"Kleine Lichter"
Das literarische Debüt "Kleine Lichter" von Roger Willemsen, erzählt eine Liebesgeschichte an der Bruchstelle zwischen Leben und Tod. Seit sechs Monaten liegt der Geliebte im Koma. Jetzt angesichts ihrer Verlustangst bespricht Valerie am Krankenhausbett ein Tonband, das ihn wieder ins Leben zurückführen soll und beschwört damit die eigene Liebesgeschichte mit allen Veränderungen und Gefühlen noch einmal herauf.
In jeder Liebeserklärung steckt die Geschichte von Orpheus, der mit seinem Gesang Eurydike aus dem Totenreich herausholen will. Denn jede Liebeserklärung ist der Versuch, den Abstand zum geliebten Menschen zu verkürzen oder seine Abwesenheit zu überbrücken. Dies ist der Punkt, an dem Roger Willemsens Erzählmonolog "Kleine Lichter" anknüpft. Nur sind hier die Rollen vertauscht.
Orpheus, ein in Wien lebender Zeitgenosse vermutlich mittleren Alters, ist im Totenreich, das heißt, er liegt im Wachkoma im Krankenhaus. Und Eurydike, eine in Tokio lebende deutsche Zeitgenossin, Kunsthändlerin von Beruf und vermutlich ebenfalls mittleren Alters, sitzt neben dem Bett des Kranken oder in seiner Wohnung, spricht zu ihm und gleichzeitig auf Kassetten, die dem komatösen Patienten vorgespielt werden sollen, wenn sie nach Tokio
abgereist ist, um dort - so kann man vermuten - ihre Zelte abzubauen.
Ihre Stimme soll bei ihm sein. Ihre Stimme, ihr einseitiges Gespräch über die Liebe soll ihn aus dem Koma ins Leben zurückholen. Roger Willemsens Erzählung ist nichts anderes als der Kunstmonolog dieser Frau. Er entsteht auf bewundernswert radikale Weise ausschließlich aus dem Innenraum des Gefühls, aus der Erkundung seines Wesens.
Natürlich streift der Monolog auch reale Erfahrungen des Paares; das Kennenlernen in einem Londoner Restaurant; das Bemerken und Erkennen des anderen in den über zwei Tische hinweggehenden Blicken; die ersten gemeinsamen Tage; die erste Trennung zwischen Kontinent und Kontinent; ihr erster Besuch bei ihm in Wien; der erste Sex; die erste Krise. Aber seine Energie bezieht der Text keinen Moment lang aus den Schilderungen solcher angerissenen Szenen. Sondern ausschließlich aus der Form des emphatischen Traktats. Sie lehnt sich an den Essay. Und in diesem kennt sich der Autor seit langem aus.
Wer wie Roger Willemsen lange in London gelebt hat, in ziemlich vielen Winkeln der Erde und im Fernsehbusiness unterwegs gewesen ist, wer Madonna interviewt, über Musil promoviert und einen japanischen Menschenfresser in der Sendung zu Gast gehabt hat, wer sich mit Philosophie auskennt wie mit der Mode von Vivienne Westwood - von dem hätte man am ehesten einen dieser intelligenten, dezent kosmopolitischen Gesellschaftsromane erwartet.
Nichts davon. Willemsen interessiert sich hier weder für die Geschichte der Gesellschaft, noch für die des öffentlichen Lebens. Er interessiert sich für eine einzige Geschichte: die der Empfindsamkeit. Und an dieser wiederum interessiert ihn nur eine einzige Konstellation: der Ausnahmezustand.
Roger Willemsens Versuch über die Liebe ist bescheiden, denn er beansprucht nicht mehr als zwei Personen, eine Stimme und den Innenraum eines Gefühls. Und er ist unbescheiden, denn diesen Innenraum beansprucht er bis an die äußerste Grenze. Es ist ein eindrücklicher und nachwirkender Text. Und es ist seltsam zu sehen, wie vollkommen er sich seinem Gegenstand anverwandelt und die wichtigsten Wesenszüge der Liebe, ihre zerbrechliche Zartheit und ihre blinde Furiosität angenommen hat.
Roger Willemsen
"Kleine Lichter"
S. Fischer Verlag
Frankfurt a. M. 2005
205 Seiten, 17.90 Euro
Orpheus, ein in Wien lebender Zeitgenosse vermutlich mittleren Alters, ist im Totenreich, das heißt, er liegt im Wachkoma im Krankenhaus. Und Eurydike, eine in Tokio lebende deutsche Zeitgenossin, Kunsthändlerin von Beruf und vermutlich ebenfalls mittleren Alters, sitzt neben dem Bett des Kranken oder in seiner Wohnung, spricht zu ihm und gleichzeitig auf Kassetten, die dem komatösen Patienten vorgespielt werden sollen, wenn sie nach Tokio
abgereist ist, um dort - so kann man vermuten - ihre Zelte abzubauen.
Ihre Stimme soll bei ihm sein. Ihre Stimme, ihr einseitiges Gespräch über die Liebe soll ihn aus dem Koma ins Leben zurückholen. Roger Willemsens Erzählung ist nichts anderes als der Kunstmonolog dieser Frau. Er entsteht auf bewundernswert radikale Weise ausschließlich aus dem Innenraum des Gefühls, aus der Erkundung seines Wesens.
Natürlich streift der Monolog auch reale Erfahrungen des Paares; das Kennenlernen in einem Londoner Restaurant; das Bemerken und Erkennen des anderen in den über zwei Tische hinweggehenden Blicken; die ersten gemeinsamen Tage; die erste Trennung zwischen Kontinent und Kontinent; ihr erster Besuch bei ihm in Wien; der erste Sex; die erste Krise. Aber seine Energie bezieht der Text keinen Moment lang aus den Schilderungen solcher angerissenen Szenen. Sondern ausschließlich aus der Form des emphatischen Traktats. Sie lehnt sich an den Essay. Und in diesem kennt sich der Autor seit langem aus.
Wer wie Roger Willemsen lange in London gelebt hat, in ziemlich vielen Winkeln der Erde und im Fernsehbusiness unterwegs gewesen ist, wer Madonna interviewt, über Musil promoviert und einen japanischen Menschenfresser in der Sendung zu Gast gehabt hat, wer sich mit Philosophie auskennt wie mit der Mode von Vivienne Westwood - von dem hätte man am ehesten einen dieser intelligenten, dezent kosmopolitischen Gesellschaftsromane erwartet.
Nichts davon. Willemsen interessiert sich hier weder für die Geschichte der Gesellschaft, noch für die des öffentlichen Lebens. Er interessiert sich für eine einzige Geschichte: die der Empfindsamkeit. Und an dieser wiederum interessiert ihn nur eine einzige Konstellation: der Ausnahmezustand.
Roger Willemsens Versuch über die Liebe ist bescheiden, denn er beansprucht nicht mehr als zwei Personen, eine Stimme und den Innenraum eines Gefühls. Und er ist unbescheiden, denn diesen Innenraum beansprucht er bis an die äußerste Grenze. Es ist ein eindrücklicher und nachwirkender Text. Und es ist seltsam zu sehen, wie vollkommen er sich seinem Gegenstand anverwandelt und die wichtigsten Wesenszüge der Liebe, ihre zerbrechliche Zartheit und ihre blinde Furiosität angenommen hat.
Roger Willemsen
"Kleine Lichter"
S. Fischer Verlag
Frankfurt a. M. 2005
205 Seiten, 17.90 Euro