Der letzte Klavierbauer Georgiens
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Tiflis ist eine Musikstadt. Die Klavierbautradition wurde hier von Deutschen begründet. Doch der Zerfall der Sowjetunion brachte den Instrumentenfabriken das Ende. Heute ist Sergo Ajvazov der letzte Klavierbauer Georgiens.
Die ethnische Vielfalt der Stadt Tiflis ist der Grund für ihre einzigartige Atmosphäre. Schon immer lebten viele Künstler, Sänger und Philosophen hier. Ab dem 19. Jahrhundert wuchs Tiflis rasant zu einer europäischen Metropole heran. Die kulturelle Elite des Kaukasus und des ganzen russischen Reiches kam hier zusammen.
Eine hohe Bildung und westeuropäische Musik gehörten seitdem zur Erziehung. Damals wurde ein Operntheater gebaut und der Deutsche Wasil Kühner gründete in seiner Wohnung 1871 die "Kaukasische Musikgesellschaft".
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, nach den Reformen Peters des Großen, kamen vermehrt deutsche Instrumentenbauer, insbesondere Klavierbaumeister, nach Sankt Petersburg, denn die zaristischen Regierungen boten ausländischen Unternehmern wirtschaftliche Anreize.
Siegeszug des Klavieres
Tasteninstrumente wurden immer populärer, die Nachfrage war groß. 1810 gründeten die Gebrüder Diederichs in Petersburg die erste Klavierfabrik des russischen Reiches. Es folgten die Firmen Schröder, Becker und Mühlbach. Sie verbesserten die Mechanik und meldeten mehrere Patente an. Besonders Becker und Schröder produzierten ihre Klaviere in hohen Stückzahlen. Franz Liszt, Clara Schumann und andere bekannte Musiker spielten auf diesen Instrumenten. Auch viele kleinere Klavierbau-Meisterbetriebe arbeiteten erfolgreich.
Auf Karren über den Kaukasus
In den 1870-er Jahren gab es in Tiflis drei Deutsche, die kleine Klavierbau-Meisterbetriebe und Musikgeschäfte eröffneten: Friedrich Reyer, Friedrich Groß und Hermann Kehrer. Hermann Kehrers Eltern gehörten zu den deutschen Kolonisten, die in den Jahren 1817–1818 aus Schwaben nach Georgien gekommen waren, um dort eine neue Heimat zu finden.
Musikinstrumente wurden damals normalerweise auf Karren transportiert, was über die Pässe des Kaukasus ein ernstes Problem darstellte, da die Klaviere und Flügel einer solchen Reise nicht standhalten konnten.
Bald wurde die Herstellung dieser Instrumente vor Ort als sehr profitables Geschäft angesehen. Doch nach der Revolution von 1917 war nichts mehr wie vorher.
Enteignet, umbenannt, geschlossen
Die Annexion und Einverleibung Georgiens durch Russland im Jahr 1921 trieb die Regierung der georgischen unabhängigen Republik ins Exil nach Frankreich. Die Zeit der Sowjetisierung war auch für die deutschen Kolonisten eine neue Situation und Grund genug, wieder auszuwandern. Die Unternehmer wurden enteignet, die Klavierfabriken umbenannt oder geschlossen. Erfolgsunternehmen wie die Klavierfabriken von Johann Friedrich Schröder und Jacob Becker wurden 1918 verstaatlicht.
Klaviere für die Massen
Nach einigen Jahren nahm die Nachfrage nach Klavieren jedoch wieder zu und das Volkskommissariat für Bildung beschloss, eine größere Fabrik zu errichten aus Beständen ausgewählter Fabriken: Gebrüder Diederichs, Schröder, Carl Rönisch, Robert Rathke, Theodor Franz Adolf Mühlbach, Gebrüder Offenbacher. Die Becker-Fabrik bildete die Grundlage der Produktion.
Bereits ab Ende 1920er Jahre erlebte die Instrumentenproduktion unter der Sowjet-Losung "Bildung für alle" einen zweiten Aufschwung. Man hielt sich beim Bau der Instrumente immer noch an die Maßstäbe der deutschen Klavierbauerschule. 1927 wurden die ersten neuen Klaviermodelle vorgestellt. Sie hießen "Krasnyj Oktjabr" ("Roter Oktober"), so wie viele erste sowjetische Produkte, die nach der Verstaatlichung derart umbenannt wurden. Die Sowjets bemühten sich nun um Verbesserungen: 1933 wurde ein Forschungslabor gegründet und man schickte Fachkräfte zur Weiterbildung in westeuropäische Länder.
Üben auf der Tischplatte
All dies galt jedoch nur bis zum "Großen Terror". Bereits zu Anfang der stalinistischen Repressalien wurden deutsche Einrichtungen generell verboten. Der Klavierbauer Richard Kehrer, Sohn des Firmengründers Hermann Kehrer und Vater des Pianisten Rudolf Kehrer, wurde verhaftet. Seine Brüder wurden einer nach dem anderen abgeholt. Keiner überlebte.
1941 war der 15-jährige Rudolf Kehrer mit seiner Mutter und den Geschwistern an der Reihe. Nach dem vielversprechenden Start einer Pianisten-Karriere musste er nun um sein Überleben kämpfen: Zwangsarbeit, Tuba-Spielen, Physikstudium und Nachhilfeunterricht. Aus Kehrers Biographie ist bekannt, wie er in all diesen Jahren Klavier "übte": auf einer von ihm auf einer Tischplatte aufgemalten Tastatur.
Unter Stalin wurde die Kulturpolitik das wichtigste Werkzeug zur ideologischen Steuerung der Gesellschaft. Die Musikausbildung profitierte von der neuen sowjetischen politischen Ausrichtung. Bereits 1918, bald nach der Revolution, waren per Dekret musikalische Institutionen geschaffen worden, die der breiten Bevölkerung eine musikalische Erziehung ermöglichen sollten. Ab 1945 wurden die Klavierfabriken, die zuvor kriegsbedingt auf Rüstungsgüter hergestellt hatten oder komplett zerstört waren, schnell wiederaufgebaut.
Zulieferungen aus der DDR
Sergo Aivazov, der sein Handwerk von dem deutschen Aussiedler Alexander Wolf gelernt hatte, begann 1960 in der Tifliser Klavierfabrik zu arbeiten. Hier wurden die Marken "Tbilissi", "Iveria" und das beste Modell "Sakartvelo", – auf georgisch "Georgien" – produziert. Verschiedene sowjetische Produktionsbetriebe waren miteinander verflochten und bekamen Zulieferungen auch aus der DDR. Die sogenannte Seele des Instruments, das Kiefernholz für den Resonanzboden, kam aus den Wäldern des Uralgebirges. Die Produktion wurde später auf Flügel-Modelle ausgeweitet und mit der Herstellung weißer Klaviere bediente man den Trend der 1970er Jahre auch in Sowjetunion.
Sergo Aivazov hatte ein Leben lang in der Tifliser Klavierfabrik "Sakartvelo" gearbeitet, doch die politische Entwicklung machte es der heimischen Instrumentenbauer-Branche schwer.
Der letzte Klavierbauer in Georgien
Als im April 1989 ein russisches Sonderkommando Giftgas gegen die friedlich demonstrierende Bevölkerung in Tiflis einsetzte, begannen in Georgien politisch unruhige Zeiten, die bis heute anhalten. Der bis dahin erfolgreich geführte Klavierbau-Großbetrieb mit seinem gut gefüllten Material-Lager und seinem hochspezialisierten Mitarbeiterstamm wurde in den 1990er Jahren zuerst geschlossen und wenig später geplündert.
Heute befindet sich an seiner Stelle ein Gewerbegebiet mit Möbelgeschäften. Nur ein Teil des alten Firmenschildes, einstmals liebevoll gestaltet mit Notenlinien und Noten, weist auf dem Eingangstor des ehemaligen Fabrikgeländes auf die Geschichte des Ortes hin. Nahezu alle Meister und Facharbeiter, die vormals in der Musikinstrumentenfabrik arbeiteten, sind in alle Welt ausgewandert.
Der gesamte postsowjetische Raum ist im Bereich der Klaviere und Flügel von Mangel geprägt. Die meisten Instrumente sind abgespielt, es gibt viel zu wenig kompetente Klavierbauer und -stimmer, und es fehlt an Nachwuchs. Die Musikschulen und selbst die Musikhochschulen haben einen starken Bedarf an Instrumenten.
Sergo Aivazov ist heute 73 Jahre alt und findet keinen Lehrling. Sergo Aivazov ist wohl der letzte Klavierbauer in Georgien.