"Für viele von uns fühlt sich der Alltag wie ein Überlebenstraining an", sagt der Autor Daniel Schreiber. "Da ist schlicht kein Raum für Visionen, wie wir unser Leben gestalten wollen."
Ein Weg zu leben und für sich selbst die Frage zu beantworten, wie man leben wolle, bestehe genau darin, sich diesen Raum zu schaffen, glaubt er.
"Das muss ein Raum des Künstlerischen sein, wie ihn Joseph Beuys und Katharina Grosse beschreiben. Das heißt nicht, dass man soziale Plastiken oder gigantische abstrakte Gemälde herstellen muss. Es reicht schon, einen Raum sehr Selbstbegegnung zu schaffen. Auch das Gärtnern, das Stricken oder das Yoga sind alles auf ihrer Weise kreative Tätigkeiten, in denen man sich selbst anders erlebt und mit denen man sich selbst repariert."
Daniel Schreiber
"Aus einem sicheren Ort heraus, aus einem Ort der Liebe, kann man auch Angst oder Schmerz und Trauer bewältigen, wenn man eine ehrliche Umgebung hat", sagt die Fotografin Kirsten Becken. Diese hätten ihr ihre Eltern immer gegeben.
Auf dieser Basis ist der 39-Jährigen etwas fast Erstaunliches gelungen: Mit dem Projekt "Ihre Geister sehen", das erst die Form eines Buchs, dann eines Kunstfilms und schließlich eines Hörspiels annahm – mit Sandra Hüller in der Hauptrolle und einem Text von Rabea Edel – transformierte sie ihr eigenes Familiensystem aus drei Generationen.
Sie deckte auf, dass hinter den psychotischen Schüben und dem Suizidversuch ihrer Mutter, der Missbrauch durch deren Vater, Beckens Großvater, steckte. Darüber war nie gesprochen, die Mutter stattdessen mit Medikamenten ruhig gestellt worden.
Tief gehende Transformationen
In der sechsten Folge von "Kreativ bleiben" geben uns Becken und Schreiber einen Einblick, wie sie ihre sehr unterschiedlichen, aber jeweils sehr tief gehenden Transformationen erlebt haben.
Becken berichtet, was ihr in der vierten Welle wirklich hilft, wie sie ihrem Sohn die Sprache der Freiheit und Kunst beibringt – genauso wie ihr Vater es mir ihr getan hat – und warum das Leben in Kleve am Niederrhein vielleicht viel freier und erfüllter ist, als in – sagen wir mal – Berlin.
Genau da, in Berlin-Neukölln, hat Daniel Schreiber nach langem Suchen schließlich sein Zuhause gefunden. Er erzählt, warum er sich von großen, aber unrealistischen Träumen verabschieden musste und was gegen das Alleinsein hilft – nämlich gärtnern, wandern, Yoga üben und stricken.
Bücher als Erfahrungsraum
"Geschichten halten uns am Leben", da stimmt Schreiber der Essayistin Joan Didion zu. "Aber wenn wir merken, dass diese Geschichten von mir und von mir in der Welt nicht mehr passen und wir immer wieder gegen Mauern laufen oder vielleicht auch verzweifelt sind, es ist wichtig, neue Geschichten zu finden. Das ist oft ein sehr schmerzhafter Prozess."
Aber wenn wir das nicht täten, passiere was Joans jüngere Kollegin Maggie Nelson beschreibe: Die Geschichten, die wir uns erzählten, würden zu Gefängnissen. Schreibers Bücher "Nüchtern", "Zuhause", "Allein" dokumentieren nicht nur seinen persönlichen Befreiungsschlag zu neuen Geschichten über sich selbst: "Ich möchte einen Erfahrungsraum für Lesende schaffen, in denen sie sich begegnen können und sich selbst die großen Fragen des Lebens stellen."
"Nüchtern zu werden, war ein wirklich großes Ereignis in meinem Leben und in meinem Schreiben. Erst danach habe ich mich fragen können, wo ich zu Hause sein kann. Erst danach war es möglich, darüber nachzudenken, ob ich auch allein, ohne romantische Beziehung ein erfülltes Leben führen kann", erzählt Schreiber.
Daniel Schreiber
"Das Loslassen von unrealistischen Träumen gehört zu den schwersten Dingen im Leben", so der Autor. "Für viele sind das Vorstellungen von Zweisamkeit und von Familienglück."
Man betrauere einerseits die Vorstellung an sich, andererseits die Vorstellung von sich selbst in dieser Lebenssituation. "Viele Menschen versuchen, das Alleinsein durch Leistung auszugleichen, weil sie glauben, sie müssten 'etwas aus sich machen', um liebenswert zu sein." Das werde Kindern schon von klein auf so beigebracht.
Die US-amerikanischen Philosophin Lauren Berlant nenne dieses Festhalten an unrealistischen Lebensträumen „grausamer Optimismus“, den man sich selbst antue. Aber das sei nichts Pathologisches, sondern eine adäquate Reaktion auf unsere Gesellschaft. Denn: „Hingucken ist ein sehr radikaler Akt, den wir persönlich, aber auch als Gesellschaft immer vermeiden, weil es so schmerzhaft sein kann.“
Schönheit kann Trost spenden
Eine Erkenntnis habe Schreiber während der Pandemie mitgekommen: "Schönheit kann Trost spenden. Das heißt nicht, dass alles perfekt designt sein muss. Schönheit kann ein Kunstwerk sein, ein gutes Buch, ein Garten oder ein gutes Gespräch mit Freunden. In Schönheit kommt man einer bestimmten Form von Spiritualität in Kontakt."
Für die vierte Welle hat sich Schreiber vorgenommen, die Dinge umzusetzen, die er in der zweiten und dritten gelernt hat: Yoga zu machen, Zeit in der Natur zu verbringen, Wandertage, die er sich vorgenommen hat, nicht abzusagen und weiterhin für Freunde und Bekannte und deren Nachwuchs zu stricken.
Das höre sich so simpel an. "Aber was häufig passiert ist, dass wir so von dem schockiert sind, was passiert, dass man in eine Starre gerate und die Techniken der Selbstfürsorge und der Selbstreparatur vergisst, die man gelernt hat."
Etwas Besseres kann nicht passieren
„Die größte Transformation ist eigentlich, dass ich gelernt habe, einfach zu sein. Mit den schwierigen Momenten genauso wie mit den schönen“, sagt
Katrin Hahner. Auch die Musikerin und Künstlerin
hat das Nüchternwerden als tiefen Einschnitt erfahren, der zwar nicht einfach war, aber ihr Leben und ihre Kunst auf vielen Ebenen verbesserte.
"Ich bin sensibler und mutiger geworden, das geht ja miteinander einher. Mein Wahrnehmungsspektrum hat sich erweitert. Etwas Besseres kann einer Künstlerin nicht passieren", sagt Hahner. Außerdem sehe sie ihre künstlerische Praxis nun viel mehr als Beitrag zu einem kollektiven Prozess.
Der Wahrheit ins Gesicht sehen
"Verletzlichkeit und eine bestimmte Form von Hoffnung, die auch in Bildern transportiert werden kann“, sei der Schlüssel zu ihrer künstlerischen Arbeit. Den Missbrauch in ihrer Familie aufzuklären, hat Kirsten Becken nicht als Reise in die Dunkelheit, sondern eher als Weg in die Klarheit erlebt. In ihren Zeichnungen hatte die Mutter, die selbst Künstlerin ist, Spuren zum Familiengeheimnis gelegt, denen Becken nach und nach folgte. Den Schlüssel dazu habe sie von ihrem Vater bekommen. „Er hat mir die Sprache der Kunst beigebracht.“
„Ich bin geworden, was ich immer schon war“, sagt Becken über den Transformationsprozess, den ihre Kunst in ihrer Familie angestoßen hat. „Aber bei meiner Mutter ist es, als wäre ein Schalter umgelegt worden.“ Der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, sei eine große Befreiung.
Hörspiel über Trauma
Ihre Geister sehen
So strahlen die Frauen, die Becken heute fotografiert, eine besondere Klarheit und Stärke aus. "Frauen, die im Reinen mit sich selbst sind, haben für mich ihr eigenes Mysterium." Ein Frauenbild, das zwar immer ihres, aber noch nicht das der gesamten Gesellschaft gewesen sei.
Die Erfahrungen, von denen Becken, Schreiber und Hahner berichten, ermutigen uns zu, dem Rat der Essayistin Rebecca Solnit zu folgen: "Lass die Tür zum Unbekannten offen, die Tür ins Dunkle. Das ist der Ort, wo die wichtigsten Dinge herkommen, wo Du selbst her gekommen bis und wohin Du gehst."
Daniel Schreiber: "Allein"
Hanser, Berlin 2021
160 Seiten, 20 Euro
Daniel Schreiber: "Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen"
Hanser, Berlin 2017
144 Seiten, 18 Euro
Daniel Schreiber: "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück"
Hanser, Berlin 2014
160 Seiten, 16,90 Euro
Kirsten Becken: "Seeing Her Ghosts"
Mit Beiträgen von Siri Hustvedt, Andrew Solomon oder Bessel van der Kolk u.a.
VfmK Verlag für moderne Kunst, Wien 2017
84 Seiten, 30 Euro.