Klassiker des Überwachungsstaates

Richard Wagner im Gespräch mit Katrin Heise |
Vor 60 Jahren erschien der Weltbestseller "1984". Darin entwarf George Orwell die Fiktion eines totalitären Überwachungsstaats. Gerade in den 80er-Jahren habe der Roman für Intellektuelle in der rumänischen Diktatur eine große Relevanz gehabt, berichtet Richard Wagner. Gleichzeitig bezeichnet er das Buch als aktueller denn je.
Katrin Heise: Bei mir im Studio ist Richard Wagner, mehrfach ausgezeichneter Autor, der seit Ende der 80er-Jahre in Deutschland lebt und schreibt. Geboren wurde er im rumänischen Banat. Er hat also während der Diktatur in Rumänien dort als Deutschlehrer und Journalist gearbeitet. Ich grüße Sie, Herr Wagner!

Richard Wagner: Ja, guten Tag!

Heise: Wann haben Sie Orwells "1984" zum ersten Mal gelesen?

Wagner: Ja, so ganz genau weiß ich das jetzt nicht mehr aus der Erinnerung, aber es muss irgendwann am Anfang der 80er-Jahre gewesen sein.

Heise: Also in Rumänien …

Wagner: In Rumänien, in Temeswar, wo ich damals lebte, ja.

Heise: Was hat der Ihnen bedeutet, dieser Roman?

Wagner: Ja, das war damals eine besondere Situation. In Rumänien war es ja so, dass eine Öffnung stattgefunden hatte Mitte der 60er-Jahre. Es war eine bessere Zeit gewesen in der Situation. Und dann hat Ceausescu seine Familiendiktatur eingerichtet und die Situation verschlimmerte sich. Und wir suchten natürlich als Leute, die über die Lage nachdachten, nach Büchern auch, die etwas über die Situation aussagen könnten bzw. die damit in Verbindung gebracht werden könnten. Und so kamen wir dann auch auf "1984" und haben da sehr vieles vorgefunden, was unserer Realität dann auch entsprach.

Heise: Also "wir" meinen Sie jetzt Menschen, die geschrieben haben, beispielsweise Lehrer, Autoren, Journalisten, Sie diskutierten darüber?

Wagner: Ja, das war eine Gruppe von Leuten aus der deutschen Minderheit, die eng zusammenarbeitete, von Autoren und Journalisten eben, ja.

Heise: Ob die Utopie der Überwachung, die Orwell ja Ende der 40er-Jahre entworfen hat, ob die heutzutage von der Wirklichkeit überholt worden ist, das ist eine andere Diskussion. Mich interessiert aber mal aus Ihrer Sicht, was ist Orwell in seinem Buch gelungen?

Wagner: Ja, also Orwell hat – es gibt ja vieles über Diktaturen, also meist sind das Bücher, die sehr konkret und mit viel Realismus ja auch Diktaturen beschreiben. Also wenn wir jetzt ein Phänomen wie Solschenizyn nehmen, der mit seiner realistischen Technik eben erzählt – und die sind ja sehr wichtig, diese Sachen. Was Orwell gemacht hat: Er hat eine Ausweitung eines Bildes, einer Situation gebracht, die als Metapher gelten kann für die verschiedensten Situationen. Man sieht ja auch, in Orwell findet man für alle Zeitsituationen, in denen es gegen die Meinungsfreiheit geht, gegen die Freiheit insgesamt, findet man eine Möglichkeit der Interpretation. Diese Metapher, die "1984" darstellt, ist eben ein einzigartiges Buch in diesem Sinne.

Heise: Man kann Orwells Buch als eine Metapher begreifen, eine Metapher, die weit darüber hinausweist, auch vor allem was eben die Sprache angeht, was die Manipulation der Sprache angeht, das haben wir eben auch in dem kurzen Vorsetzer gehört. Was hat das eigentlich für Sie als Mensch bedeutet, der mit Sprache gearbeitet hat als Journalist, als Autor?

Wagner: Also man muss zuerst einmal sagen, die moderne Diktatur des 20. Jahrhunderts hat einen totalitären Charakter, der sich vor allem in der Sprache ausdrückt, weil eine moderne Gesellschaft über Sprache verhandelt und auch gesteuert wird. Und das ist nicht nur jetzt so in den offensichtlichen Diktaturen, sondern auch in versteckteren Formen, auch in unserer heutigen Zeit ist vieles, was über die Sprache manipuliert wird. Und diese Sprachmanipulation hat mich beschäftigt als Schriftsteller im Kommunismus, eben wie der offizielle Jargon alles überdeckt hat und durch diesen offiziellen Jargon man in eine Zwangssituation gekommen ist, die einen herausforderte, sich immer wieder dagegen zu wehren. Also als Schriftsteller, wenn man diesen Jargon nicht verlassen kann, kann man auch nichts Gültiges schreiben.

Heise: Ist Ihnen das bei der Lektüre von "1984" erst richtig so vor Augen geführt worden?

Wagner: Das war eine ganz wichtige Erkenntnis, die ich da vorgefunden habe und die mich weitergebracht hat in meinen Überlegungen.

Heise: Der Schriftsteller Richard Wagner über George Orwells Roman "1984" hier im "Radiofeuilleton" auf Deutschlandradio Kultur. Herr Wagner, also Sie haben gesagt, Orwell hatte quasi Ihre eigene Realität, in der Sie gelebt haben, stärker bewusst gemacht. Wie sah denn diese Realität aus, wenn man’s mal so in Orwells Fiktion versucht zu übertragen oder genau umgekehrt, die Fiktion auf Ihre Realität überträgt?

Wagner: Ja, also da war eine Menge. Also zum Beispiel, dass man für Schreibmaschinen eine Genehmigung brauchte von der Polizei. Und da gab es dann in der Zeitung eine Mitteilung für Schreibmaschinenbesitzer, in denen die Schreibmaschinenbesitzer aufgefordert wurden, sich zu melden, und da wurden die Schreibmaschinen eingetragen. Es wurde eine Schriftprobe dann gemacht von jeder Schreibmaschine. Und das Absurde an dieser Sache: Ich habe so eine Schriftprobe …

Heise: Ach, Sie haben die mitgebracht?

Wagner: Ja, ja. Das Absurde daran ist, dass hier nicht nur die Buchstaben vorkommen von der Schriftprobe, sondern es ist ein exemplarischer Text. Und dieser exemplarische Text, der hat auch ein Thema, und das ist die Verschuldung der Länder in der Dritten Welt. Und es geht darum, dass diese Verschuldung darauf zurückzuführen ist, dass die Industrieländer diese Länder ausbeuten. Also man wurde auch gleich belehrt in dieser Angelegenheit.

Heise: Wurden Worte anders benutzt?

Wagner: Es ist das Interessante – und das ist ja auch bei Orwell so die Sache –, dass die Wörter in ihr Gegenteil verkehrt worden sind. Also zum Beispiel wurden veranstaltet offiziell in Rumänien Festivals für Lyrik zum Thema "Dichter besingen den Frieden". Es gab überhaupt keinen Grund, keinen Anlass, es war eigentlich ein erfundenes Thema, das man dazu eingesetzt hat, um die Leute zu beschäftigen, mit künstlichen Themen zu beschäftigen. Das ist so ein Beispiel. Außerdem wurde in Rumänien – das habe ich auch hier dabei – ein Tag der Menschenrechte begangen offiziell, das war im Jahre 1987. Und die Zeitung hieß damals "Der Funke", die Parteizeitung, nach dem Modell aus Lenins Zeiten. Und interessant ist, dass diese Zeitung nach der Wende dann, nach '89, in "Wahrheit" umbenannt worden ist.

Heise: Sie haben das damals, als Sie und Ihre Kollegen, überhaupt die Menschen in Rumänien, haben es ja durchaus durchschaut, auch gerade diese Wortverdrehung, den Umgang mit der Sprache. Wie konnte man sich wehren?

Wagner: Ja, man konnte sich wehren, indem man ganz einfach nicht eingegangen ist auf diesen Diskurs, auf diesen Jargon, indem man das ignoriert hat und seine eigene Sprache gesetzt hat. Und damit war für die Leute ja schon die Differenz da. Also wenn man jetzt ein Gedicht zum Beispiel geschrieben hat und völlig ignorierend diesen offiziellen Jargon, damit war man schon oppositionell sozusagen.

Heise: Sie haben gesagt, das, was Sie bei Orwell gefunden haben, Sie auch in Ihrem Alltag wiedergefunden haben. Man wundert sich da ein bisschen, dass ein Buch wie "1984" in Rumänien nicht verboten war?

Wagner: Sagen wir mal so, es war nicht erlaubt, aber man hat in der Zeit bei Ceausescu nicht ausdrückliche Verbote erlassen. Das Buch gab es nicht zu kaufen. Es war nicht ins Rumänische übersetzt, es war nicht zu kaufen. Ich besaß es, weil es mir jemand mitgebracht hat. Es sind ja viele Leute aus der deutschen Minderheit, die lebten in der Bundesrepublik, die kamen und machten Urlaub da, und die brachten dann eben solche Bücher mit. Und dann hatte man sie. Und wenn man sich ein bisschen bemühte, konnte man sie sich beschaffen. Aber offiziell gab es das eigentlich gar nicht, das existierte nicht.

Heise: Würden Sie sagen, dass Orwell immer noch für uns aktuell ist?

Wagner: Ja, er ist aktueller denn je, würde ich sagen, und zwar vor allem, wenn man bedenkt, was die Manipulation der öffentlichen Diskurse betrifft, wie mit Sprache heute auch umgegangen wird. In der Politik zum Beispiel, dass dauernd Wörter kreiert werden, die Phänomene dann verharmlosen, indem sie sie auf eine Weise benennen, dass sie unschuldig erscheinen. Oder es werden andere Wörter eingesetzt, um Phänomene erst richtig zu verstärken, zu dramatisieren. Außerdem ist ja ein ganzes System dieses politisch Korrekten. Das ist ja ein Orwell’sches Phänomen letzten Endes, also wo man Sprache praktisch künstlich setzt, also die natürlich gewachsene Sprache nicht mehr zulässt, sondern Sprache künstlich findet und erfindet und einen Jargon installiert, der die Leute zwingt, sich ihm zu stellen. Das ist ein totalitäres Phänomen.

Heise: Der Schriftsteller Richard Wagner über die George Orwells Roman "1984" und das, was er ihm auch heute noch bedeutet. Vor 60 Jahren erschien "1984". Vielen Dank, Herr Wagner, für das Gespräch!

Wagner: Danke auch!
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