Kleine Kulturgeschichte der Benimmregeln

Über gute und schlechte Manieren bei Tisch und anderswo streiten sich Kinder und Eltern gern und mit großer Ausdauer. Susanne Mutschler erklärt in einer kleinen Kulturgeschichte der Manieren an vielen Beispielen, woher Benimmregeln kommen, seit wann es sie gibt, wozu sie gut sein können - und warum sie vermutlich nicht nur erfunden wurden, um kleine und große Menschen zu plagen.
Welche Eltern sind noch nicht an dieses oder ähnliche Argumente ihrer Kinder geraten, dass "Ritter noch rülpsen durften", dass in anderen Ländern sehr wohl mit den Fingern gegessen werden darf und dass beispielsweise Fußballspieler auf den Rasen spucken, ohne dass jemand Anstoß daran nimmt? Die achselzuckende Entgegnung lautet dann meistens: "Das macht man nicht!" oder "So etwas gehört sich hierzulande nicht". Echte Begründungen? Fehlanzeige.

Susanne Mutschlers Buch schafft Abhilfe aus diesem Dilemma. Unterhaltsam und wissenschaftlich zugleich beantwortet sie die Frage, woher die Manieren kommen. Der Titel des Sachbuchs ist gleichzeitig Inhaltsangabe.

Die Autorin hat einen geschickten Weg gefunden, einerseits Argumentationshilfe für gestresste Eltern zu sein, andererseits die Fragen von Kindern als gerechtfertigt einzuordnen. Denn: Kein Mensch ist mit guten Manieren auf die Welt gekommen. Anstand muss man lernen.

Die Grundthese im Buch lautet: Anstand hat mit Selbstbeherrschung zu tun. Was manierlich ist und was unanständig, wird in verschiedenen Kulturen, Situationen und historischen Zusammenhängen sehr unterschiedlich gewertet. Und: Wenn sie sich alleine wähnen, lassen Kinder wie Erwachsene gute Manieren gerne unter den Tisch fallen.

Das Buch ist wissenschaftlich fundiert, nach elf Kapiteln folgt ein Überblick über die verwendete Literatur. Und nicht erst dort stößt der Leser auf den Freiherrn von Knigge, der - wie man feststellt - nur einer von fast 900 Autoren von Benimmbüchern ist.

Zentrale Fragen sind: Warum spuckte früher alle Welt auf den Boden? Warum essen wir nicht mehr mit den Fingern? Warum wurde rülpsen unfein? Die wichtigste Frage aber und deren Antwort kommt zum Schluss: Was macht schlechte Manieren so interessant?

Susanne Mutschlers Buch ist fast schon luxuriös aufgemacht - als Anstandsbuch soll es wohl einen - verdienten! - prominenten Platz im Wohnzimmer bekommen. Die detailreichen Illustrationen, die vom "ungekrönten König der Buchillustratoren", Klaus Ensikat, stammen, sind zeitlos schön und zugleich sehr anschaulich.

Durch einen E-Mail-Wechsel zwischen der zwölfjährigen Karla, ihrer Großmutter, einem Onkel, Karlas Freundinnen und einem Klassenkameraden ist es gelungen, unterschiedliche Standpunkte, was gute Manieren angeht, an den Personen festzumachen. Selbstverständlich ist die Oma entsetzt, dass im Fast-Food-Restaurant mit den Fingern gegessen wird. Kumpel Fred hingegen sinniert über furzende Fische.

Farbige Kästen am Seitenrand halten Kurioses und Ergänzungen fest, und die Autorin scheut sich auch nicht, Themen wie Verschleierung in streng islamischen Gesellschaften oder Onanie anzusprechen. Für Heiterkeit sorgen beispielsweise Zitate aus alten Lexika, etwa wenn in einem Baulexikon eine Toilette als "Arsch-Spül-Kämmerlein" bezeichnet wird. Alles in allem ist der Autorin ein sehr unterhaltsames Sachbuch gelungen, das glücklicherweise an keiner Stelle mit erhobenem Zeigefinger daherkommt.

"Ritter durften noch rülpsen" ist eine Empfehlung für alle, die anschaulich und unterhaltsam etwas über Manieren, Anstand und Benimm erfahren möchten. Jugendliche werden an vielen Stellen ihre helle Freude haben, Erwachsene sowieso. Für Kinder ist es bei allen Bemühungen um eine klare Struktur streckenweise etwas zu langatmig.

Die verlegene Antwort "Das macht man nicht!" kommt Eltern nach der Lektüre sicher nicht mehr über die Lippen. Jetzt muss es schon eine ordentliche Begründung sein.

Rezensiert von Roland Krüger

Susanne Mutschler: Ritter durften noch rülpsen. Die Kinder-Uni fragt, woher die Manieren kommen
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008
239 Seiten, 19,95 Euro