Picassos unbekannte Muse
Dora Maar, Francoise Gilot, Jacqueline Roque. Diese Frauen an Picassos Seite sind weltberühmt. Sylvette David kennen dagegen nur die Wenigsten. Eine Ausstellung widmet sich nun erstmals ganz der heute 79-Jährigen.
Sylvette David steht an einer befahrenen Straße und zeigt aufgeregt auf eine zweistöckige Villa, die sich hinter einem Zaun verbirgt. Damals, erzählt sie, 1954, als sie mit ihrer Mutter und ihrem Verlobten in Vallauris lebte, war die Stadt ein kleines Töpferdorf. Keine Zäune vor den Häusern, keine Straße. Nur Feldwege, Obstbäume, kleine Werkstätten mit offenen Gärten und Innenhöfen. Und diese Villa, das war Picassos Atelier. Er lebte von 1948 bis 55 in Vallauris, und so lernten sie sich kennen, Picasso und Sylvette – der 72-jährige berühmte Künstler und die 19-jährige schüchterne Französin mit dem blonden Pferdeschwanz.
David: "Eines Tages saß ich mit Freunden auf der Terrasse, sie hatten ihr Studio direkt gegenüber von Picassos Atelier. Und auf einmal kam Picasso mit einer Zeichnung zu uns herüber. Sie zeigte ein Mädchen mit einem Pony und einem hohen Pferdeschwanz. Alle wussten, dass ich das war, denn nur ich trug damals diese Frisur, sie war sehr ungewöhnlich. Und dann sagte er vor meinen ganzen Freunden: Ich möchte gerne Sylvette malen. Ich war völlig überrascht, denn in unserer Gruppe war ein Mädchen, die ich viel schöner fand, sie war sexy und selbstbewusst. Ich war überhaupt nicht selbstbewusst. Sie meinen wirklich mich, habe ich ihn gefragt? Und Picasso sagte: Ganz genau."
Und so saß ihm Sylvette Modell, zwei Monate lang fast jeden Tag.
"Er sagte kein Wort, er war hoch konzentriert. Und ich schaute die ganze Zeit aus dem Fenster, auf die Berge von Vallauris."
Und so sind fast 50 Porträts entstanden: Sylvette in Öl, Sylvette gezeichnet, mal realistisch, mal kubistisch.
Ein rein künstlerisches Intermezzo
Als erstes deutsches Museum überhaupt kaufte die Bremer Kunsthalle 1955 einen Picasso – es war ein Gemälde aus dieser Sylvette-Serie. Zum ersten Mal überhaupt wird sie nun ausgestellt und damit auch ernstgenommen. Denn bisher war Picassos Kurzzeitmuse nicht mehr als eine . Vielleicht, weil es keine emotionale Bindung gab und keinen Sex.
"Ich habe nie gesagt: Ich kann auch nackt für Sie Modell sitzen. Andere Frauen hätten das vielleicht getan, aber für mich war das nichts. Picasso hat aber versucht, mich dazu zu bewegen, indirekt. Denn einmal hat er mir eine Zeichnung gezeigt, auf der ich nackt war, und er sagte: Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich dich in meiner Vorstellung so gezeichnet habe. Nein, nein, sagte ich, aber ich habe mich nie vor ihm ausgezogen. Ich war zu schüchtern."
Sylvette war für Picasso ein Intermezzo, ein rein künstlerisches. Picasso steckte 1954 in einer Krise: Françise Gilot hatte ihn gerade mit den gemeinsamen Kindern verlassen, die nächste Frau, Jaqueline Roque, stand bereits in der Wartschleife. Der Künstler hat sich an seiner jungen Muse regelrecht abgearbeitet, hat alle möglichen Stile und Techniken ausprobiert, sogar Keramiken und gefaltete Metallskulpturen gibt es von dem Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Und nach zwei Monaten war alles vorbei.
"Ich weiß nicht mehr, wie viele Porträts er von mir gemacht hat, aber am Ende lagen alle Bilder auf dem Atelierboden, und er sagte: Such dir eins aus. Und ich habe mich für ein realistisches Porträt entschieden."
Tränen beim Widersehen mit dem Porträt
Sylvette ist noch heute eine schöne Frau. Die Haare trägt sie immer noch lang, mit zwei geflochtenen Zöpfen an den Seiten. Wie ein spätes Blumenmädchen läuft sie mit langem Rock und Schottenkaro-Mantel staunend durch ihre eigene Geschichte. Inzwischen ist sie selbst Künstlerin, malt, zeichnet, aquarelliert. Manchmal versucht sie zu malen wie Picasso, gesteht sie, und sie vermisst das Bild, dass sie sich damals aussuchen durfte.
"Ich habe es verkauft, als ich 21 war. Wir brauchten damals das Geld. Mein Mann wurde sehr krank. Aber ich habe das Bild tatsächlich wiedergesehen. Es ist inzwischen bei einem Sammler in London. Er las einen Artikel über mich in der Zeitung, wo ich über dieses Bild geredet habe, dass ich gerne wissen würde, wo es ist. Naja, und dann rief er mich an. Ich habe geweint, als ich vor meinem Porträt stand, all die Erinnerungen, wie ich es damals eingerollt unter dem Arm durch Vallauris getragen habe."
Die Ausstellung in Bremen ist für Sylvette David eine Herzensangelegenheit. Sie hat viele Sammler in persönlichen Briefen gebeten, ihre Werke auszuleihen. Mit ihrer Hilfe ist es der Kunsthalle schließlich gelungen, 30 Porträts aus dem Sylvette-Zyklus zusammenzutragen.
"Es ist sehr aufregend. Ich kehre zurück in meine Jugend, diese Zeit mit Picasso. Es ist auch ein Schock, denn ich habe die Bilder ja seit 60 Jahren nicht mehr gesehen. Es ist so, als würde ich auf einen Schlag in meine Kindheit zurückkehren. Für mich schließt sich ein Kreis."