Klaus Johannes Thies: Unsichtbare Übungen, 123 Phantasien
Edition AZUR, 148 Seiten, 19 Euro
Funkelnde Fantasien mit Kuchenblech
Klaus Johannis Thies sucht in den "Unsichtbaren Übungen" die Zumutungen der Wirklichkeit - und versammelt unberechenbare und absurde Prosa-Miniaturen. Dabei ist die Fantasie für ihn grenzenlos, und er ist nie um eine textliche Frechheit verlegen.
An einem Morgen wacht ein Mann in seiner Wohnung auf - und ist im falschen Jahrhundert gelandet. Ein Familienfest findet statt, mit Musikern, mit längst gestorbenen Verwandten. Der Erzähler ist mittendrin und sieht ihnen zu, den Veteranen, den Kindern, seinen Vorfahren. Und bekommt, als dann Musik erklingt, vor Wehmut feuchte Augen.
So geht es zu in den "Unsichtbaren Übungen" – unberechenbare und absurde Miniaturen hat Klaus Johannes Thies in diesem Band versammelt. "123 Phantasien", so der Untertitel des Buchs. Der Fantasie sind in der Tat keine Grenzen gesetzt. Mal sitzt der Erzähler mit seiner Mutter in einem Zugrestaurant. Eine vollkommen alltägliche Situation - wäre die Mutter nur nicht so geschrumpft, dass sie in die Hand des Sohns passt und er aufpassen muss, sie nicht einfach im Speisewagen zu vergessen. Eine Miniatur widmet sich der Einsamkeit eines Gebüschs im Winter. Was hat es alles nicht erlebt in seinem tristen Gebüschleben? Vermisst es in der Natur nicht das Geräusch einer italienischen Kaffeemaschine?
Oft ist der Anstoß für die Texte eine Detailbeobachtung. Und dann sind sie nicht mehr zu bremsen. Fast traumwandlerisch kombinieren sich da Bilder, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben – Erinnerungen an die Kindheit, schmerzliche und unerfüllte Sehnsüchte, Banalitäten, die bei genauer Betrachtung gar nicht banal sind. So wird zum Beispiel ein Kuchenblech zum Miniatur-Schlachtfeld eines Weltkriegs.
Minimalistische Strenge
Selten sind die Texte länger als eine Seite - trotz der überbordenden Einfälle. Mit minimalistischer Strenge geht Klaus Johannes Thies mit seinen Ideen um – und ist nie um eine textliche Frechheit verlegen. So endet eine Miniatur über das Haus, in dem der Erzähler aufgewachsen ist, mit der Erkenntnis von Vergeblichkeit:
"Natürlich wünscht sich keiner, dass das hier weitergeht, oder irgendwo hinführt. Darum lassen wir das jetzt."
Oft funkeln diese Miniaturen, haben Wucht, Witz und Tiefe, trotz ihrer drastischen Kürze. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Autor eine Miniatur Samuel Beckett widmet und sich vorstellt, wie all die Briefe, die er ihm geschickt hat, nach wie vor in der Wohnung des Nobelpreisträgers verstauben.
Einziger Wermutstropfen: Mitunter driften die Texte sehr ab in saftelnde Männerfantasien, werden Frauen durch bloßes Tragen von Röcken oder Frisuren zum allzu simplen Objekt männlichen Begehrens – hier wiederum fehlt es manchmal an Minimalismus.
Trotzdem ein erfrischendes, ein kostbares Buch eines offenkundig sturen Autors, dessen Beharrlichkeit nach vielen Jahren nun belohnt wird. Die kleine Dresdner „edition AZUR" hat es geschafft, mit den „Unsichtbaren Übungen" einen Überraschungserfolg zu feiern. Die ersten zwei Auflagen waren bereits nach kurzer Zeit vergriffen – eine berechtigte Würdigung dieser zu Unrecht vernachlässigten Kurzprosa.