Klassenkampf an der Newa
Kaum ein Ereignis im 20. Jahrhundert hat eine so welthistorische Bedeutung wie die russische Oktoberrevolution. Sie begann mit dem Sturm auf das Winterpalais in Petrograd am 25. Oktober nach julianischem Kalender, am 7. November nach gregorianischer Zeitrechnung.
"Die Tatsache, dass das Proletariat in einem der zurückgebliebensten Länder Europas zuerst zur Macht gekommen ist, scheint auf den ersten Blick ganz rätselhaft, ist aber nichtsdestoweniger vollständig gesetzmäßig. Dieser Erklärung hat Lenin eine prägnante Formel gegeben: Die Kette ist an ihrem schwächsten Gliede zerrissen."
Mit diesen Worten feierte Leo Trotzki im November 1932 den 15. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Damals war Trotzki, neben Lenin der wichtigste Organisator der Revolution, bereits von Stalin ins Exil getrieben worden. Das Bild vom "schwächsten Glied" in der Kette traf tatsächlich einen zentralen Punkt. Das zaristische Russland war den Belastungen, die der Erste Weltkrieg für alle beteiligten Staaten bedeutete, noch weniger gewachsen als das deutsche Kaiserreich oder die Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn. In der russischen Hauptstadt Petrograd hatten Arbeiter und Soldaten bereits im Februar 1917 den Aufstand geprobt. Zar Nikolaus II. musste abdanken. Eine Provisorische Regierung, gestützt auf die bürgerlich-liberale Mehrheit in der Duma, dem russischen Parlament, übernahm die Macht. Im Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten besaß sie von Anfang an einen Gegenspieler. Dieser richtete am 14. März 1917 einen Aufruf an die "Völker der Welt":
"Die Zeit ist gekommen, in der die Völker die Entscheidung über Krieg und Frieden in die eigenen Hände nehmen müssen."
Je weniger die Provisorische Regierung dem Verlangen nach Frieden nachkam, desto mehr radikalisierte sich die Massenbewegung, desto größeren Zulauf erhielten die Bolschewiki, die radikalen Sozialdemokraten Russlands. Hans Mark, der damals als 16-jähriger Sanitätshelfer des Roten Kreuzes in Petrograd tätig war, erinnerte sich 70 Jahre später:
"Damals spielte sich ja der Kampf ab zwischen zwei Losungen, kann man sagen: Einmal die Forderung der damaligen bürgerlichen Provisorischen Regierung, den Krieg bis zum siegreichen Ende zu führen. Und die Losung der Partei der Bolschewiki: Schluss mit dem Krieg! Und die Menschen mussten sich entscheiden, wofür sie sind. Die Mehrheit hat sich für den Frieden entschieden. Und im Grunde genommen ist die Oktoberrevolution im Kampf um den Frieden geboren worden."
Seit September 1917 drängte Lenin, der Führer der Bolschewiki, der erst im April aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt war, energisch darauf, die Provisorische Regierung gewaltsam zu stürzen. In der historischen Sitzung des Zentralkomitees der Partei am 23. Oktober gelang es ihm, die Mehrheit für den Gedanken des "bewaffneten Aufstands" zu gewinnen. Die Vorbereitungen dazu übernahm Trotzki, der Leiter des Revolutionären Militärkomitees des Petrograder Sowjets. In der Nacht vom 6. auf den 7. November besetzten Arbeitermilizen, Matrosen und Garnisonstruppen die strategisch wichtigen Punkte der Stadt. Am frühen Morgen des 7. November verließ Alexander Kerenski, der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, fluchtartig Petrograd. Die zurückgeliebenen Minister harrten im Winterpalais aus. Auf der Newa richtete der Panzerkreuer "Aurora" seine Kanonen auf den einstigen Sitz des Zaren. Karl Kießling, ein Deutscher, der sich den Rotgardisten angeschlossen hatte, war beim Sturm auf das Winterpalais dabei. Er erinnerte sich Jahrzehnte später:
"Und so standen wir nun von morgens bis abends um zehn. Und gegen zehn Uhr schoss dann die 'Aurora’, und das war das Zeichen zum Sturmangriff. Die ersten waren die roten Matrosen von Kronstadt, die das große Tor überwanden und öffneten, und alle schrien: Mit Hurra voran! Es dauerte bis nachts um zwei, bis wir den Winterpalais in unseren Händen hatten."
Es begannen jene "Zehn Tage, die die Welt erschütterten", über die der amerikanische Reporter John Reed in seinem berühmten Buch berichtet hat:
"Die alte Gesellschaft schmolz in der Gluthitze der Revolution, und aus dem brodelnden Flammenmeer stiegen der Klassenkampf, gewaltig und mitleidlos, und die noch zerbrechliche, langsam erkaltende Kruste einer neuen Welt."
Doch so heroisch, wie der Umsturz immer wieder geschildert worden ist, verlief er nicht, sondern eher unspektakulär. Lenin etwa fuhr mit der Straßenbahn zum Smolny, dem Hauptquartier der Bolschewiki, das früher ein Pensionat für adlige Mädchen gewesen war. Die Macht fiel den Bolschewiki in Petrograd fast kampflos zu - im Unterschied zu Moskau, wo es zu tagelangen blutigen Auseinandersetzungen kam. Erstaunlich war weniger die Leichtigkeit, mit der die Bolschewiki die Macht eroberten, als vielmehr die Zähigkeit, mit der sie sie behaupteten. Denn das Land versank bald in Anarchie, Chaos und Bürgerkrieg.
Doch die großen Hoffnungen, die sich mit dem Projekt einer sozialistischen Umgestaltung in Russland verbunden hatten - sie wurden spätestens mit Lenins Nachfolgern zuschanden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 und 1990 gilt die Oktoberrevolution nicht mehr als die viel verheißende Epochenwende, sondern eher als Auftakt einer Kette von Katastrophen und Fehlentwicklungen, die vom Ersten Weltkrieg ihren Ausgang nahmen.
Mit diesen Worten feierte Leo Trotzki im November 1932 den 15. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Damals war Trotzki, neben Lenin der wichtigste Organisator der Revolution, bereits von Stalin ins Exil getrieben worden. Das Bild vom "schwächsten Glied" in der Kette traf tatsächlich einen zentralen Punkt. Das zaristische Russland war den Belastungen, die der Erste Weltkrieg für alle beteiligten Staaten bedeutete, noch weniger gewachsen als das deutsche Kaiserreich oder die Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn. In der russischen Hauptstadt Petrograd hatten Arbeiter und Soldaten bereits im Februar 1917 den Aufstand geprobt. Zar Nikolaus II. musste abdanken. Eine Provisorische Regierung, gestützt auf die bürgerlich-liberale Mehrheit in der Duma, dem russischen Parlament, übernahm die Macht. Im Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten besaß sie von Anfang an einen Gegenspieler. Dieser richtete am 14. März 1917 einen Aufruf an die "Völker der Welt":
"Die Zeit ist gekommen, in der die Völker die Entscheidung über Krieg und Frieden in die eigenen Hände nehmen müssen."
Je weniger die Provisorische Regierung dem Verlangen nach Frieden nachkam, desto mehr radikalisierte sich die Massenbewegung, desto größeren Zulauf erhielten die Bolschewiki, die radikalen Sozialdemokraten Russlands. Hans Mark, der damals als 16-jähriger Sanitätshelfer des Roten Kreuzes in Petrograd tätig war, erinnerte sich 70 Jahre später:
"Damals spielte sich ja der Kampf ab zwischen zwei Losungen, kann man sagen: Einmal die Forderung der damaligen bürgerlichen Provisorischen Regierung, den Krieg bis zum siegreichen Ende zu führen. Und die Losung der Partei der Bolschewiki: Schluss mit dem Krieg! Und die Menschen mussten sich entscheiden, wofür sie sind. Die Mehrheit hat sich für den Frieden entschieden. Und im Grunde genommen ist die Oktoberrevolution im Kampf um den Frieden geboren worden."
Seit September 1917 drängte Lenin, der Führer der Bolschewiki, der erst im April aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt war, energisch darauf, die Provisorische Regierung gewaltsam zu stürzen. In der historischen Sitzung des Zentralkomitees der Partei am 23. Oktober gelang es ihm, die Mehrheit für den Gedanken des "bewaffneten Aufstands" zu gewinnen. Die Vorbereitungen dazu übernahm Trotzki, der Leiter des Revolutionären Militärkomitees des Petrograder Sowjets. In der Nacht vom 6. auf den 7. November besetzten Arbeitermilizen, Matrosen und Garnisonstruppen die strategisch wichtigen Punkte der Stadt. Am frühen Morgen des 7. November verließ Alexander Kerenski, der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, fluchtartig Petrograd. Die zurückgeliebenen Minister harrten im Winterpalais aus. Auf der Newa richtete der Panzerkreuer "Aurora" seine Kanonen auf den einstigen Sitz des Zaren. Karl Kießling, ein Deutscher, der sich den Rotgardisten angeschlossen hatte, war beim Sturm auf das Winterpalais dabei. Er erinnerte sich Jahrzehnte später:
"Und so standen wir nun von morgens bis abends um zehn. Und gegen zehn Uhr schoss dann die 'Aurora’, und das war das Zeichen zum Sturmangriff. Die ersten waren die roten Matrosen von Kronstadt, die das große Tor überwanden und öffneten, und alle schrien: Mit Hurra voran! Es dauerte bis nachts um zwei, bis wir den Winterpalais in unseren Händen hatten."
Es begannen jene "Zehn Tage, die die Welt erschütterten", über die der amerikanische Reporter John Reed in seinem berühmten Buch berichtet hat:
"Die alte Gesellschaft schmolz in der Gluthitze der Revolution, und aus dem brodelnden Flammenmeer stiegen der Klassenkampf, gewaltig und mitleidlos, und die noch zerbrechliche, langsam erkaltende Kruste einer neuen Welt."
Doch so heroisch, wie der Umsturz immer wieder geschildert worden ist, verlief er nicht, sondern eher unspektakulär. Lenin etwa fuhr mit der Straßenbahn zum Smolny, dem Hauptquartier der Bolschewiki, das früher ein Pensionat für adlige Mädchen gewesen war. Die Macht fiel den Bolschewiki in Petrograd fast kampflos zu - im Unterschied zu Moskau, wo es zu tagelangen blutigen Auseinandersetzungen kam. Erstaunlich war weniger die Leichtigkeit, mit der die Bolschewiki die Macht eroberten, als vielmehr die Zähigkeit, mit der sie sie behaupteten. Denn das Land versank bald in Anarchie, Chaos und Bürgerkrieg.
Doch die großen Hoffnungen, die sich mit dem Projekt einer sozialistischen Umgestaltung in Russland verbunden hatten - sie wurden spätestens mit Lenins Nachfolgern zuschanden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 und 1990 gilt die Oktoberrevolution nicht mehr als die viel verheißende Epochenwende, sondern eher als Auftakt einer Kette von Katastrophen und Fehlentwicklungen, die vom Ersten Weltkrieg ihren Ausgang nahmen.