Klebstoff Macht

Von Johann Michael Möller |
Vier Wahlgänge und stundenlanges Ringen hat es gebraucht, bis Heide Simonis endlich begreifen wollte, dass ihre Zeit vorbei war, dass nur eine Handvoll Wähler sie überhaupt in die Lage versetzt hatte, jene halsbrecherische Koalition zu versuchen, für die sie zu keiner Zeit eine wirkliche Mehrheit im Lande hatte.
Jetzt ist sie nicht nur gescheitert. Jetzt ist sie auch desavouiert. Als Pattex-Heide hat man sie verspottet. Als eine, die nicht loslassen kann, die sich in die Macht verkrallt hat - auch um den Preis der eigenen Reputation.

Die Parteiführung der SPD, allen voran Franz Müntefering, der Simonis in dieses Desaster mit hinein getrieben hatte, wollte den öffentlichen Zorn auf den einen unbekannten Abgeordneten lenken, der sein Gewissen über die Parteidisziplin stellte. Der nicht mitspielen wollte bei diesem Versuch der politischen Selbstermächtigung. Als Verräter wurde er beschimpft. Als Heide-Mörder. Aber nicht seine Stimmenthaltung ist der eigentliche Skandal. Wirklich bestürzend ist das Bild einer Frau, die ihr Regierungsamt als Eigentum betrachtete und es nicht hergeben wollte.

Was ist das für ein Phänomen, das immer wieder bei Politikern zu beobachten ist? Dass sie nicht wissen, wann es Zeit ist, abzutreten oder aufzugeben oder einzugestehen? Wirkt Macht doch wie eine Droge? Fürchten Politiker den Absturz, den Bedeutungsverlust, die innere Leere nach einem Leben, das nichts anderes kannte als die Rolle in der Öffentlichkeit? Die Kameras, die Dienstwagen, die geflissentliche Aufmerksamkeit.

Heide Simonis schien eigentlich nicht der Typ dafür. Bei ihr hatte man immer den sorgfältig gepflegten Eindruck, dass sie auch noch ein Privatleben besitzt. Dass sie in die Politik gekommen ist, weil man dort etwas bewirken wollte, etwas verändern, Verantwortung übernehmen. Das Altmodische, Gouvernantenhafte an ihr, machte es schwer, sie mit politischen Intrigen und Skandalen in Verbindung zu bringen, obschon ihre Amtszeit keineswegs frei davon war. Und doch gab es immer auch die andere Heide. Die Macht um der Macht willen suchte, die herrschsüchtig sein konnte und nur nach außen hin leutselig. Als man nach der Wahl in Kiel über die Möglichkeit einer großen Koalition nachdachte, soll sie das mit der Frage gekontert haben: "Was wird dann aus mir?"

Ihre Aura, ihr öffentlicher Glanz ist in einem Tempo verblasst, das an Joschka Fischer erinnert. Jahrelang unangefochten, zuweilen hochfahrend und unnahbar, ist sie jäh zum Spielball der Meinungen geworden. Das ist offenbar so bei außen geleiteten Menschen mit der Pose der Macht. Ist die erst verschwunden, bleibt wenig übrig, was noch Eindruck hinterlässt. Stilgefühl, Haltung, eine Kultur der Niederlage: die Würde des Scheiterns? Fehlanzeige.

Doch ihr Abgang trägt auch die Zeichen des Niedergangs einer Idee, ja einer Generation, die angetreten war, das Land zu verändern. Als Ministerpräsidentin in Kiel, wo lange die Domäne der Schwarzen war, der Christlichen Demokraten, stand Simonis für das Ende der Nachkriegsrepublik; für jenen Umbruch von 68, den seine Verfechter bis heute gerne die zweite, die eigentlich demokratische Gründungsphase der Republik nennen. Ihre rot-grüne Landesregierung war einer der Wegbereiter der heutigen Bundesregierung, war einer der Meilensteine für das Bündnis der Enkel Willy Brandts mit der Ökobewegung.

Ihr Scheitern ist wiederum ein Menetekel, ist der augenfällige Beweis dafür, dass es für solche Bündnisse im Land keine Mehrheiten mehr gibt. Simonis Abwahl bedeutet das Zerbröseln eines Gesellschaftsmodells und eines Lebensentwurfs; der - durch den politischen Alltag auch noch so abgeschliffen - dennoch den Hoffnungen ihrer Generation entsprach. Mit Heide Simonis verschwindet wieder ein Stück dieser rot-grünen Republik, die viel weniger ein geistiges Projekt war, als eine persönliche Inbesitznahme, ja, eine Art von Häuserbesetzung.

Aus dieser Haltung wächst die Hybris, mit der Heide Simonis auch den Hauch einer Mehrheit zu nutzen versuchte, um dem Land ein Bündnis aufzuzwingen, das die meisten Wähler so nicht haben wollten. Mit einer Minderheitenpartei, die ihre Rolle verwechselte. Und mit Grünen, die nach Jahren des politischen Selbstlaufs urplötzlich unter Rechtfertigungsdruck geraten waren.
Die SPD spürte ja selbst die Verwandlung: wie ein gesellschaftliches Erfolgsmodell plötzlich unter Verdacht gerät, die eigentliche Innovationsbremse zu sein, die Übersättigungsbeilage einer Luxuspolitik, die nicht zu harten Zeiten passt. Der Widerspruch der SPD bricht dabei auf, tiefe materielle Einschnitte verantworten zu müssen und dafür auf eine Partei zur Mehrheitsbildung angewiesen zu sein, die einem postmaterialistischen Geist entsprungen ist. Insofern ist der Verlust von Schleswig-Holstein nicht nur ein realer Machtverlust für die jetzige Bundesregierung. Er signalisiert auch das Ende des rot-grünen Projekts.

Vor diesem Hintergrund muss man betrachten, wie Heide Simonis mit zusammengepressten Lippen den Wahlgängen im Kieler Landtag beiwohnte. Da saß keine Politikerin, die eine Wahl verloren gibt und auf Revanche hoffen kann. Da hielt eine Politikerin an einem Anspruch fest, der nicht zur Abstimmung stand. Nur wer so denkt, kann seine Abwahl nicht fassen. Die rot-grüne Republik frisst ihre Kinder.

Johann Michael Möller, geboren 1955 in Bietigheim bei Stuttgart, Studium der Geschichte, Germanistik und Ethnologie in Stuttgart und Frankfurt am Main. Während des Studiums Mitarbeit im Feuilleton der FAZ. 1985 Gründungsredakteur der neuen Seite "Geisteswissenschaften" der FAZ. 1990 Wechsel ins politische Ressort der FAZ und Korrespondent für die neuen Länder Thüringen und Sachsen. 1992 Hauptabteilungsleiter Fernsehen beim neu gegründeten "Mitteldeutschen Rundfunk", verantwortlich für den Programmbereich Fernsehen im Landesfunkhaus Thüringen. Moderation der eigenen Sendung "Erfurter Gespräch". 1995 Wechsel zum ZDF als stellvertretender Leiter und Moderator des politischen Magazins "Kennzeichen D". Seit 1998 Redakteur bei der WELT, inzwischen stellvertretender Chefredakteur.