ich dabei hatte, war ein Skizzenblock und ein Bleistift", sagt Aloisia Moser. Die Hochschullehrerin für Philosophie Aloisia Moser, eine schlanke, hochgewachsene Frau, hat hier oben ihre bisherige Existenz Revue passieren lassen.
Rückschau auf das eigene Leben
Moser: "Die Idee war, systematisch, themenweise, mich durch mein Leben durch zu schreiben. Ich habe mich immer hingesetzt und begonnen zu schreiben, ohne nachzudenken. Und das kam alles von selber. Da musste ich nichts mehr tun."
Zuhause hat die 44jährige Alleinerziehende ein geschäftiges Leben: Zwei Kinder, eine Vollzeit-Stelle an der katholischen Privat-Universität Linz, Haushalt, Freunde.
Moser: "Was ich hier oben machen wollte, war eher zu reflektieren, also zu schauen, wo bin ich jetzt. Naja, dann habe ich doch ein bisschen was gelesen und festgestellt, dass die ersten Eremiten und Eremitinnen, die haben gerne die Psalmen gelesen. Und das hat mir total eingeleuchtet, dass man zu bestimmten Zeiten sich hinsetzt und einfach etwas vor sich hin betet ohne viel drüber nachzudenken, damit man in eine meditative Stimmung kommt.
Psalmen strukturieren den Tag
Ich habe mir dann die Psalmen in der Moses Mendelssohn-Übersetzung ausgesucht. Die sind wunderschön. Und habe dann überlegt, wie oft ich Psalmen lese und wie ich den Tag strukturiere und habe dann beschlossen, einfach um 6 Uhr morgens, 9 Uhr morgens, 12 Uhr morgens, 3 Uhr nachmittags, 6 Uhr nachmittags, 9 Uhr abends, das waren die Psalmen-Lesezeiten. Und ich habe dann wirklich eine Dreiviertelstunde meditativ gelesen und habe dann jeweils zwei weitere Stunden zur Verfügung gehabt."
Die wenigen Bücher, die in der Türmerstube ausliegen, ließ sie entfernen. Sie wollte ganz für sich sein. Angst vor der Stille hatte sie nicht. Den Seelsorger, den die Kirche zur Begleitung anbietet, hat sie abbestellt.
Moser: "Ich bin jede Stunde rausgegangen und einmal rundherum am Geländer, und ich muss dann natürlich auch essen. Das war die Viertelstunde. Und in der zweiten Stunde habe ich beschlossen, nichts zu machen, also gar nichts. Dann bin ich immer hier auf dem Bett gesessen und habe beim Fenster rausgeschaut und selbst das war manchmal zu viel. Am Anfang bin ich immer eingeschlafen. Also diesen Luxus zu haben, immer 45 Minuten lang da zu sitzen und nichts, also auch nichts zu denken, das ist ganz schwierig."
Acht Tage im Turm mit Vollpension
Für Aloisia Moser war es wichtig, ihre stille Zeit im Turm zu strukturieren: "Wir haben ja nicht mehr diese Tätigkeiten, die Sinn erzeugen. Und ich glaube, Sinn erzeugen ist das Schwierigste. Natürlich, wenn man sich eine Woche lang in die Isolation begibt und man erzeugt sich keine Strukturen, die diesen Sinn möglich machen, dann kann es passieren, dass man abrutscht."
250 Menschen haben seit Beginn des Angebots vor zehn Jahren je acht Tage in der Türmerstube des Linzer Doms verbracht. Sie müssen sich bewerben und zahlen für die acht Tage im Turm 675 Euro inklusive Vollpension. Sibylle Trawöger von der Diözese Linz hat viele von ihnen kennen gelernt.
Trawöger: "Altersmäßig gibt es eine ganz große Bandbreite zwischen, also 86 war die älteste Person und 18 Jahre die jüngste Person und die meisten sind um die 50. Da ist auch im Motivationsschreiben dargelegt der Wunsch, einmal zurück zu schauen aufs Leben und daraus resultierend sich ein bisschen zu sammeln und dann wieder nach vorne zu schauen, wie man das Leben weiter ausrichten möchte."
Von Nichts kommt was
Die meisten wollen während ihrer Auszeit unterm Kirchturm zur Ruhe kommen, beten, meditieren oder ihr Leben reflektieren. Manche sind Künstler auf der Suche nach Inspiration, andere wollen Gott näher kommen.
Trawöger: "Dieses Einlassen auf sich selbst, das ist natürlich herausfordernd. Schon Wüstenväter und Wüstenmütter im Anfang des Christentums ziehen sich in die Wüste zurück, nicht nur aufgrund von Erholungszwecken, sondern um sich wirklich mit sich selbst zu beschäftigen. Gerade Trauererfahrungen, die brechen natürlich in gewisser Art und Weise wieder auf. Da wirklich auch behutsam damit umzugehen, darauf lenken wir den Blick im Vorfeld."
Fast alle Eremiten auf Zeit haben ihre Woche bis zum Schluss durchgehalten. Nur zwei mussten aus familiären Gründen abbrechen. Die meisten kommen nach den acht Tagen erholt und begeistert aus ihrer selbstgewählten Einsamkeit zurück.
Auch Aloisia Moser hat ihre Woche als Eremitin über den Dächern von Linz als großes Geschenk erlebt: "Dass der wirkliche Sinn, das wirkliche Nachdenken und das richtige in sich Gehen vom Nichts kommt - aber das ist, glaube ich, schwierig."