Klassismus

Der abschätzige Blick auf die "Unterschicht"

Pfandsammler aus Straße.
Wer kein Geld hat und Pfandflaschen sammeln muss, sei selbst schuld: So ein übliches klassistisches Vorurteil. © picture alliance / Noah Wedel
18.07.2024
Begriffe wie „bildungsfern“ oder „einfache Leute“ zeigen, wie auf Menschen aus der Arbeiter- oder Armutsklasse herabgeschaut wird. Klassismus wird die Diskriminierung aufgrund der sozialen Zugehörigkeit genannt. Und die ist sehr weit verbreitet.
Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse ist unserer Gesellschaft allgegenwärtig: Sei es, wenn Abiturientinnen und Abiturienten sogenannte "Trashpartys" feiern, bei denen sie sich so anziehen, wie sie sich die angebliche „Unterschicht“ vorstellen: mit Alditüten ausgestattet, stark geschminkt und mit sogenannter „schlechter Musik“ als Untermalung.
Oder als Friedrich Merz 2020 befürchtete, dass Menschen, die während der Coronapandemie ihrer Lohnarbeit verloren haben, keine Lust mehr auf Arbeit hätten.
Immer wieder wird das Klischee der faulen und arbeitsunwilligen Erwerbslosen neu bemüht. Auch das sogenannte Unterschichten-TV lebt von diesem Bild.
„Erwerbslose werden als dumm, faul, frech und ungepflegt dargestellt – und es wird der Eindruck erweckt, sie seien selbst schuld an ihrer Situation“, schreibt dazu Francis Seeck, Professor*in für soziale Arbeit.
Solche Vorurteile offenbaren, wie sehr Klassismus in unserer Gesellschaft verankert ist. Doch was ist Klassismus eigentlich? Woher stammt der Begriff? Und welche Auswirkungen hat er?

Wie wird Klassismus definiert?

Klassismus ist eine Diskriminierungsform wie beispielsweise Rassismus oder Sexismus, nur bezogen auf die soziale Zugehörigkeit oder Klasse. Menschen werden aufgrund der Zuordnung zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht diskriminiert und unterdrückt.
Mode- und Musikgeschmack, Sprache und Umgangsformen werden dabei meist an bürgerlichen Normen gemessen. Abweichungen werden als defizitär bewertet.
„Es gibt einen spezifisch bildungsbürgerlichen Klassismus, wo es viel um Lebensstile geht, wo zum Beispiel gesagt wird, armutsbetroffene Menschen würden sich nicht korrekt ernähren oder könnten nicht gesundheitsbewusst leben oder könnten sich nicht gut um ihre Kinder kümmern“, sagt Francis Seeck, Professor*in für soziale Arbeit.
„Da geht es dann darum, dass der eigene Lebensstil als die Norm angesehen wird – und die anderen müssten in die Richtung erzogen werden.“
Betroffen von Klassismus sind oft arme, erwerbslose oder wohnungslose Menschen, Arbeiter*innen und deren Kinder.
Klassismus sei eine „relativ unbekannte Diskriminierungsform, obwohl sie unsere Gesellschaft ganz grundlegend prägt“, sagt Francis Seeck. Die Diskriminierung ziehe sich durch alle Bereiche der Gesellschaft, betont auch der Soziologe Andreas Kemper.

Die Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu

Zur Erläuterung von Klassismus stützen sich viele Wissenschaftler auf die Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu. Die besagt, dass die soziale Position, der Erfolg und die Macht eines Menschen maßgeblich durch die Anhäufung von Kapital bestimmt wird. Dabei unterscheidet Bourdieu zwischen verschiedenen Formen des Kapitals.
Zum einen gibt es das ökonomische Kapital – also Geld, Besitz, Erbe.
Darüber hinaus das kulturelle Kapital wie beispielsweise Bildungsabschlüsse, aber auch die Fähigkeit, sich in den Räumen der Hochkultur selbstverständlich zu bewegen oder in Form von teuren Bildern und Objekten, die zeigen: Ich habe Status.
Zum sozialen Kapital gehören Kontakte und Netzwerke – also Vitamin B: Wen kennt man? Wen kann man anrufen? Welche Kontakte hat man noch aus der Schulzeit?
Diese Formen des Kapitals verschränken und verstärken sich: So ermöglicht Geld beispielsweise den Zugang zu einer privaten Universität. Dort entstehen Netzwerke und Kontakte und man erlernt, wie man sich innerhalb der akademischen Kreise verhält.
Gleichzeitig ermöglicht der Universitätsabschluss wiederum einen guten Job – und damit ein hohes Einkommen. Von dem gut dotierten Arbeitsangebot erfährt man durch einen ehemaligen Studienkollegen.
Es seien die „feinen Unterschiede“, die Klassenposition und gesellschaftlichen Erfolg miteinander verknüpfen, betont Kemper. Oft geht es um einen Habitus, der durch die soziale Position der Eltern geprägt und den Kindern schon in frühen Jahren mitgegeben wird.
Dabei können bereits Kleinigkeiten Ausdruck von Klasse sein und zu Diskriminierung führen: beispielsweise der Vorname oder die Adresse. Wer Kevin oder Chantal heißt, wird zum Beispiel oft benachteiligt.

Welche Folgen hat Klassismus?

Durch Diskriminierung, Ausbeutung und Ausgrenzung entstehen große Machtunterschiede, so der Klassismusforscher Andreas Kemper. Die Folge: Wer reich ist, bleibt reich. Wer arm ist, bleibt arm. Auch in Deutschland seien die Milieus „sehr stark zementiert“, sagt Kemper. Wer in eine bestimmte soziale Herkunft geboren werde, bleibe meist in diesem Milieu.
Klassistische Strukturen und klassistisches Denken führten dazu, „dass die Klassengesellschaft aufrechterhalten und legitimiert wird“, betont Kemper.
„Klassismus durchzieht unser ganzes Leben, er beginnt schon vor der Geburt und reicht über den Tod hinaus. Klassismus zeigt sich auf dem Wohnungsmarkt, bei Fragen der Gesundheit. Klassismus lädt Menschen aus dem Kulturbereich aus und prägt politische Debatten“, schreibt Kulturanthropolog*in Francis Seeck.

Ungleiche Chancen in der Schule

Klassismus zeigt sich auch im deutschen Bildungssystem: Hier entscheidet die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler noch immer maßgeblich über ihren Erfolg, wie in zahlreichen Studien nachgewiesen wurde.
Das Ergebnis ist immer das gleiche: Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss haben es deutlich leichter, ans Gymnasium zu kommen und Abitur zu machen als etwa Kinder aus Arbeiterfamilien. Diese Tendenz setzt sich an Unis und Hochschulen fort.
Zum einen liege das an den Vorurteilen der Lehrer und Lehrerinnen, so Seeck. Aber es gebe auch viele Eltern, die nicht wollen, dass ihre Söhne oder Töchter mit Kindern anderer sozialer Herkunft auf die Schule gehen, betont Klassismusforscher Andreas Kemper. „Volksentscheide wurden immer gegen Gesamtschulen, gegen Schule für alle entschieden.“
Das Bildungssystem sei durch bürgerliche Normen geprägt, so Kemper. Außerdem werden Menschen im deutschen Bildungssystem sehr früh selektiert. “Hauptschule, Realschule, Gymnasium. Dann gibt's noch Förderschulen. Und danach wird ausgesiebt.“

Wer arm ist, stirbt früher

Dass Armut krank macht, zeigen Studien immer wieder: Die Grundversorgung, Bürgergeld oder Niedriglohn reichen nicht aus, um gesundes Essen zu kaufen, kritisieren Expertinnen und Experten. Die Zuzahlungen zu Medikamenten seien zu gering. Starke körperliche Arbeit und eine ungünstige Wohnsituation, beispielsweise an lauten belebten Straßen, setzen dem Körper außerdem zu. Zukunftssorgen verursachen Stress.
„Arme Menschen sterben im Durchschnitt sieben bis zehn Jahre früher als reiche Menschen“, sagt Francis Seeck. „Das heißt, die Lebenserwartung hängt auch sehr von der Klassenposition ab.“

Was macht die Vorverurteilung mit den Betroffenen?

Über Klassismus wird selten gesprochen: Denn oft überwiegt bei den Betroffenen die Scham. „Armutsbetroffen zu sein, wird in unserer Gesellschaft oft noch als selbst verschuldet gesehen“, so Francis Seeck, Professor*in für soziale Arbeit.
„Menschen wird gesagt, du hast dich nicht genug angestrengt. Dadurch isolieren sich betroffene Menschen oft und haben Schwierigkeiten, sich dann zu organisieren.“ Dadurch gebe es kaum eine Lobby.

Welche Kritik gibt es am Klassismus-Begriff?

In Debatten über Klassismus wurde immer wieder der Vorwurf laut, es gehe nur darum, Armutsbetroffenen und Erwerbslosen Respekt und Anerkennung zu verschaffen. Dies lenke vom eigentlichen Ziel ab: die Armut aufzuheben oder zu mindern, Wohlstand umzuverteilen.
Dem widerspricht Tanja Abou, Mitbegründerin des Instituts für Klassismusforschung: Es sei wichtig, dass Erwerbslose und Arbeitende ein Bewusstsein ihrer gemeinsamen Lage entwickeln. Das trage dazu bei, Ausbeutung und Ausgrenzung als Teil eines gemeinsamen Problems zu erkennen. Erst dann könne man gemeinsam etwas dagegen tun.

Was kann man gegen Klassismus tun?

Vielen Menschen haben Klischees und Stereotype verinnerlicht, die unbewusst zu einer klassistischen Abwertung anderer Mensch führen. Sich dieser bewusst zu werden, sei wichtig, sagt Seeck. Wer aus vermögenden Verhältnissen stammt, könne sich dafür beispielsweise mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen – und fragen, woher das Familienvermögen stammt.
Auf gesellschaftlicher Ebene müsse vor allem der Wohlstand durch Steuergerechtigkeit fairer verteilt werden.
Die Frage, ob eine nicht-klassistische Gesellschaft überhaupt möglich sei, bejaht der Soziologe Andreas Kemper. „Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, die sehr viel gleicher ist. Und da wird so lange gekämpft, bis das irgendwann möglich ist.“

lkn
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