Kirsty Bell: "Gezeiten der Stadt. Eine Geschichte Berlins"
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff
Kanon Verlag, Berlin 2021
333 Seiten, 28 Euro
Kirsty Bell: "Gezeiten der Stadt"
Mit Spannung folgt man Kristy Bell auf der Spur eines sich ausbreitenden Wasserflecks, der den Weg in immer neue Hinter- und Untergründe weist. © Deutschlandradio / Kanon Verlag
Berlin ist vom Kahn aus gebaut
05:50 Minuten
Auf schwankendem Boden steht Berlin. Die britische Kunstkritikerin Kirsty Bell folgt der Spur seiner Wasseradern in ihrer anregenden Stadtgeschichte.
Im Jahr 2021 eine Geschichte Berlins vorzulegen erfordert Mut. Erschlagend sind die Regalmeter allein der Nachwendeproduktion zum Thema, vom eilig hingeworfenen Essay bis hin zum 1000-seitigen Grundlagenwerk. Hätten Sie aber zum Beispiel gewusst, dass die Spree mit neun Kubikmetern pro Sekunde eine außerordentlich niedrige Fließgeschwindigkeit aufweist? Dass sie sich bei Erreichen der Stadtgrenze mit nur vier Kubikmetern sogar gefährlich dem Stillstand nähert?
Details wie dieses haben den Vorrang in Kirsty Bells Recherchen zur Entwicklung einer Stadt, der oft genug eine gewisse Antriebslosigkeit nachgesagt wurde. Ihre Diagnose: Kein Wunder bei dem Untergrund, etwas zieht einen ständig hinab.
Es ist die Kehrseite des viel beschworenen High-Energy-Berlin, die in "Gezeiten der Stadt" ins Zentrum rückt, vom Sumpfgebiet, dem das Häusermeer abgetrotzt ist, bis hin zu den Wasseradern, die es bis heute durchziehen. Berlin sei vom Kahn aus gebaut, lautet ein lokales Bonmot. In diesem Sinne ist das Wasser hier Gegenstand und Pate des Schreibens zugleich.
Bilder und Nachbilder
Im Wasser spiegelt sich die Silhouette der Passanten. Im Wasser kehrt aber auch das Verdrängte wieder. Wer beim Spazierengehen lange genug auf das Oberflächengekräusel des Landwehrkanals schaut, kann dort noch immer das Nachbild der Wasserleichen aus Kriegs- und Revolutionszeiten erkennen.
Und wer in dieser Stadt einmal zu graben beginnt, ist vor Überraschungen generell nicht sicher. Bell, gebürtige Britin und seit zwei Jahrzehnten in Berlin zu Hause, trägt aber auch ihre eigene Geschichte ins Adergeflecht der Stadt ein. Nach einer Trennung sucht sie Schutz in ihrer Wohnung am Tempelhofer Ufer. Wo sich bald schon Zeichen an der Wand zeigen.
Mit Spannung folgt man der Autorin auf der Spur eines sich ausbreitenden Wasserflecks, der den Weg in immer neue Hinter- und Untergründe weist. Mal führt er hinaus auf die Straße, mal ins Kopfinnere, mal in die stickige Luft der Archive und von dort wieder zurück zu dem Haus, in dem Bell schreibend den Schicksalen ihrer Bewohner nachsinnt.
Wie mag es gewesen sein, in einer der beengten Mädchenkammern zu hausen? Was hat es mit der Besitzerfamilie auf sich, deren letzte Vertreterin vor Kurzem noch im Seitenflügel residierte? Ein Gesamtbild Berlins ergibt sich so nicht, wohl aber ein Prisma, in dem das Private mit dem Politischen wechselnde, oft überraschende Konstellationen eingeht.
Blick einer Zugewanderten
Im Erforschen ihres sozialen Nahbereichs erinnert Bells wunderbar tiefsinniges Buch an Pascal Hugues' "Ruhige Straße in guter Wohnlage": Hier wie dort ist es der Blick einer Zugewanderten, der neue Schichten im Gesamtbild freilegt. Einsichten in Sümpfe und Gezeitenströme verdankt es auch Klaus Theweleits "Männerphantasien".
Der große Gewährsmann aber ist Walter Benjamin. Wie Benjamins Denkbildern liegt der Erzählung das Wissen zugrunde, dass im Fragment mehr Bedeutung steckt als im Anschein des großen Ganzen. Die Spuren der Vergangenheit sind überall. Man muss sie nur zu lesen wissen.