Meister des Marketings
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In Leipzig hat die Hardrock-Band Kiss das erste Deutschland-Konzert ihrer Abschiedstour absolviert. "Diese Band hat verstanden, dass sie sich dann am besten verkauft, wenn sie sich möglichst wenig verändert", sagt unser Kritiker.
Mascha Drost: Vier geschminkte Musiker auf Plateausohlen, straighter Hard-Rock und jede Menge Pyrotechnik - die amerikanische Band "Kiss" passt eher auf einen Jahrmarkt als in die Musikwelt von heute. Derzeit ist sie auf weltweiter Abschiedstour.
So eine Abschiedstour muss kein Abschied sein, das haben schon viele andere Bands bewiesen, sicherheitshalber ist mein Kollege Dirk Schneider aber nach Leipzig gefahren, um diese Band seiner Kindheit wenigstens einmal gesehen zu haben. Mit welcher Erwartung sind Sie gestern nach Leipzig gefahren?
Dirk Schneider: Das hatte natürlich etwas Nostalgisches, tatsächlich war die erste Schallplatte, die ich mir als Kind gekauft habe, von Kiss, es war das berühmte Live-Album "Alive", das muss irgendwann Ende der Siebzigerjahre gewesen sein, als diese Band ihre Hochzeit hatte.
Und mir war natürlich klar, dass ein Abend mit Kiss aus der Zeit gefallen sein muss, wie Sie sagen, das ist wie ein Jahrmarktbesuch, wie eine Fahrt in der Geisterbahn, nur etwas lauter, aber mit Monstern, Kunstblut und Knalleffekten. Aber es hat mich auch interessiert, diese Band einmal selbst zu erleben, die es wie kaum eine andere geschafft hat, sich zu einer Marke zu machen.
Zum Konzert-Ritual gehört die immer gleiche Ankündigung: "Ihr wolltet das Beste – Ihr habt das Beste bekommen: Kiss, die härteste Band der Welt" – ein Werbeslogan, der aus den 80er-Jahren stammt und die Band bewirbt wie ein Waschmittel, das die hartnäckigsten Flecken beseitigt und den Kunden, die Kundin garantiert zufrieden stellt.
Man bekommt, was auf der Packung steht
Mascha Drost: Und wurde das Versprechen gestern in Leipzig auch eingehalten?
Dirk Schneider: Ich habe auf jeden Fall bekommen, was auf der Packung abgebildet war: Immerhin zwei Urmitglieder, Gene Simmons, der als Chaim Witz in Israel geboren wurde und als Mastermind hinter der Firma Kiss gilt, er tritt als The Demon auf der Bühne auf, als Fledermaus geschminkt, auf hohen Plateusohlen mit stachelbewehrter Rüstung und Ninja-Dutt auf dem Kopf, und Paul Stanley, bürgerlich Stanley Bert Eisen, auch er Sohn aus Deutschland geflohener Juden, und bei Kiss als Starchild mit weiß geschminktem Gesicht und einem Stern über dem rechten Auge berühmt geworden.
Bessere Musiker als die beiden waren allerdings Gitarrist Tommy Thayer alias The Spaceman und Eric Singer alias The Catman am Schlagzeug, beide später zur Band hinzugekommen. Diese Konzerte laufen immer ähnlich ab, zu Beginn schweben die Musiker auf Plattformen auf die Bühne herunter und es wird jede Menge Feuerwerk gezündet, und das war übrigens das Lauteste an der ganzen Show. Dass Kiss die härteste Band der Welt seien, hat wahrscheinlich noch nie gestimmt.
Paul Stanley führt als Moderator zwischen den Songs durch den Abend, mit einer schrillen Stimme, die auch an jemanden erinnert, der auf dem Jahrmarkt die Sensationen verkauft, und immer wieder daran erinnert, dass die Show ja gerade erste begonnen hat und der nächste Höhepunkt gleich folgt und es noch lauter wird.
Animationsprogramm mit Musik
Mascha Drost: Das klingt ja wirklich sehr gestrig, nach Zirkus und Mummenschanz. Nun sind Kiss auch bekannt für ihre treue Fangemeinde, die sogenannte Kiss Army. Was fasziniert diese Leute an der Band, und wie war das Publikum gestern drauf?
Dirk Schneider: Kiss waren schon immer Meister des Marketing, über die Marke haben wir ja schon gesprochen, und dazu gehörte ein enormes Merchandising, also der Verkauf von Devotionalien, zu denen nicht nur T-Shirts und Trinkbecher gehörten, sondern zeitweise ein riesiger Katalog, vom Kiss-Kondom bis zum Kiss-Sarg.
Und auch die Fans werden generalstabsmäßig betreut, die Kiss Army ist ein organisierter Fanclub mit jährlichen Mitgliedsbeiträgen und Jahresgaben wie Aufklebern, Anhängern, exklusiven T-Shirts und vielem mehr – zumindest zeitweise haben Kiss einen Großteil ihres Umsatzes mit Fanartikeln gemacht.
Was die Fans an dieser Band finden, kann ich nicht so genau sagen, die Band steht ja für nichts außer sich selbst, wenn sie sich mal politisch äußern, dann eher konservativ. So ein Kiss-Konzert ist auf jeden Fall ein Animationsprogramm mit Paul Stanley als Animator, und das Publikum gestern hat da sehr gut mitgemacht, es waren übrigens auch viele Kinder im Saal.
Mascha Drost: Und Sie? Hat es sie auch mitgerissen?
Dirk Schneider: Nein, mitgerissen hat es mich nicht. Mich hat es aber berührt, wie liebevoll diese Band mit ihrem Publikum umgeht, das gehört aber auch zu den Erfolgsrezepten, immer wieder zu betonen: Die Fans sind alles, ohne die Fans sind wir nichts, und das stimmt natürlich auch.
Ich muss aber auch sagen, dass ich irgendwie noch mit einem Superlativ gerechnet habe, der über Feuerwerksspektakel und schwebende Bühnenplattformen hinausgeht, irgend einen ganz großen Bumms zum Abschied dieser legendären Band.
Alles kommt so wie erwartet
Aber das Geheimnis von Kiss scheint gerade darin zu bestehen, dass alles so kommt wie erwartet, auch der Moment, in dem Gene Simmons eine brennende Fackel gereicht wird und man weiß: Jetzt kommt gleich die Feuerspucknummer, und das ist nicht toll, weil es beeindruckend wäre, dass jemand auf der Bühne Feuer spuckt. Das war es vielleicht vor 40 Jahren mal. Heute ist es toll, dass man Zeuge des Klassikers wird, der zum Kiss-Konzert dazu gehört, genau wie das fünfminütige Schlagzeugsolo.
Kiss haben sich ja nach ihren ersten großen Erfolgen mehrmals versucht, neu zu erfinden, musikalisch, aber auch optisch, sie haben in den Achtzigerjahren ihre Verkleidungen abgelegt, aber was man heute sieht, das soll möglichst nah dran sein an den Anfängen, der straighte Hardrock mit den geschminkten Gesichtern – diese Band hat verstanden, dass sie sich dann am besten verkauft, wenn sie sich möglichst wenig verändert.
Und ich fand es gestern faszinierend mir vorzustellen, dass es mal Zeiten gab, allzulange ist es noch nicht her, in denen ein Abend wie dieser der Höhepunkt eines ganzen Jahres sein konnte. Auf Länge eines Abends hat mich das aber irgendwann wirklich gelangweilt. Das Einzige, das ich an dieser Band nicht verstanden habe, ist, warum sie nicht längst jüngere Männer engagiert hat, die sich genauso schminken und diese Show heute noch in Würde mit nackten Oberkörpern durchziehen können, so wie Kiss früher.
Aber das wäre dann der konsequente nächste Schritt nach der Abschiedstournee, vielleicht kommt das ja noch.