Klaus-Jürgen Liedtke: Die Ostsee: Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren
Verlag Galiani, Berlin 2018, 656 Seiten, 39 Euro
Mammutwerk über die Ostsee
128 Texte, 106 Autoren, 650 Seiten - und ein Thema: die Ostsee. Klaus-Jürgen Liedtke hat eine der umfassendsten Kulturgeschichten der Ostsee verfasst. Damit will er die grenzüberschreitende Gemeinschaft fördern und die Kulturen zusammenbringen.
Frank Meyer: Jetzt haben wir hier eine prächtigen Band auf dem Tisch, großes Format, zweieinhalb Kilo Buch, gut 650 Seiten. Ein Buch über 2000 Jahre Kulturgeschichte der Ostsee. 128 Ostsee-Texte stecken in diesem Buch, und dahinter muss ein manischer Sammler stehen. Und der heißt in diesem Fall Klaus-Jürgen Liedtke. Er hat das Buch herausgegeben und ist jetzt hier im Studio. Seien Sie willkommen, Herr Liedtke!
Klaus-Jürgen Liedtke: Guten Morgen!
Meyer: Sie sind Übersetzer, Sie schreiben selbst Bücher, und Ihr bisheriges Leben, das haben Sie, soweit ich sehe, rings um die Ostsee verbracht. An welchen Orten waren Sie denn da zu Hause?
Liedtke: Ich hatte eine Tante in Lübeck, dort war ich schon am Ostseestrand in Travemünde. Ich habe in Kiel studiert, ich habe zwei Jahre in Schweden studiert, in Upsala. Ich war natürlich häufig in Stockholm und fünf Jahre in Finnland, in Turku, Schwedisch Åbu. Ich habe versucht, meine Welten zusammenzubringen, mit der Herkunft aus Ostpreußen von den Eltern her. Wir waren Flüchtlinge, und man versucht, das Ganze zu bündeln und einmal zusammenzuschnüren.
Idee eines übergreifenden Friedenswerks
Meyer: Das war schon einmal ein Grund, dieses Buch zu machen, auch Ihre Lebenserfahrungen zusammenzubringen. Aber was darüber hinaus hat Sie bewegt, diese riesige Textsammlung zusammenzutragen?
Liedtke: Es ist ja nicht nur die deutsche Ostsee, das betone ich immer, sondern es ist grenzüberschreitend. Es ist wirklich ein Bild des Ganzen, jedenfalls der Versuch, so einen Jahrhundertblick neu zu justieren. Ich denke, ganz wichtig ist, dass man auch eine neue grenzüberschreitende Gemeinschaft damit initiieren möchte. Es ist also verflochten in die ganzen Antagonismen dieses Meeres über die Jahrhunderte hinweg. Natürlich auch die Handelsbeziehungen, mit der Hanse angefangen. Aber daraus erwächst eben auch die Idee eines übergreifenden Friedenswerks. Ich erinnere nur an Kant, der nicht vertreten ist im Buch, weil das zu lang ist. Aber sein "Ewiger Frieden" ist natürlich ein Grundtext der Ostsee, ein zentraler Königsberg-Text.
Meyer: In Ihrem Buch ist auch die Rede von einem gemeinsamen Nationalgefühl der Ostseevölker. Diesen Begriff hat der Dichter und Theoretiker Johann-Gottfried Herder im 18. Jahrhundert mal aufgebracht. Würden Sie tatsächlich sagen, so etwas gibt es, ein Nationalgefühl der Ostseevölker?
Liedtke: Nein, nicht. Aber als Idee ist es doch eigentlich ganz reizvoll. Und es steht auch zum Beispiel in der Regierungserklärung der schwedischen Regierung, dass man so eine neue Identität schaffen möchte. Ich kann vielleicht ein wenig dazu beitragen. Aber bei Herder war es natürlich so, dieses Nationalgefühl war auch ein historischer Prozess. Das gab es ja nicht. Er hat angefangen, eben auch zu sammeln, Volkslieder der Balten zum Beispiel, der Lappen, der Isländer und so weiter, also das ganze Skandinavische mit Nordosteuropa zusammengebracht. Und dann auf seiner Reise von Riga, 1769, nach Nantes und weiter nach Straßburg, wo er Goethe traf, und nach Weimar, hat er eigentlich dieses ganze, die Volkspoesie eigentlich neu gesammelt und dann auch bekannt gemacht in Mitteleuropa. Und das hat eigentlich auch dann so einen Weg der Selbstwerdung dieser Nationen befördert im 19. Jahrhundert. Und das Organische dabei ist eigentlich, dass man auch zum ersten Mal einen ganzheitlichen Blick entwickelt. Das ist eigentlich das Neue an Herder.
Die Hanse - die Zeit der Gemeinsamkeit
Meyer: War seine Zeit eine Zeit, in der eine Gemeinsamkeit der Ostseenationen am stärksten ausgeprägt war? Oder gab es andere Zeiten, zum Beispiel die Zeit der Hanse, wo ja viel über die Ostsee Handel betrieben wurde?
Liedtke: Ja, natürlich die Hanse. Aber da gibt es natürlich wenig schriftliche Zeugnisse. Die gemeinsame Lingua franca waren damals das Plattdeutsche und das Lateinische. Ich hab auch sehr viele Texte aus dem Lateinischen aufgenommen. Aber die Hochzeit war dann eigentlich um das Jahr 1800, als man die Ostsee überhaupt entdeckt hat. Ich erinnere nur an – das erste, älteste deutsche Seebad war Heiligendamm, 1793 nach englischem Vorbild entwickelt. Und um 1800 reisen da alle Gelehrten auch nach Rügen – Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt habe ich mit dabei –, also man entdeckt dann eigentlich erst diese Küste. Caspar-David Friedrich beginnt dann von Greifswald aus zu malen und seine Landschaft in Dresden bekannt zu machen. Zunächst hat man ja die Alpen entdeckt, schon im 18. Jahrhundert. Aber die Ostsee kam eigentlich danach.
Meyer: So als Freizeitraum.
Liedtke: Ja. Und 100 später hat man dann auch die Freiluftmalerei betrieben. Das begann dann eigentlich mit Pechstein, mit Kirchner um 1908. Das waren so die Hochzeiten, würde ich sagen. Um 1800 und dann eben vor allem auch in den 20er-Jahren, um 1920 herum, als dann nach dem Ersten Weltkrieg all die neuen Staaten gegründet wurden. Man muss bedenken, da entstand ja erst Finnland oder die baltischen Länder. Polen wurde neugegründet. Also ein ganzer Gürtel von neuen Staaten.
Meyer: Gab es eine Hochzeit des Schreibens über die Ostsee, als die Ostsee literarisch am anregendsten war?
Liedtke: Ja, ich denke, schon. Das war eben der Sturm und Drang, und dann eben die Romantik. Die haben die Landschaft überhaupt und die Natur neu entdeckt und neu gesehen.
Von den Alpen an die Ostsee
Meyer: Jetzt haben Sie wie gesagt 128 Texte von 106 Autoren, und Sie haben die, das schreiben Sie in Ihrem Vorwort, angeordnet in Ihrem Buch nach dem schwedischen Prinzip des "Strandhugg" – kurze Anlandung und Überfälle der Wikinger sollen hinter diesem Wort "Strandhugg" stecken. Was heißt das denn jetzt für die Anordnung der Texte?
Liedtke: Es ist so ein bisschen wildes Kreuz und quer durch die Ostsee. Es ist nicht unbedingt chronologisch geordnet. Es gibt natürlich Kapitel, die historisch angelegt sind. Aber sonst habe ich mich sehr assoziativ leiten lassen. Wie man von einem Hafen oder einer Stadt oder einer Küste an die andere springt und hin und her – "Strandhugg" heißt ja eben auch heute im Schwedischen, dass man mit dem Segelboot kurz mal in den Scheeren irgendwo anlandet und dort vielleicht Proviant aufnimmt. Und bei den Wikingern – es gibt einen paradigmatischen Text hier, ein Wikingerüberfall in Kurland, also bei den Kuren, bei den Letten. Die wurden also immer wieder ausgeplündert. Und so haben die Wikinger reiche Beute auch im Ostseeraum gemacht. Und das habe ich eben auch versucht, hier einzubringen, also die Ostsee-Literatur auszuplündern.
Meyer: Der erste Text in Ihrem Buch stammt von einem Autor namens Arvid Mörne, und der beginnt mit einer ziemlichen Überraschung, denn die ersten Sätze dieses Textes lauten: "Die kleine Zahnradbahn hält, Schafbergalpe, 1367 Meter". Also da beginnen Sie Ihr Ostsee-Buch auf 1367 Metern über dem Meer. Warum das denn?
Liedtke: Mörne ist Finnland-Schwede. Und für einen Finnländer ist das natürlich eine ganz andere Perspektive. Da sind der Sehnsuchtsort die Alpen, und er reist eben zurück. Aber er reist über Riga, die neue Hauptstadt Lettlands, und zwar im Jahr 1929. Und diese Bahnfahrt über mehrere Tage hinweg, über München, Berlin, Hinterpommern, Gdynia nach Riga. Das ist für mich auch eine Form der Entschleunigung, die also auch markiert, dieses Buch wird sehr langsam. Es enthält sehr viel, man muss sich darauf einstellen, sonst braucht man gar nicht erst weiterzulesen. Und diese Perspektive schafft eben auch ganz neue Verbindungslinien. Wir kommen ja auch aus Mitteleuropa, wir können es ja nicht verleugnen, durch die Tiefebene. Und einfach dieses Zeitgefühl noch mal eigentlich dargestellt zu bekommen, Ende der 20er-Jahre. Es war eben nicht nur "Babylon Berlin", es war eben auch – die Alpen waren ein Sehnsuchtsort, und man kehrt zurück als Finne über Lettland in seine Heimat.
Der Sehnsuchtsort
Meyer: Also eine Annäherung an eine Reise hin zur Ostsee, von den Alpen kommend, die am Anfang dieses Buches steht. Und gleich dahinter, nach diesem Auftakt findet man Ostsee-Gedichte des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Tomas Tranströmer, und mir scheint, die liegen Ihnen ganz besonders am Herzen, diese Ostsee-Gedichte von Tranströmer?
Liedtke: Ja. Wir waren ja auch befreundet, kann man sagen. Ich habe ihn nie übersetzt, aber für mich ist es ein ganz programmatischer Text. Er nennt es nämlich "Ostseen", also im Plural. Für ihn gibt es auch diese große Vielfalt. Und für einen Schweden seiner Zeit – das ist entstanden 1973 – schaute man immer so rüber nach Osten, und da war ein schwarzes Loch. Und dann schreibt er "doch es ist weit bis Liepaja", also das frühere Liebau in Lettland. Das war für ihn auch so ein Ort, den er nicht erfahren konnte. Aber er ist dann selbst auch gereist nach Riga und hatte dort Freunde. Eine lettische Lyrikerin und ihren Mann. Und sein Großvater wiederum hatte die autobiografische Verankerung. Er war Lotse in den Stockholmer Schären. Und das war für ihn auch sozusagen ein Echo aus der Vergangenheit, wie der Großvater dann die Schiffe notierte und wohin sie fuhren. Und die durchquerten eben die Ostsee.
Meyer: Das nutzt er auch als Material für seine Gedichte, nicht wahr, diese Lotsennotate.
Liedtke: Ja. Und dann geht er – er ist dann auch auf Gotland, entdeckt diese alten Altäre und die alten Steinreliefs und so weiter. Und alles erzählt ihm diese Geschichte dieses großen Meeres in all seiner Vielfalt.
Meyer: Was haben Sie – Sie sprechen auch gerade von Entdeckungen – welche Entdeckungen haben Sie denn bei der Ausgrabungsarbeit für dieses Buch gemacht, Entdeckungen, die Sie vielleicht auch besonders bewegt haben.
Liedtke: Ja. Es gibt ganz wunderbare Schiffbrüche, würde ich sagen, etwa der von Adam Olearius, der unterwegs ist nach Moskau und Persien im Jahr 1633 und dann vor einer Insel strandet, also noch nördlich von Estland. Die heißt heute Gogland, ist heute russisch, war lange finnisch. Da sieht man also auch den Wechsel der Zeiten. Eine ganz beschwerliche Schiffsreise schon zu Beginn, ehe sie dann überhaupt nach Russland kommen. Oder es gibt einen Berliner Konsistorialrat Zöllner, der 1795 nach Hiddensee reist. Und da gibt es den Schiffbruch. Eine wunderbare Szene einer Pariser Gesellschaft von Damen, die unterwegs sind nach Petersburg. Und dort stoßen sie auf ein siebenjähriges Mädchen, das wunderbar Französisch mit ihnen parlieren kann und sie ins Haus führt. Da ist eine Familie von Giese, die eine Hochzeit feiert, und da werden sie aufgenommen und französisch bewirtet. Und es gibt natürlich dann auch die ganz krassen Gegenbeispiele der Kriegserfahrung, etwa die Blockade von Leningrad, und wie die Leute dann in einem großartigen Buch, "Hunger und Terror" von Dmitri Lichatschow. Wie er schildert, wie sie dort verhungern, und dieses langsame Sterben. Auch das ist eingefangen. Und dann als Gegenbild wiederum die Vergewaltigungsszenen in Königsberg.
Meyer: Damit haben Sie ja schon klar gemacht, was für ein unglaublich weites Spektrum Sie in diesem Buch aufblättern. Klar, Texte aus 2000 Jahren, das ist ein weiter Horizont. Verraten Sie uns doch am Ende unseres Gesprächs über Ihr großes Ostsee-Buch noch, wo an der Ostsee sind Sie eigentlich am liebsten, nach Ihren vielen Erfahrungen mit diesem Meer?
Liedtke: Ich muss sagen, ganz persönlich, ich habe ja so eine Ostsee-Kreuzfahrt mitgemacht 1992, und habe in dem Jahr auch geheiratet, war auf der Hochzeitsreise auf der Kurischen Nehrung. Das wäre so ein Pol. Und der andere – meine Frau stammt aus Gotland und hat dort ein Sommerhaus – das ist auch so ein Sehnsuchtsort, wo wir immer hinkehren im Herbst.
Meyer: Orte von Klaus-Jürgen Liedtke. Er hat das Buch herausgegeben "Die Ostsee. Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren", ein großer Band, großes Format, toll eingebunden, im Galiani-Verlag erschienen, mit 656 Seiten, 39 Euro ist der Preis.
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