Kleine Prosa

Eine Naturlyrikerin

Von Ursula März |
Sarah Kirsch lebte nicht nur lange Zeit auf einem Hof in Schleswig-Holstein. Sie schrieb auch im Kontakt mit der Natur - mit Tieren, Pflanzen, Flüssen und Feldern. Nun erscheint mit "Juninovember" posthum ein Band mit Alltagsnotaten, lyrischen Beobachtungen und Aphorismen.
Die deutsche Literatur- und Geistesgeschichte ist ohne sie gar nicht vorstellbar: Die Reihe der Dichter und Denker, die der Großstadt und dem Literaturbetrieb den Rücken kehrten, sich zurückzogen in einen entlegenen Winkel auf dem Land und die Kommunikation mit der Natur der mit der Gesellschaft vorzogen.
Ob Martin Heidegger oder Arno Schmidt, Botho Strauß oder der soeben mit dem Büchner-Preis ausgezeichnete Jürgen Becker - sie alle gaben oder geben ihrer künstlerischen Existenz eine neuzeitlich-säkulare Form des Eremitentums.
Auch Sarah Kirsch, die 1935 geborene, 1977 aus der DDR ausgebürgerte Dichterin, die im vergangenen Jahr verstarb, gehört in diese Reihe deutscher Rückzugsschriftsteller. Über drei Jahrzehnte lebte sie auf einem Hof in dem schleswig-holsteinischen Dorf Tielenhemme, das dank seiner berühmtesten Bewohnerin zu einem bedeutenden Ort auf der Landkarte der deutschen Gegenwartsliteratur wurde.
Sarah Kirsch lebte nicht nur, sie schrieb auch im Kontakt mit der Natur, mit Tieren, Pflanzen, Flussläufen, Feldern, Jahreszeiten, wovon schon Titel wie "Krähengeschwätz" oder "Märzveilchen" Auskunft geben. Posthum erscheint nun ein Band mit Alltagsnotaten, lyrischen Beobachtungen und Aphorismen, die der Gattung der kleinen Prosa angehören und sich unter dem Titel "Juninovember" versammeln.
In einem Substantiv schließen sich Sommer- und Winterbeginn zum Kreis. Allerdings bezeichnen die beiden Monate nicht die Zeit der Niederschrift. Der erste Eintrag stammt vom 23. September 2002, der letzte vom 28. März 2003. Die meisten Einträge sind nicht länger als zwanzig Buchzeilen.
Intensive Naturverbundenheit und politische Wahrnehmung
Gerade in dieser Kürze liegt der Reiz der Texte. Sarah Kirsch verdichtet das Verhältnis von Winkel und Welt, von dörflicher Existenz und Weltpolitik in rasanten Ellipsen. Mit einem Satz wechselt sie die Perspektive vom ersten Bodenfrost zum Irakkrieg, vom Schnee vor dem Fenster zu Saddam Hussein und George W. Bush. Intensive Naturverbundenheit und politische Wahrnehmung gehen ein selbstverständliches, bisweilen ironisiertes Verhältnis ein.
Dessen Medium ist das Fernsehgerät, das die Eremitin Tag für Tag mit dem globalen Informationsfluss verbindet. Das Wort Fernseher taucht jedoch an keiner Stelle auf, denn Sarah Kirsch nennt es in ihrer literarischen Idiomatik nur "Die Glasfresse" und den amerikanischen Präsidenten bisweilen "Schorsch".
Der einzigartige und eigenwillige Kirsch-Sound, diese Mischung aus schnoddrigem Berliner Dialekt, altdeutschen Wendungen und elegischer Nüchternheit wird in diesem kleinen Band noch einmal hörbar. Zugleich wird die Grenze zum Skurrilen, Eigenbrötlerischen sichtbar, der sich die zurückgezogene Dichterin stellenweise nähert.
Reisen und Lesungen vor Publikum, auch davon zeugen diese Tagebuchnotizen, waren für Sarah Kirsch eher Störungen des geruhsam ländlichen Alltags denn Freuden. Was sie an Abwechslung benötigte, fand sie im Blick zum Wolkenschauspiel am Himmel.
Mag dieser Band den Kosmos Sarah Kirschs für ihre Leser noch einmal aufblättern, so hat er doch ein erhebliches Manko: Ihm fehlt ein einordnendes, editorisches Nachwort, das die Herkunft der nachgelassenen Texte und den Zusammenhang mit dem umfangreichen Band "Gesammelte Prosa" ausweist, der sich unter anderem auch auf die Jahre 2002 und 2003 erstreckt.

Sarah Kirsch: Juninovember
Deutsche Verlags-Anstalt München 2014,
196 Seiten, 19,99 EUR

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