Berthold Seliger: Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle
Matthes & Seitz, Berlin 2017
496 Seiten, 24 Euro
"Das Opernpublikum läuft davon"
Mit dem Buch "Klassikkampf" attackiert der Konzertagent Berthold Seliger gleich mehrere Gegner: das bildungsbürgerliche Publikum, die Opernhäuser, die Politik und die Schulen, an denen wir "fast musikalischen Analphabetismus kreieren". Im Gespräch verteidigt Seliger seine Generalabrechnung.
Mascha Drost: "Zum Ritual erstarrt, verflacht und elitär: Die klassische Musik steckt in einer tiefen Krise. War sie früher ein subversiver Einspruch gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, dominieren heute cleane Inszenierungen und grenzenlose Kommerzialisierung." So. Und das war nur der Klappentext. Der Klappentext des Buches "Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle." Und zum Kampf ruft auf der Autor und Konzertagent Berthold Seliger. Herzlich willkommen im Studio!
Berthold Seliger: Guten Tag, Frau Drost!
Berlin ist eine Insel
Drost: Der Klassikkampf muss neu ausgefochten werden, fordern Sie, und machen gleich mehrere Fronten auf. Da ist zum einen das Publikum, das, wenn es überhaupt in Konzerte geht, dann ist es ohnehin nur im Rentenalter, setzt sich nur zur Entspannung in die Opernhäuser, und am liebsten hört es alte Kamellen, und in den Konzertprogrammen ewig die gleichen Werke. Kommerz geht über alles. Vielleicht spreche ich jetzt für die Berliner Szene, aber wenn ich im Konzerthaus bin, in der Komischen Oper, auch in der Philharmonie, habe ich eigentlich nirgendwo das Gefühl, einem starren Ritual beizuwohnen. Es gibt neue Konzertformen, die Programme sind meistens interessant. Das Publikum ist gemischt. Bewegen wir uns da in verschiedenen Sphären?
Seliger: Wir leben in Berlin natürlich so ein bisschen auf einer Insel. Das ist eine moderne, weltoffene Stadt, und da passiert ja auch sehr vieles. Es ist ja nicht so, dass nichts geschehen würde. Aber im Großen und Ganzen ist es tatsächlich noch so, dass diese Rituale immer noch dominieren, dass wir bundesweit diese Situation haben.
Drost: Was verstehen Sie unter Ritualen?
Seliger: Rituale heißt, das ich eigentlich in ein Konzert gehe als Teil einer wie auch immer Distinktionsgesellschaft, dass ich einen Bildungsvorteil habe, dass ich im Grunde mein Bildungskapital zur Schau stelle, und dass ich letztendlich auch als Konzertbesucher eigentlich nicht gefordert, sondern unterhalten werden möchte. Das ist, glaube ich, schon noch immer ein Großteil des Publikums. Darüber hinaus gibt es die sehr gut Informierten, darüber hinaus gibt es die Leute, die etwas Neues erleben wollen, die gefordert werden wollen. Ich glaube, sie werden mehr, deswegen ist das eigentlich auch eine Chance, mit der wir zu tun haben. Aber klar, wenn man etwas ändern will, muss man ein klein wenig übertreiben.
Langeweile bei den immer gleichen Inszenierungen
Drost: Sie gehen ja auch hart mit den Opernhäusern ins Gericht, die die immer gleichen Stücke in teils jahrzehntelangen Inszenierungen zeigen. "Clean" nennen Sie das. Das ist ja mal ein Angriff von ganz anderer Seite. Normalerweise hagelt es ja immer Kritik von den Feuilletons, es wird über das Regietheater geschimpft, das das Publikum verscheuche, die Stücke massakriere. Vielleicht stimmt ja die Balance.
Seliger: Ich weiß nicht – diese Kritik am Regietheater finde ich ein bisschen langweilig. Das sind natürlich die Konservativen, die da Abwehrkämpfe gegen alles Neue vorantreiben. Natürlich ist es manchmal so, dass einem das Regietheater nicht gefällt. Und wenn ich mir einen "Tristan" anschaue, dann ist natürlich die Musik eigentlich das Bewegende daran. Und wenn das dann noch jemand wir Barenboim dirigiert, was gibt es da mehr an Glück, was man finden kann? Aber das ist ja nicht das Thema. Das Thema ist ja die Frage, wie kann ich das insgesamt ändern, diese Situation, dass wir die immer gleichen Operninszenierungen haben, dass da sehr viel Langeweile produziert wird, und gleichzeitig das Opernpublikum davonläuft. Wir haben fast 50 Prozent weniger Leute, die in Opern gehen, wenn ich das mit Anfang der 90er-Jahre vergleiche.
Drost: Aber erstaunlicherweise sind diese alten Inszenierungen mit den Zöpfen meistens voll.
Seliger: Ich habe ein anderes Erleben. Das mag auch der Fall sein, aber es ist auch so, dass, wenn Sie zum Beispiel Barockopern anschauen, wenn Sie sich die Inszenierungen an der Komischen Oper anschauen, wo es ja wirklich um was Modernes, um was Neues geht, das ist eine schöne Mischung vom Publikum. Da sind auch viele junge Leute, da sind natürlich auch die älteren da, und die freuen sich darüber, dass da etwas Neues präsentiert wird. Ich glaube, das zeigt sehr schön, dass man mit einer Musik- und einer Inszenierungsform, die etwas fordert, die etwas Neues wagt, dass man damit gewinnt.
"Das Bildungsniveau war früher viel höher"
Drost: Sie schreiben ja auch, der Konzertsaal sei noch immer vorrangig eine Sphäre der Gebildeten, und je niedriger der Bildungsabschluss, desto niedriger die Wahrscheinlichkeit, auch den Weg ins Konzert zu finden oder in die Oper. Aber nun legen immer mehr Schüler das Abitur heutzutage. Es gibt kaum ein Haus ohne Education-Programme. Man bekommt ja kaum mehr Karten für Kinderkonzerte. Für die Zukunft des Konzertpublikums sieht das doch eigentlich rosig aus, also viel rosiger als noch vor 20, 30 Jahren.
Seliger: Das weiß ich nicht, ob das so ist. Ich glaube, dass das allgemeine Bildungsniveau, auch, was musische Bildung angeht, früher viel höher war. Und dass deswegen natürlich auch – es gibt da so diese These, wenn die Leute immer älter werden, dann kommen sie automatisch in die Klassikkonzerte. Das glaube ich nicht, dass das heute noch so funktioniert, weil die Leute vor 30 hatten noch eine Ausbildung, in der klassische Musik eine Bedeutung gehabt hat. Das ist heute nicht mehr so. Und warum sollten die Leute mit 60 heute nicht weiter in Rockkonzerte gehen. Die finden ja manchmal auch schon bestuhlt statt. Ich glaube, dass dieser Automatismus, dass man mit zunehmendem Alter in die Klassikkonzerte oder in die Oper geht, nicht mehr funktioniert.
"Es geht um die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft"
Drost: Sie beschreiben ja auch beziehungsweise Sie beziehen sich auch sehr viel auf die frühere Zeit. Beethovens Zeit spielt bei Ihnen eine große Rolle. Der Klassikkampf muss neu ausgefochten werden, schreiben Sie. War er denn jemals gewonnen? Denn die Anzahl der Menschen, die an Hochkultur partizipieren können, die ist ja ungleich größer heutzutage als etwa zur Beethoven-Zeit. Wer konnte denn da zu Konzerten gehen? Das waren ja wirklich nur die Adeligen, die Reichen.
Seliger: Was die Möglichkeiten angeht, stimme ich Ihnen zu. Man kann im Streaming, im Radio, die CD, also die technische Reproduzierbarkeit spielt eine große Rolle. Dennoch wird es nicht genutzt, und das ist ja auch eine interessante Frage. Und es stimmt übrigens nicht, dass man zu Beethovens Zeiten nur die Adeligen in den Konzerten gefunden hat. Da gab es auch öffentliche Konzerte, da konnte man Karten kaufen, beim Komponisten sogar selber. Also letztendlich haben wir aber ein Problem, und das ist auch ein Problem eines Teils dieser Education-Programme. Das sind natürlich eher Programme, die für Sophie und Anna und Maximilian sind, und nicht für Aischa und Yüksel und Mandy. Also, wir haben da – letztendlich hat, glaube ich, ein Teil der Mittelschicht, der bildungshungrigen Mittelschicht, erkannt, da muss mehr passieren.
Wir wollen, dass unsere Kinder in die Konzerte gehen, dass sie diese klassische Ausbildung auch bekommen. Das ist schön, das ist ehrenwert und das ist erfreulich, aber ein großer Teil der Gesellschaft partizipiert daran eben gar nicht. Und natürlich haben wir diese ganzen Statistiken, die sogenannten bildungsfernen Schichten, die aber natürlich auch niemals ins klassische Konzert gehen. Und ich glaube, da müssen wir ansetzen, weil letztendlich geht es um kulturelle Vielfalt in unserer Gesellschaft, und kulturelle Vielfalt muss man lernen. Die ist nicht automatisch da, sondern man muss lernen, wie geht man denn überhaupt in ein Konzert, was passiert denn da überhaupt hinter diesen verschlossenen Mauern der Opernhäuser und der Philharmonie.
Neoliberale Jahre des Missvergnügens
Drost: Und Sie stellen ja Forderungen auf am Ende Ihres Buches, die jedem Menschen, der um den Wert von Musik weiß, Tränen in die Augen treiben können. Musische Bildung muss in allen Schulen im Zentrum stehen. Verbindlicher Instrumentalunterricht Musiker öffentlich finanzierter Orchester einmal die Woche in den Unterricht, freier Eintritt in Museen. Was steht denn dieser Utopie im Wege?
Seliger: Die Politiker würden immer sagen, das Geld. Da fehlt uns Geld. Aber wenn man sich anschaut, für welchen Unsinn zig Millionen ausgegeben werden, kann das eigentlich nicht so ein wirklich stichhaltiges Argument sein. Ich glaube natürlich, es hat auch was mit den neoliberalen Jahrzehnten des Missvergnügens zu tun, wo wir uns bewegen, wo Bildung natürlich immer weniger zählt. Schauen Sie sich an, in den USA ist jemand Präsident geworden, der im Wahlkampf ausdrücklich gesagt hat, ich liebe die Ungebildeten, weil die mich viel eher wählen als diejenigen, die Bildung haben. Letztendlich ist es doch so, seit der Mensch zum Menschen geworden ist.
Sie haben alte Flöten in Steinzeithöhlen gefunden, die 40.000 Jahre alt sind. Platon hat die musische Bildung ganz nach vorn gestellt. Also, eigentlich, seit der Mensch zum Menschen geworden ist, beschäftigt er sich mit ästhetischen Äußerungen, aktiv oder passiv. Das scheint also ganz wichtig für den Menschen zu sein. Und heute haben wir aber eine Situation, dass wir eigentlich hauptsächlich an Schulen fast musikalischen Analphabetismus kreieren. Da müssen wir zurück. Wir müssen wieder dahin, dass musische Erziehung im Zentrum der allgemeinen Bildung steht.
Bessere Bildung schon in der Grundschule
Drost: Genau. Aber was können wir denn tun? Was kann jemand, der in den Klassikkampf ziehen möchte, tun, damit es sozusagen zu dieser Utopie kommt, damit die erfüllt wird? Damit jedes Kind, egal aus welchem Elternhaus, partizipieren kann?
Seliger: Die Forderungen sind tatsächlich die an die Politik, an unsere Kulturpolitiker, zu sagen, musische Bildung muss prioritär sein, jede Schülerin, jeder Schüler in einer deutschen Schule muss ein Instrument lernen. Das muss von allem in den Grundschulen beginnen, ich würde sogar sagen, in den Kindertagesstätten. Es muss sehr früh beginnen, denn wir haben da ja ein irrsinniges – gut, ich will das jetzt nicht "Kapital" nennen, aber das Schöne ist ja, Kinder sind irrsinnig neugierig, von Haus aus. Sie wollen alles lernen, sie wollen etwas erfahren über die Welt. Und da müssen wir ansetzen. Kinder sind vollkommen offen für Kinderlieder, aber auch für moderne, zeitgenössische Musik wie von Bartok oder Hindemith.
Wir haben leider ein Bildungssystem, in dem wir unterproportional wenig für die frühe Erziehung ausgeben, da sind wir, glaube ich, auf Platz hundert, über hundert im Weltmaßstab. Und wir geben sehr viel, überproportional viel für Oberstufe und Studium aus. Es muss andersherum sein. Wir müssen da beginnen, wo die Kinder im Grunde die kulturelle Vielfalt lernen, wo sie sie erleben können. Wir müssen also viel mehr in die Grundschulbildung, in die musische Bildung an Kindertagesstätten und Kunstschulen stecken.
Drost: Der Klassikkampf hat also gerade erst begonnen. Berthold Seliger war das. Vielen herzlichen Dank!
Seliger: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.