Hochzeit, Wahnsinn und Tod
Die Oper ist kitschverdächtig. Viele Komponisten wussten genau, wie sie ihr Publikum zum Schluchzen bringen. Der Größte in dieser Disziplin: Giacomo Puccini. Bei seinen Opern weiß man schon vorher, wann die Taschentücher im Zuschauerraum rascheln.
Vom süßen Mädchen singt der Tenor am Ende des ersten Akts von Puccinis "La Bohème". Der erfahrene Operngänger weiß natürlich schon, dass sie den vierten Akt nicht überleben wird.
Schwindsucht. Bis dahin singen die beiden aber noch eine Menge und im Zuschauerraum fließen viele Tränen. Garantiert. Bei Puccini kann man schon vorher die Stellen in der Partitur anstreichen, an denen die Taschentücher rascheln.
Eine Kunstform unter Verdacht
Der Tenor muss hoch zum C, oder was man dafür hält, manchmal ist es auch nur das viel bequemere A, und die Geigen schluchzen dieselbe Melodie. Alle.
Wenn es ganz dicke kommt, auch sämtliche anderen Streicher - und wer im Orchester sonst nichts zu tun hat, darf demütig die Harmonien auffüllen. Puccini ist zweifellos der versierteste Spieler mit den Gefühlen seines Publikums. Er gewinnt immer.
Die Oper steht als Kunstform ohnehin unter Kitschverdacht. Auch andere Komponisten greifen gerne in die harmonische Trickkiste und schrecken selbst vor simpelsten Effekten nicht zurück.
Da ist als offensichtlichstes Beispiel die Rückung: Während ein Richard Wagner sich immer bemüht, möglichst elegant zwischen den Tonarten zu wechseln, schaltet Puccini gleich ohne Kupplung vom ersten in den vierten Gang. Das knirscht dann vernehmlich, ist unter Musikern eher verpönt, wirkt aber immer. Natürlich steht er damit nicht allein, auch Andrew Lloyd Webber oder Leonard Bernstein nutzen die Rückung oft und gerne.
Liebe endet meist tödlich
Die richtig kitschige Liebe endet in der Oper meistens tödlich. Das gibt den wohligen Schauer im Zuschauerraum: Uns geht es doch vergleichsweise gut, jedenfalls leben wir noch und wir wissen nicht, wie es für uns weitergeht. In der Oper sind die dramaturgischen Optionen hingegen überschaubar, nämlich Hochzeit, Wahnsinn und Tod.
Hochzeit ist klar, alles gut, alle glücklich. Tod ist auch klar, wie bei Mimì aus Puccinis "La Bohème": Alles könnte so schön sein, leider ist sie gerade gestorben, und alle sind unglücklich und weinen.
Musikalisch am ergiebigsten ist allerdings der Wahnsinn, wenn sich die Frau aus mehr oder weniger guten Gründen aus der rationalen Welt verabschiedet, aber überlebt. Darauf fußt ein ganzes Genre der italienischen Oper.
Wenn Flöte und Harfe einsetzen
Wenn Flöte und Harfe einsetzen, ist es für den Verstand der Sopranistin schon zu spät, aber ist es auch Kitsch? Bei Donizetti, wir hören gerade einen Ausschnitt aus "Lucia di Lammermoor", bestimmt nicht, denn Anfang des 19. Jahrhunderts ist der musikalische Kniff noch neu und originell. Wenn aber auch Charles Gounod Jahrzehnte später in seinem "Faust" zu Flöte und Harfe greift, handelt es sich zweifellos um ein abgenutztes Klischee.
"Gebildeten Schmus" nannte der Satiriker Kurt Tucholsky einst den Kitsch, der Musikphilosoph Theodor W. Adorno sprach von falscher Geborgenheit und dümmlichem Trost.
Gerade bei den Meisterwerken der klassischen Musik handelt es sich selten um zweifelsfrei erwiesenen Kitsch, dazu waren die bedeutenden Komponisten doch zu stilsicher. Entscheidend ist bei den Grenzgängern wie Puccini, dass die Musiker einen klaren Kopf behalten und sich nicht ungehemmt der Sentimentalität hingeben.
Tenorschluchzen und Soprangejammer
Vom effekthascherischen Tenorschluchzen und Soprangejammer oder vom süßlichen Geigenvibrato haben wir nämlich noch gar nicht geredet. Andererseits haben wir ja doch eine klitzekleine Kitschecke in unseren Herzen. Und wenn man am Schluss von "La Bohème" gar nicht weinen muss, fühlt man sich ja auch irgendwie betrogen.