Klaas Huizing: Den Zölibat abschaffen
Die Erschütterungen der katholischen Kirche durch das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle bezeichnet der evangelische Theologe Klaas Huizing als historische Möglichkeit, den Zölibat ganz abzuschaffen. Es gebe großen Reformdruck von unten.
Matthias Hanselmann: Der katholische Bischof von Basel sorgte vor 15 Jahren für großes Aufsehen: Als bekannt wurde, dass er Vater werden würde, trat Hansjörg Vogel von seinem Amt zurück. Ein Riesenskandal damals. Schließlich war er, wie auch alle anderen Priester der römisch-katholischen Kirche an den oder das Zölibat gebunden: das Versprechen der Ehelosigkeit und der Enthaltsamkeit. Gerade in der letzten Zeit sind wieder heftige Diskussionen um das Gelübde entbrannt vor dem Hintergrund der Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche.
Nicht wenige geben dem Zölibat sogar eine gewisse Mitschuld am Auftreten von Missbrauch. So umstritten diese These auch ist, so klar ist auf der anderen Seite: Auch viele Mitglieder der katholischen Kirche in den Gemeinden fordern ein Ende des Zölibats, weil sie das Verbot der Ehe bei Priestern für unzeitgemäß halten.
Wir sprechen heute mit Klaas Huizing. Er ist Professor für evangelische Theologie in Würzburg und unter anderem Autor des evangelischen Wochenmagazins "CHRISMON". Guten Tag, Herr Huizing! Sie sagen: Zölibat – nein danke! Warum genau?
Klaas Huizing: Zunächst mal: Als Protestant ist man natürlich ganz vorsichtig, das immer laut zu bekunden, aber ich denke, es gibt jetzt wirklich eine historische Chance, um den Zölibat wirklich abzuschaffen. Man muss ja zunächst erinnern, der Zölibat war – das sage ich mal ganz vorsichtig – zunächst ein wirksames Mittel, um zu verhindern, dass die Kinder damals von Priestern kirchlichen Besitz erbten, als das von Benedikt VII. 1022 eingeführt worden ist. Das war zumindest ein Hintergrund, um eine Erbschaftsregelung hinzubekommen. Wenn man das weiß, dann kann man doch sagen: Das würde durchaus die Freiheit erlauben, in dieser Frage heute anders zu entscheiden.
Hanselmann: Wir sollten an dieser Stelle mal ganz klar festhalten, dass vom Zölibat kein einziges Wort in der Bibel festgelegt ist, sondern dass das eine rein organisatorische Maßnahme der katholischen Kirche zu der Zeit war, die Sie gerade genannt haben.
Huizing: Genau so ist es. Das war zunächst etwas, was in der Tat nicht biblisch ist. Ganz einfach gesagt müssen Sie es sich so vorstellen, dass der historische Jesus in der sogenannten Naherwartung lebte, also ganz andere Vorstellungen hatte hinsichtlich dieser Frage. Das war erst ein Problem, als die Wiederkunft Christi auf sich warten ließ und man institutionell sich ganz anders aufstellen musste.
Hanselmann: Wenn Sie die Abschaffung des Zölibates gerade in der gegenwärtigen Situation, also vor dem Hintergrund der ständigen Meldungen über Pädophile oder Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, stellen – ist das nicht ein falsches Signal, indem Sie einen Zusammenhang zwischen Zölibat und diesen Vorfällen damit schaffen?
Huizing: In der Tat, da muss man sehr genau und sehr vorsichtig sein. Zunächst einmal ist vielleicht wichtig, dass man etwas versteht von der katholischen Kirche, wie sie eigentlich sich selbst versteht. Dazu muss man wissen, dass die katholische Kirche sich als sogenannte societas perfecta versteht, also nach katholischem Verständnis ist die Kirche eine einmalige Synthese aus göttlicher und menschlicher, natürlicher und – wenn Sie so wollen – übernatürlicher Wirklichkeit. In der römisch-katholischen Kirche wird zudem die Tradition des sogenannten privilegium fori, also des Priesterprivilegs, befolgt, das heißt, dass die Geweihten vom weltlichen Gerichtsstand eigentlich befreit sind und keiner Strafverfolgung durch staatliche Instanzen unterliegen dürfen. Dieses Selbstverständnis der Kirche hat vielleicht dazu geführt – und ich bin da, wie gesagt, immer in der Beurteilung doch sehr vorsichtig –, dass Menschen, die pädophiler Sucht unterliegen, glaubten, hier unter Umständen in einem geschützten Raum zu agieren, und das ist gefährlich, denke ich. Ich denke, man darf nicht einfach sagen, dass der Zölibat monokausal dafür zuständig ist. Nein, weil das gibt es in ganz anderen Bereichen, Sie wissen das, die Reformpädagogik ist doch eigentlich eher eine protestantische Erfindung, in der Odenwald-Schule. Also, da muss man sehr genau hinschauen. Aber ich denke natürlich, dass eine Form der unterdrückten Sexualität für diese Fragen unter Umständen eher attraktiv gewesen ist, dass man sich dort hineingeflüchtet hat. Und das, denke ich, müsste wirklich auch klar aufgearbeitet werden, da müsste auch ganz grundsätzlich noch einmal neu gedacht werden, und ich finde, dass die Kurie momentan wirklich die historische Chance hat und den Zölibat entweder zu lockern oder sogar ganz abzuschaffen. Eine bessere historische Chance werden sie, denke ich, in naher Zukunft nicht wieder bekommen.
Hanselmann: Nun sollten wir vielleicht kurz darüber reden, weil es gerade aktuell ist:
Der berühmte britische Atheist und Autor Richard Dawkins fordert ja, den Papst bei seinem nächsten Besuch auf den britischen Inseln festnehmen zu lassen. Haben Sie für so eine Forderung Verständnis oder sagen Sie, das ist nur eine große Medienblase?
Huizing: Also, man kann, denke ich, an dieser Frage Folgendes sich immer deutlich machen: Sie brauchen immer Sprachrohre und Institutionen, um Gedanken in die Welt zu tragen. Das trifft auch auf den Atheismus zu. In England sind es, wie gesagt, die berühmten Herren Herr Dawkins und Herr Hitchens, die das entsprechend tun. Ich würde sagen, in dieser Frage sind sie entschieden über das Ziel hinausgeschossen, weil die Frage, die hier wirklich zur Diskussion steht – dass man wirklich sagt, er hat im Grunde genommen ein wirklich hochkapitales, das höchstkapitale Verbrechen begangen –, das ist etwas, was wirklich, denke ich, mit den aktuellen Situationen wirklich nicht kompatibel ist. Das halte ich wirklich für absurd. Es ist, wenn man den Presseberichten glauben darf, in der Tat sehr klug gemacht, dass der Anwalt von Salman Rushdie dort die Feder führt. Das heißt aber noch nicht, dass das immer wirklich ganz klar und ordentlich strukturiert ist, was dort vorgeschlagen wird. Also, da denke ich doch, dass man da wirklich über die Stränge schlägt, dass man da im Grunde genommen kein Augenmaß hat.
Hanselmann: Dennoch hat ja – und das hat die katholische Kirche ja selbst veröffentlicht – der gegenwärtige Papst in seiner Eigenschaft als Chef der Glaubenskongregation jahrelang sämtliche Fälle, die bekannt geworden sind innerhalb der katholischen Kirche, über seinen Schreibtisch gehen lassen, beziehungsweise: Alles musste auf seinem Schreibtisch landen und diese Fälle wurden jahrelang nur intern behandelt, Sie haben es vorhin selbst gesagt, in der societas perfecta. Da sind wir wieder genau bei diesem Punkt: Die katholische Kirche beansprucht doch offenbar eine Art rechtsfreien Raum für sich oder einen Raum des eigenen Rechts.
Huizing: Ja, in der Tat, das ist genau das Problem. Es ist dieser Sachverhalt, den ich vorhin bereits angesprochen habe, die Tradition des privilegium fori, also des Priesterprivilegs, demzufolge die Geweihten vom weltlichen Gerichtsstand befreit sind und keiner Strafverfolgung durch staatliche Instanzen unterliegen dürfen. Ich denke, das ist ein falsches Selbstverständnis. Und offensichtlich hat es da nie eine richtige Debatte gegeben, übrigens auch nicht in der Soziologie, die eigentlich doch hier gefordert ist, einmal diese Debatte zu führen: Wie steht es eigentlich um das Verhältnis der kirchlichen Institution etwa zu staatlichen Institutionen? Ich denke, auch da haben wir jetzt eine Chance vor diesem schrecklichen Hintergrund, wirklich eine sehr grundsätzliche Debatte zu führen.
Hanselmann: Wohin sollte diese Debatte denn Ihrer Meinung nach gehen, also, wie sollten speziell katholische, römisch-katholische Kirche und Staat aufeinander zugehen, was müsste da passieren?
Huizing: Na, ich denke, zunächst einmal sollte man das nicht nur den Instanzen überlassen, die betroffen sind, sondern es sollten auch andere Instanzen wirklich zu Wort kommen, etwa in der Wissenschaft die Soziologie, und auch mit den entsprechenden juristischen Institutionen – ich glaube, da gibt es sehr viel Zündstoff und vielleicht wäre es sehr hilfreich, wenn die katholische Kirche auf das angesprochene privilegium fori doch weitgehend verzichten würde. Sie wird es unter dem Druck der aktuellen Fälle eh tun müssen, davon bin ich überzeugt, und dann ist es vielleicht immer besser, wenn die Institutionen selbst die Kraft haben, in dieser Frage wirklich zu einer neuen Einschätzung zu kommen.
Hanselmann: Bei all den Diskussionen, die man gegenwärtig verfolgen kann in Bezug auf die Missbrauchsfälle und die Pädophilie innerhalb der katholischen Kirche und den gegenwärtigen Zustand dieser katholischen Kirche frage ich mich immer: Wie ist eigentlich der Zustand dieser katholischen Kirche zurzeit, wenn man die Basis vergleicht mit der Führung, ob in Rom oder anderswo?
Huizing: Ja, das ist in der Tat ein altes Problem, dass die katholische Kirche natürlich sehr viel autoritärer strukturiert ist als natürlich eine evangelische Kirche, die von der Priesterschaft aller Gläubigen redet. Das ist einfach so. Auf der anderen Seite muss man sagen, wenn man sich die Zahlen einmal ansieht, dass in den letzten 18 Jahren aus der katholischen Kirche etwa 2,2, 2,3 Millionen ausgetreten sind, aus der evangelischen Kirche 3,8 Millionen, das heißt, die Bindekräfte in der katholischen Kirche sind sehr viel höher, das wissen wir inzwischen auch deutlich, auch entsprechend einzuschätzen. Eine Reform wird es in der Tat nur geben, wenn der Druck von unten so stark ist, dass die entscheidenden Stellen selbst auch für eine Reform sich bereit erklären. Momentan, denke ich, ist der Druck sehr groß. Es wird sicherlich in den nächsten Jahren etwas passieren. Ob der Zölibat abgeschafft wird – noch einmal, es ist eine historische Möglichkeit, es an dieser Stelle zu tun, wie ich finde, dann wäre sehr viel mehr Freiheit in der katholischen Kirche anzutreffen –, ob das wirklich passiert, da bin ich freilich skeptisch.
Hanselmann: Sie haben eben die Zahlen genannt, deswegen die letzte Frage: Wie erklären Sie sich es, dass der evangelischen Kirche mehr Schäflein weglaufen als der katholischen?
Huizing: Ja, das ist eine komplizierte Frage. Die Bindekräfte sind in der Tat anders, weil die Kirche nach protestantischem Verständnis kein Heilsinstitut ist, das heißt, Sie brauchen sie nicht unbedingt, um das persönliche Heil zu erlangen. Das heißt: Es gibt auch eine sehr große Bewegung des Protestantismus außerhalb der Kirchenmauern. Interessant ist, dass die Amtskirche sehr viel schlechter bewertet wird als andere Institutionen etwa der protestantischen und auch der katholischen Kirche – wie die Diakonie und die Caritas. Das heißt, ich finde: Ganz spannend an dieser Frage ist, dass sich die Kirche, die Amtskirche und die Theologie, also meine eigene Profession, vielleicht doch wieder stärker auf die Idee konzentrieren müssen, durch die das Christentum historisch auch gewonnen hat, nämlich durch die Idee, dass die Kirche eine Institution ist ...
Hanselmann: ... der Nächstenliebe.
Huizing: ... der Nächstenliebe, der Caritas, gewissermaßen, wo eben auch Krankheit und Tod nicht etwas ist, was man ausschließen darf, aber eben auch die Sexualität – also, das ganze Spektrum der Körperlichkeit zählt eigentlich wirklich integral zum Menschen dazu und die Kirche muss in dieser Frage wieder ein Anwalt sein. Und hinsichtlich der Sexualmoral, wenn ich das noch schnell sagen darf: Ich glaube, dass sowohl die Pädagogik, die Reformpädagogik etwa eines von Hentig sehr stark natürlich immer auf griechische Wurzeln zurückgegangen ist, ganz ähnlich übrigens auch zum Teil in der katholischen Soziallehre. Und das halte ich weiterhin für einen Fehler, denn man muss wirklich sagen: Das biblische Christentum ist ein Christentum, was sowohl die Sexualität aber eben auch die körperlichen Gebrechen ganz integral zum Menschsein dazuzählt und nicht irgendwie negativ bewertet. Und ich glaube, da muss die Kirche hin zurück, sie muss sagen: Das ist das Spezifikum, das ist ein anderes Menschenbild. Zum Menschenbild gehört wirklich ganz zentral dazu, dass es auch krank sein kann, dass es sterblich ist, aber eben auch, dass es ein Wesen ist, was extreme Lust wirklich erfährt. Und dieses ganze Konzept – das ist eigentlich etwas, was es so in der Geschichte nicht gegeben hat -, das ist das Spezifikum des Christentums, das muss man hoch schätzen.
Nicht wenige geben dem Zölibat sogar eine gewisse Mitschuld am Auftreten von Missbrauch. So umstritten diese These auch ist, so klar ist auf der anderen Seite: Auch viele Mitglieder der katholischen Kirche in den Gemeinden fordern ein Ende des Zölibats, weil sie das Verbot der Ehe bei Priestern für unzeitgemäß halten.
Wir sprechen heute mit Klaas Huizing. Er ist Professor für evangelische Theologie in Würzburg und unter anderem Autor des evangelischen Wochenmagazins "CHRISMON". Guten Tag, Herr Huizing! Sie sagen: Zölibat – nein danke! Warum genau?
Klaas Huizing: Zunächst mal: Als Protestant ist man natürlich ganz vorsichtig, das immer laut zu bekunden, aber ich denke, es gibt jetzt wirklich eine historische Chance, um den Zölibat wirklich abzuschaffen. Man muss ja zunächst erinnern, der Zölibat war – das sage ich mal ganz vorsichtig – zunächst ein wirksames Mittel, um zu verhindern, dass die Kinder damals von Priestern kirchlichen Besitz erbten, als das von Benedikt VII. 1022 eingeführt worden ist. Das war zumindest ein Hintergrund, um eine Erbschaftsregelung hinzubekommen. Wenn man das weiß, dann kann man doch sagen: Das würde durchaus die Freiheit erlauben, in dieser Frage heute anders zu entscheiden.
Hanselmann: Wir sollten an dieser Stelle mal ganz klar festhalten, dass vom Zölibat kein einziges Wort in der Bibel festgelegt ist, sondern dass das eine rein organisatorische Maßnahme der katholischen Kirche zu der Zeit war, die Sie gerade genannt haben.
Huizing: Genau so ist es. Das war zunächst etwas, was in der Tat nicht biblisch ist. Ganz einfach gesagt müssen Sie es sich so vorstellen, dass der historische Jesus in der sogenannten Naherwartung lebte, also ganz andere Vorstellungen hatte hinsichtlich dieser Frage. Das war erst ein Problem, als die Wiederkunft Christi auf sich warten ließ und man institutionell sich ganz anders aufstellen musste.
Hanselmann: Wenn Sie die Abschaffung des Zölibates gerade in der gegenwärtigen Situation, also vor dem Hintergrund der ständigen Meldungen über Pädophile oder Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, stellen – ist das nicht ein falsches Signal, indem Sie einen Zusammenhang zwischen Zölibat und diesen Vorfällen damit schaffen?
Huizing: In der Tat, da muss man sehr genau und sehr vorsichtig sein. Zunächst einmal ist vielleicht wichtig, dass man etwas versteht von der katholischen Kirche, wie sie eigentlich sich selbst versteht. Dazu muss man wissen, dass die katholische Kirche sich als sogenannte societas perfecta versteht, also nach katholischem Verständnis ist die Kirche eine einmalige Synthese aus göttlicher und menschlicher, natürlicher und – wenn Sie so wollen – übernatürlicher Wirklichkeit. In der römisch-katholischen Kirche wird zudem die Tradition des sogenannten privilegium fori, also des Priesterprivilegs, befolgt, das heißt, dass die Geweihten vom weltlichen Gerichtsstand eigentlich befreit sind und keiner Strafverfolgung durch staatliche Instanzen unterliegen dürfen. Dieses Selbstverständnis der Kirche hat vielleicht dazu geführt – und ich bin da, wie gesagt, immer in der Beurteilung doch sehr vorsichtig –, dass Menschen, die pädophiler Sucht unterliegen, glaubten, hier unter Umständen in einem geschützten Raum zu agieren, und das ist gefährlich, denke ich. Ich denke, man darf nicht einfach sagen, dass der Zölibat monokausal dafür zuständig ist. Nein, weil das gibt es in ganz anderen Bereichen, Sie wissen das, die Reformpädagogik ist doch eigentlich eher eine protestantische Erfindung, in der Odenwald-Schule. Also, da muss man sehr genau hinschauen. Aber ich denke natürlich, dass eine Form der unterdrückten Sexualität für diese Fragen unter Umständen eher attraktiv gewesen ist, dass man sich dort hineingeflüchtet hat. Und das, denke ich, müsste wirklich auch klar aufgearbeitet werden, da müsste auch ganz grundsätzlich noch einmal neu gedacht werden, und ich finde, dass die Kurie momentan wirklich die historische Chance hat und den Zölibat entweder zu lockern oder sogar ganz abzuschaffen. Eine bessere historische Chance werden sie, denke ich, in naher Zukunft nicht wieder bekommen.
Hanselmann: Nun sollten wir vielleicht kurz darüber reden, weil es gerade aktuell ist:
Der berühmte britische Atheist und Autor Richard Dawkins fordert ja, den Papst bei seinem nächsten Besuch auf den britischen Inseln festnehmen zu lassen. Haben Sie für so eine Forderung Verständnis oder sagen Sie, das ist nur eine große Medienblase?
Huizing: Also, man kann, denke ich, an dieser Frage Folgendes sich immer deutlich machen: Sie brauchen immer Sprachrohre und Institutionen, um Gedanken in die Welt zu tragen. Das trifft auch auf den Atheismus zu. In England sind es, wie gesagt, die berühmten Herren Herr Dawkins und Herr Hitchens, die das entsprechend tun. Ich würde sagen, in dieser Frage sind sie entschieden über das Ziel hinausgeschossen, weil die Frage, die hier wirklich zur Diskussion steht – dass man wirklich sagt, er hat im Grunde genommen ein wirklich hochkapitales, das höchstkapitale Verbrechen begangen –, das ist etwas, was wirklich, denke ich, mit den aktuellen Situationen wirklich nicht kompatibel ist. Das halte ich wirklich für absurd. Es ist, wenn man den Presseberichten glauben darf, in der Tat sehr klug gemacht, dass der Anwalt von Salman Rushdie dort die Feder führt. Das heißt aber noch nicht, dass das immer wirklich ganz klar und ordentlich strukturiert ist, was dort vorgeschlagen wird. Also, da denke ich doch, dass man da wirklich über die Stränge schlägt, dass man da im Grunde genommen kein Augenmaß hat.
Hanselmann: Dennoch hat ja – und das hat die katholische Kirche ja selbst veröffentlicht – der gegenwärtige Papst in seiner Eigenschaft als Chef der Glaubenskongregation jahrelang sämtliche Fälle, die bekannt geworden sind innerhalb der katholischen Kirche, über seinen Schreibtisch gehen lassen, beziehungsweise: Alles musste auf seinem Schreibtisch landen und diese Fälle wurden jahrelang nur intern behandelt, Sie haben es vorhin selbst gesagt, in der societas perfecta. Da sind wir wieder genau bei diesem Punkt: Die katholische Kirche beansprucht doch offenbar eine Art rechtsfreien Raum für sich oder einen Raum des eigenen Rechts.
Huizing: Ja, in der Tat, das ist genau das Problem. Es ist dieser Sachverhalt, den ich vorhin bereits angesprochen habe, die Tradition des privilegium fori, also des Priesterprivilegs, demzufolge die Geweihten vom weltlichen Gerichtsstand befreit sind und keiner Strafverfolgung durch staatliche Instanzen unterliegen dürfen. Ich denke, das ist ein falsches Selbstverständnis. Und offensichtlich hat es da nie eine richtige Debatte gegeben, übrigens auch nicht in der Soziologie, die eigentlich doch hier gefordert ist, einmal diese Debatte zu führen: Wie steht es eigentlich um das Verhältnis der kirchlichen Institution etwa zu staatlichen Institutionen? Ich denke, auch da haben wir jetzt eine Chance vor diesem schrecklichen Hintergrund, wirklich eine sehr grundsätzliche Debatte zu führen.
Hanselmann: Wohin sollte diese Debatte denn Ihrer Meinung nach gehen, also, wie sollten speziell katholische, römisch-katholische Kirche und Staat aufeinander zugehen, was müsste da passieren?
Huizing: Na, ich denke, zunächst einmal sollte man das nicht nur den Instanzen überlassen, die betroffen sind, sondern es sollten auch andere Instanzen wirklich zu Wort kommen, etwa in der Wissenschaft die Soziologie, und auch mit den entsprechenden juristischen Institutionen – ich glaube, da gibt es sehr viel Zündstoff und vielleicht wäre es sehr hilfreich, wenn die katholische Kirche auf das angesprochene privilegium fori doch weitgehend verzichten würde. Sie wird es unter dem Druck der aktuellen Fälle eh tun müssen, davon bin ich überzeugt, und dann ist es vielleicht immer besser, wenn die Institutionen selbst die Kraft haben, in dieser Frage wirklich zu einer neuen Einschätzung zu kommen.
Hanselmann: Bei all den Diskussionen, die man gegenwärtig verfolgen kann in Bezug auf die Missbrauchsfälle und die Pädophilie innerhalb der katholischen Kirche und den gegenwärtigen Zustand dieser katholischen Kirche frage ich mich immer: Wie ist eigentlich der Zustand dieser katholischen Kirche zurzeit, wenn man die Basis vergleicht mit der Führung, ob in Rom oder anderswo?
Huizing: Ja, das ist in der Tat ein altes Problem, dass die katholische Kirche natürlich sehr viel autoritärer strukturiert ist als natürlich eine evangelische Kirche, die von der Priesterschaft aller Gläubigen redet. Das ist einfach so. Auf der anderen Seite muss man sagen, wenn man sich die Zahlen einmal ansieht, dass in den letzten 18 Jahren aus der katholischen Kirche etwa 2,2, 2,3 Millionen ausgetreten sind, aus der evangelischen Kirche 3,8 Millionen, das heißt, die Bindekräfte in der katholischen Kirche sind sehr viel höher, das wissen wir inzwischen auch deutlich, auch entsprechend einzuschätzen. Eine Reform wird es in der Tat nur geben, wenn der Druck von unten so stark ist, dass die entscheidenden Stellen selbst auch für eine Reform sich bereit erklären. Momentan, denke ich, ist der Druck sehr groß. Es wird sicherlich in den nächsten Jahren etwas passieren. Ob der Zölibat abgeschafft wird – noch einmal, es ist eine historische Möglichkeit, es an dieser Stelle zu tun, wie ich finde, dann wäre sehr viel mehr Freiheit in der katholischen Kirche anzutreffen –, ob das wirklich passiert, da bin ich freilich skeptisch.
Hanselmann: Sie haben eben die Zahlen genannt, deswegen die letzte Frage: Wie erklären Sie sich es, dass der evangelischen Kirche mehr Schäflein weglaufen als der katholischen?
Huizing: Ja, das ist eine komplizierte Frage. Die Bindekräfte sind in der Tat anders, weil die Kirche nach protestantischem Verständnis kein Heilsinstitut ist, das heißt, Sie brauchen sie nicht unbedingt, um das persönliche Heil zu erlangen. Das heißt: Es gibt auch eine sehr große Bewegung des Protestantismus außerhalb der Kirchenmauern. Interessant ist, dass die Amtskirche sehr viel schlechter bewertet wird als andere Institutionen etwa der protestantischen und auch der katholischen Kirche – wie die Diakonie und die Caritas. Das heißt, ich finde: Ganz spannend an dieser Frage ist, dass sich die Kirche, die Amtskirche und die Theologie, also meine eigene Profession, vielleicht doch wieder stärker auf die Idee konzentrieren müssen, durch die das Christentum historisch auch gewonnen hat, nämlich durch die Idee, dass die Kirche eine Institution ist ...
Hanselmann: ... der Nächstenliebe.
Huizing: ... der Nächstenliebe, der Caritas, gewissermaßen, wo eben auch Krankheit und Tod nicht etwas ist, was man ausschließen darf, aber eben auch die Sexualität – also, das ganze Spektrum der Körperlichkeit zählt eigentlich wirklich integral zum Menschen dazu und die Kirche muss in dieser Frage wieder ein Anwalt sein. Und hinsichtlich der Sexualmoral, wenn ich das noch schnell sagen darf: Ich glaube, dass sowohl die Pädagogik, die Reformpädagogik etwa eines von Hentig sehr stark natürlich immer auf griechische Wurzeln zurückgegangen ist, ganz ähnlich übrigens auch zum Teil in der katholischen Soziallehre. Und das halte ich weiterhin für einen Fehler, denn man muss wirklich sagen: Das biblische Christentum ist ein Christentum, was sowohl die Sexualität aber eben auch die körperlichen Gebrechen ganz integral zum Menschsein dazuzählt und nicht irgendwie negativ bewertet. Und ich glaube, da muss die Kirche hin zurück, sie muss sagen: Das ist das Spezifikum, das ist ein anderes Menschenbild. Zum Menschenbild gehört wirklich ganz zentral dazu, dass es auch krank sein kann, dass es sterblich ist, aber eben auch, dass es ein Wesen ist, was extreme Lust wirklich erfährt. Und dieses ganze Konzept – das ist eigentlich etwas, was es so in der Geschichte nicht gegeben hat -, das ist das Spezifikum des Christentums, das muss man hoch schätzen.