Erlebt das Album ein Revival?
Die Umsatzzahlen sinken - und doch erlebt das "Album" einen Bedeutungszuwachs: Musiker wie Stevie Wonder gehen mit ihren Albumklassikern auf Tour. Zählt das schon als Revival?
Aus den USA hat uns im Juli die Nachricht erreicht, dass noch nie so wenige Musikalben wie im ersten Halbjahr 2016 verkauft wurden. Trotz steigender Zahlen beim Umsatz von Vinyl, es wundert einen nicht: In Zeiten von Musikdownloads und Streamingplattformen scheint die persönliche Playlist in den Vordergrund zu treten gegenüber dem Album als Musikformat. Einerseits. Andererseits sind Umsätze ja nicht alles, und immer mehr Musiker gehen heute mit Albumklassikern auf Tour: Die amerikanische Band Sonic Youth in den Nullerjahren mit ihrem Album "Daydream Nation" von 1988, kürzlich konnte man die New Yorker Band Television erleben, wie sie ihr Album "Marquee Moon" von 1977 auf der Bühne nachspielte, und gestern hat Stevie Wonder in London seinen Albumklassiker "Songs In The Key Of Life" von 1976 live aufgeführt. Was von solchen Wiederaufführungen historischer Alben zu halten ist, und ob das Album als musikalisches Konzept, trotz sinkender Umsatzzahlen, gerade ein Revival erfährt, darüber haben wir mit Julian Weber, Redakteur im Feuilleton der "taz", gesprochen.
Herr Weber, als die Band Television dieses Jahr ihr Album "Marquee Moon" noch einmal live aufführte, nach fast 40 Jahren, konnte man vier ältere Männer sehen, die sich Mühe gaben, die Musik ihrer Jugend noch einmal zum Leben zu erwecken, und man sah und hörte ihnen diese Mühe auch durchaus an. Wozu kann so etwas gut sein, außer zum Geld verdienen?
"Das Konzert von Television im Berliner Huxleys habe ich live gesehen und fand es anders, sehr charmant. Man merkte, die Musiker stehen eben nicht mehr jeden Abend auf der Bühne, sie wirkten beim Konzert etwas linkisch. In anderen Berufsfeldern als im Pop mag dies Linkische einen schlechten Ruf haben, mir hat das gerade gut gefallen, im Pop ist das ein erlaubtes Feature! Und natürlich musste sich die Band erstmal warm spielen. Das dauerte ein, zwei Songs und dann lief es aber. Davon abgesehen, das Album ist seit seiner Einführung Ende der 40er-Jahre eine wahre Kunstform. Ein Werk wie 'Marquee Moon' von Television, das bei seiner Veröffentlichung kaum Fans gefunden hat, wird erst jetzt, mit dem Abstand von 40 Jahren von mehr Hörern als visionäres Album, zwischen Rock'n'Roll und Punk verstanden und entwickelt ein Eigenleben wie ein guter Roman."
Dennoch: Was ist aus Ihrer Sicht der Gewinn, wenn man ein Album 40 Jahre später noch einmal von denselben Musikern vorgeführt bekommt, die dieser Musik doch längst entwachsen sind? Müsste man da nicht wenigstens eine Neuinterpretation erwarten können? Sie haben gerade den Vergleich mit dem Roman gezogen, da werden Klassiker ja auch immer mal wieder neu übersetzt, mit einem zeitgemäßen Blick auf den Text.
"Tatsächlich haben Television dieses Album in Deutschland ja früher nie aufgeführt. Ich habe aber auch einmal einen Mitschnitt von einem früheren Konzert gehört, bei dem Television 'Marquee Moon' gespielt haben, und tatsächlich klang es ganz anders, insofern kann man hier ja schon von einer Neuinterpretation sprechen - im Übrigen werden im Pop Stücke und Alben eigentlich nie mehrmals identisch aufgeführt."
Wann wurde das Album in der Popmusik eigentlich erfunden? Lange Zeit war ja die Single, die auch in der Jukebox und im Radio gespielt wurde, die Leitwährung der Popmusik.
"Das Album wurde Ende 40er-Jahre erfunden und hat die Popmusik ökonomisch und ästhetisch verändert, denn die Hörer konnten die Musik nun buchstäblich in den Händen halten. Sich beim Musikhören die Fotos auf dem Cover ansehen, die Linernotes lesen oder die diskografischen Angaben studieren. Sie waren den Musikern damit nicht nur auf akustischer Ebene verbunden. Das hat zur Fanbildung entscheidend beigetragen, das mag heute im Internetzeitalter unglaubwürdig wirken, aber Alben waren früher entscheidende Informationsträger."
Über diesen Wert als Informationsträger hinaus: Welche Bedeutung hat das Album als musikalisches Konzept für die Popmusik?
"Ein Album hat die Karrieren von Künstlern und Bands entscheidend geformt. Nehmen wir doch David Bowie, den großen britischen Popstar, der im Januar verstorben ist. Der wäre ohne das Album und seine Bilderwelten auf den Covern nicht annähernd so berühmt geworden. Bowie ist mit seinen Künstlerpersona, die er dort verkörpert hat, jeweils nach der VÖ auf Tour gegangen. In den Sechzigern waren Singles noch wichtiger, mit A und Flipside: Hits und ein weiteres Lied, sie hatten kurze Lebensdauer, blieben einige Wochen in den Charts, wurden im Radio gespielt, dann sind sie wieder verschwunden. Auf den Alben waren meist 12 bis 16 Songs, verteilt auf zwei Seiten. Man konnte aus einem Album gleich mehrere Songs auskoppeln. Man konnte Alben mit einer Dramaturgie, Sentiment, Tempi oder Songcharakter ausstatten und harte Nummern, Balladen, oder epische Songs draufpacken. Das wurde Ende der Sechziger zur Kunstform. Um jene Zeit haben dann Künstler und Produzenten wie etwa Harry Nilsson und Richard Perry gemeinsam an der Dramaturgie von Alben getüftelt und viel Zeit auf die Reihenfolge der Songs verwandt. Auch Prince hat viel Wert auf die Reihenfolge der Albensongs gelegt und hat seine Alben so konstruiert, dass sie wie Theaterstücke, Anfang, Mitte und Finale hatten."
Die höchste Reife hat die Idee des Albums im Konzeptalbum gefunden, das fast wie der Roman eine in sich geschlossene Erzählung bildet und bei dem sich die Songs, fast wie Kapitel in einem Buch, aufeinander beziehen oder ergänzen. Eines der berühmtesten dieser Art war "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" von den Beatles, es war aber nicht das erste.
Welche Bedeutung hat das Konzeptalbum für die Popmusik?
"Klar, ein Album wie 'Ummagumma' (1969) von Pink Floyd, ein Doppelalbum, hat jedem der vier Musiker zum Beispiel eine Seite reserviert, auf der er jeweils die von ihm komponierten Songs präsentierte. Oder 'Here my dear' (1975) vom Soulsänger Marvin Gaye, ein Doppelalbum, dessen Songs ausschließlich durch die Trennung von seiner Frau inspiriert waren. Ein menschliche Tragödie, die in eine künstlerische Emanzipation mündet sozusagen."
Muss man nicht auch erwähnen, dass es lange den Zwang zum Album gab und vieles, was als Album erschienen ist und auch heute noch erscheint, den Namen "Album" gar nicht verdient, sondern es sich oft um ein paar wenige gute Songs und eine Menge Füllmaterial handelt?
"Na ja, klar, es gibt solche Alben, die ein, zwei, drei tolle Songs enthalten, aber ansonsten Füllmaterial. Es gibt künstlerische Eintagsfliegen, es gibt jede Menge überschätztes Material, aber auch unterschätzte Meisterwerke. Früher musste nur jedes zehnte Album den Majorlabels Gewinne einbringen, ein Hitalbum, die andere neun konnten Nieten sein. Das war das Goldene Zeitalter des Albums. Früher war aber nicht alles besser. Heute gibt es auch gute Alben."
Gibt es in Ihrem Leben ein Album, das besonders wichtig ist oder war?
"Oha, das ist eine schwierige Frage. Da würde jetzt die Sendezeit nicht ausreichen, um das annähernd erklären zu können. Ich habe ungefähr 100 Platten, die mir wirklich was bedeuten, die in verschiedenen Lebensphasen Begleitmusik von mir waren. Ich kann ihnen ein Album nennen, das für mich in den frühen 90er-Jahren wichtig war: 'Spiderland' von der Band Slint aus Louisville im US-Bundesstaat Kentucky. Es war ihr zweites Album, erschienen 1991. Und es war damals die Antithese zum Grunge Sound. Man hört das vor allem an der Stimme von Sänger und Gitarrist Brian McMahon, der eher wirkte als würde er Dokumentarfilme moderieren. Auch aus der Rückschau ist ihre Musik gut, distanziert, kompliziert aber mit Drive."