Kleiner Edelstein der Weltliteratur

Die Titelgeschichte des Erzählungsbandes von Giorgio Bassani von 1958 spielt im historischen Kontext des aufstrebenden Faschismus in Italien. Ein älterer Herr der guten Gesellschaft versucht, sich einer Gruppe Studenten anzunähern. Diskret verbirgt er dabei seine Neigung. Als er seine Zurückhaltung aufgibt, endet die Geschichte in einer Tragödie.
Es gibt gewisse Edelsteine der Weltliteratur, die weitgehend im Verborgenen funkeln und an denen sich meist nur ein kleinerer oder größerer Kreis von Eingeweihten delektiert. Nun ist Giorgio Bassani in Deutschland kein Unbekannter; vor allem durch die Verfilmung seines Romans "Die Gärten der Finzi-Contini" erreichte er auch hierzulande ein breiteres Publikum. Dennoch wäre sein Werk in deutscher Übersetzung ein Auslaufmodell, wenn nicht der Wagenbach Verlag, dessen Engagement für die italienische Literatur ohnehin nicht hoch genug gelobt werden kann, nun Titel für Titel die Gesamtheit dieses Oeuvres neu publizierte.

Am Anfang steht – eine hervorragende Wahl – die Erzählung "Die Brille mit dem Goldrand". Auch sie spielt in Ferrara, wo der 1916 geborene Bassani bis 1943 wohnte, also den Aufstieg des Faschismus und den anschwellenden Antisemitismus von Anfang an miterlebte. Der politische Kontext bildet hier indes nur die bedrohliche Kulisse, vor der das eigentliche Schicksal des Protagonisten, des Doktor Fadigati, seinen Lauf nimmt. Ein Schicksal, das zunächst gänzlich unspektakulär als die Existenz eines allseits angesehenen und als Arzt hochgeschätzten Einzelgängers geschildert wird. Seine Ehelosigkeit sowie die nächtlichen Spaziergänge in gewisse Viertel der Stadt sorgen zwar für Verwunderung und ein leichtes Stirnrunzeln, werden ansonsten aber von der Ferrareser Gesellschaft ignoriert.

Lebendig wird die Erzählung von dem Moment an, da Fadigati zweimal wöchentlich denselben Zug nach Bologna besteigt wie eine Gruppe von Studenten, von denen er viele als Patienten kennt. Mit wahrer Meisterschaft beschreibt Bassani die vorsichtige Annäherung des gealterten Mannes an die jungen Leute, sein langsames Durchbrechen der Schranke, die der Generationenabstand zwischen sie gelegt hat. Schließlich war es die ungeheure Diskretion des Doktors, die dazu geführt hatte, dass die gute Gesellschaft Ferraras zehn Jahre gebraucht hatte, um festzustellen, dass er "zu der Sorte" Männern zählt, und es war eben diese Diskretion, die ihn vor der allgemeinen Missbilligung bewahrte:

"Denn was sie vor allem anderen zur Nachsicht gegenüber Fadigati bewog, ja nach der ersten Reaktion von Beunruhigung und Verblüffung, beinahe zur Bewunderung, war sein Stil. Ich meine mit Stil in erster Linie seine Zurückhaltung, die Mühe, die er sich gegeben hatte und sich auch weiterhin gab, seine Neigung zu verbergen und keinen Anstoß zu erregen."

Dies gilt in gewisser Weise auch für den Stil des Autors, der seinen jungen Ich-Erzähler, einen Studenten aus jüdischer Familie, aus einer beinahe neutralen Perspektive die Ereignisse schildern lässt, die sich am Ende zur Katastrophe zusammenbrauen, als nämlich der Doktor seine Zurückhaltung aufgibt und gleichzeitig mit den ersten Rassengesetzen sich tiefe Risse innerhalb der ehemals geschlossenen Klasse des gehobenen Bürgertums der Stadt auftun. Doch auch hier ist Bassani Meister genug, um nur eine dieser Tragödien – und dies fast mehr durch Leerstellen als durch lange Schilderungen – bis zu ihrem bitteren Ende zu zeigen.

Rezensiert von Carolin Fischer

Giorgio Bassani: Die Brille mit dem Goldrand.
Deutsch von Herbert Schlüter. Wagenbach 2007.
144 S. € 15,90.