Klassiksommer in Neu-England

Von Jürgen Kalwa |
Das bedeutendste Musikfestival Nordamerikas wird 75. Tanglewood ist Sommersitz des Boston Symphony Orchestras, Anlaufstelle für bedeutende Dirigenten und Ausbildungsstätte für den Musikernachwuchs. Christoph von Dohnányi dirigierte zum Auftakt drei Werke von Ludwig van Beethoven, die bereits 1937 auf dem Programm standen.
Anfang Juli erwacht in der hügeligen Landschaft von Neu-England unter riesigen alten Bäumen ein Park zu ganz besonderem Leben. Man hat das Gefühl, dass hier zwei amerikanische Ideale zusammenkommen. Weitläufige Natur. Und Kultur. An einem normalen Konzertabend pilgern 12.000 Zuschauer nach Tanglewood.

So viele waren es auch zum Auftakt der neuen Saison, als Christoph von Dohnányi auf die Bühne trat und mit drei Werken von Ludwig van Beethoven den diesjährigen Programmzyklus eröffnete.

Im cremigen Klang des Boston Symphony Orchestras, das hier kurz BSO genannt wird, schwang an jenem Abend allerdings noch ein bisschen mehr mit. Denn just diese drei Stücke – die Leonoren Ouvertüre Nummer 3 und zwei der Sinfonien, die Sechste und die Fünfte – waren genau vor 75 Jahren schon einmal aufgeführt worden. Im August 1937, als die Geschichte des Sommermusikfestivals von Tanglewood begann. Auf einem ehemaligen Familien-Landsitz in der schon damals sehr wohlhabenden Gegend im Westen von Massachusetts. 120 Hektar Rasen, Bäume, Teiche und mehrere Gebäude. Einst Treffpunkt namhafter amerikanischer Schriftsteller wie Herman Melville, Nathanial Hawthorne und Edith Wharton.

Tanglewood ist heute das bedeutendste Festival seiner Art in Nordamerika. Und das nicht nur wegen der Konzerte, sondern auch wegen seiner Rolle in der beruflichen Entwicklung junger Talente, die hier acht Wochen lang in zahlreichen Meisterklassen mit hervorragenden Vertretern ihrer Kunst zusammenarbeiten können.

Auch von Dohnányi, inzwischen 82 Jahre alt und schon lange einer der beliebtesten Gastdirigenten in Tanglewood, hatte hier einst als junger Musiker einen lehrreichen Sommer verbracht. Er erinnert sich gerne an die Begegnungen von 1952 mit all den Kollegen, in deren Fußstapfen er später treten sollte:

""Damals war der Bernstein da. Der Lukas Foss war da. Der Seymour Lipkin, der auch Dirigieren unterrichtete – ein wunderbarer Musiker. Dann war da Copeland. Man konnte diese Menschen kennenlernen, konnte sie auch Tag und Nacht irgendetwas fragen, ganz anders als in Europa.”"

Eine Begegnung war besonders denkwürdig:

" "Wir haben ganz schön studiert. Ziemlich hart studiert. Ich habe dirigiert. In einer Dirigierklasse und habe eine andere Dirigiertechnik angewandt, als sich das der dortige Dirigierlehrer damals vorgestellt hat. Und es funktionierte auch. Dann plötzlich hatte ich eine Hand auf meiner linken Schulter, von hinten, und dann sagte einer: 'If it works, you just do it.' Das war Bernstein. Dann entwickelte sich auch eine gewisse Freundschaft.”"

Leonard Bernstein und Tanglewood – das ist eine der prägenden Beziehungen in der amerikanischen Konzertwelt des 20. Jahrhunderts. Sie begann 1942, als Serge Koussevitzky, der umtriebige Chef des BSO, das Riesentalent einlud, um hier im Sommer als sein Assistent zu arbeiten. Bernstein war erst 24, doch seine ersten, emotional aufgeladenen Konzerte sorgten für Aufsehen. 50 Jahre lang kam er fast jeden Sommer, um zu unterrichten und zu dirigieren. Auch sein allerletztes Konzert wenige Monate vor seinem Tod 1990. Beethovens 7. Sinfonie.

Da lebte Koussevitzky schon lange nicht mehr. Der aus Russland stammende Komponist und Dirigent hatte in den 20er-Jahren das Boston Symphony Orchestra übernommen. Und er wollte damals noch mehr, sagt Mark Volpe, der geschäftsführende Direktor:

""Koussevitzky hatte ein Problem. In seinem Orchester spielten hauptsächlich Europäer, die nach dem Ende der Saison nach Frankreich oder Deutschland fuhren – um eine Frau zu finden oder einen Job. Und dann kamen sie nicht wieder zurück. Er wollte die Musiker das ganze Jahr über engagieren, um nicht jeden Herbst das Orchester neu zusammenstellen zu müssen. Ihm war klar: Um ein großartiges Orchester aufzubauen, brauchst du Kontinuität.”"

Tatsächlich ist heute kein Orchesterbetrieb auf der Welt größer als das der Boston Symphony, betont Volpe. Das Jahresbudget liegt bei knapp 100 Millionen Dollar. In dem Betrag ist das Festival ein erheblicher Posten:

" "30 Prozent der amerikanischen Orchestermusiker kommen nach Tanglewood, für einen Sommer oder zwei. Wir subventionieren und unterrichten auch die Musiker der anderen.”"

Koryphäen wie Claudio Abbado, Leonard Bernstein, Lorin Maazel, Zubin Mehta, Michael Tilson, Leontyne Price, Cheryl Studer kamen nach Tanglewood. Und Christoph von Dohnányi natürlich. Zu ihren Hinterlassenschaften gehört, dass hier eine ganze Reihe von Werken der musikalischen Weltliteratur, sei es von Mozart oder von Schostakowitsch oder Stockhausen zum ersten Mal in den USA aufgeführt wurden.

Das Vergnügen ist nicht teuer. Eine Tageskarte kostet 20 Dollar. Kinder und Jugendliche haben freien Eintritt. Für einen der 5000 überdachten Sitzplätze zahlt man bis zu 100 Dollar. Die Preispolitik erklärt den anhaltenden Zuspruch und Erfolg des Sommerfestivals im Grünen. Chefmanager Mark Volpe kann trotzdem die Hände nicht in den Schoß legen. Die jährlich über 25 Sinfoniekonzerte, 30 Kammermusikkonzerte und das Festival mit neuer Musik, das in einem kleinen Konzertsaal auf dem Gelände stattfindet – wollen aufs bestmögliche beworben und vermarktet werden. Zu den neuen Ideen gehört eine Webseite, über die die Konzerte in alle Welt ausgestrahlt werden. Am Tag der Aufführung sogar kostenlos.
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