Kleist kickt immer noch

Armin Petras im Gespräch mit Jürgen König |
Zum Jubiläumsjahr des Dichters Heinrich von Kleist plant Armin Petras, Intendant am Maxim Gorki Theater in Berlin, ein Kleist-Festival. Was die Menschen an Kleists Werken begeistere, seien die "enormen Emotionen", die die Menschen heute gar nicht mehr erleben können.
Dieter Kassel: Der 200. Todestag von Heinrich von Kleist, der ist erst am 21. November, aber schon heute wird das Kleistjahr in Frankfurt an der Oder offiziell eröffnet, unter anderem mit "Das Erdbeben in Chili", einer Koproduktion des Berliner Maxim Gorki Theaters und des Staatsschauspiels Dresden. Das Maxim Gorki Theater wird ohnehin in diesem Kleist-Jahr eine große Rolle spielen, es wird alle Dramen des Dichters aufführen und darüber hinaus noch zahlreiche zusätzliche Veranstaltungen bieten zu den anderen Werken von Heinrich von Kleist. Und das hat eine Menge zu tun mit Armin Petras, dem Intendanten des Maxim Gorki Theaters, und mit dem hat mein Kollege Jürgen König deshalb zum Auftakt des Kleist-Jahres gesprochen.

Jürgen König: Herr Petras, beginnen wir mit einer ganz einfachen Frage: Was hat dieser Kleist, dass Sie sich so maßlos auf ihn stürzen, so wie Penthesilea sich auf ihren Geliebten Achill stürzt und ihn mit ihren Hunden zerfleischt?

Armin Petras: Ja also wenn man seit nunmehr ich glaube 16 oder 17 Jahren in diesem Beruf tätig ist oder jedenfalls in dieser Tätigkeit tätig ist, merkt man immer deutlicher und dringlicher, was sind gute Texte, was sind schlechte Texte, was sind Texte, die radikal sind, die funktionieren. Und da bleibt man immer öfter und immer stärker an Kleist einfach hängen.

König: Das ist so, ich kam auf die Frage, weil Sie, seit Sie Intendant des Gorki Theaters sind, also seit 2006, sich immer für Kleist interessiert haben. Jetzt planen Sie ein Kleist-Festival im Kleist-Jahr, da wird das Maxim Gorki Theater, wie Sie es angekündigt haben, in eine metaphorische Kleist-Welt umgestaltet. Sie spielen das gesamte dramatische Werk Kleists, Sie bringen auch seine Erzählungen, auch seine theoretischen Texte auf die Bühne, vorgestellt von Künstlern - ich hab mir das angeguckt - verschiedenster Couleur. Man muss schon verrückt sein nach Kleist, um das so zu stemmen! Das hat schon etwas Manisches, es ist ein bisschen wie bei Kleist selbst!

Petras: Ja, ich gebe zu, von außen sieht das glaube ich ziemlich verrückt aus, aber wie gesagt, von innen heraus - Sie haben das ja schon erwähnt - ist das eigentlich nur eine logische Folge der letzten Jahre. Wir haben uns immer und immer wieder um Kleist bemüht, haben viele Inszenierungen schon gemacht von Kleist-Werken und sind dann glücklicherweise auf die Bundeskulturstiftung gestoßen, die genau dasselbe Interesse hatten wie wir, nämlich mehr zu Kleist zu machen. Und jetzt haben wir das sozusagen mal richtig vor.

König: Können Sie sich noch an den Moment erinnern, an dem Sie zum ersten Mal Kleist gelesen oder gesehen haben?

Petras: Ja, ich habe das glaube ich schon irgendwann mal erwähnt: Mir ist Kleist auf den Kopf gefallen. Schlichtweg, aus dem Bücherregal meines Vaters. Der "Robert Guiskard" war das, und ich habe ihn versucht zu lesen über viele Jahre und habe ihn viele Jahre nicht verstanden. Und ich habe ihn im letzten Jahr inszeniert in den Münchner Kammerspielen und will nicht sagen, dass ich ihn verstanden habe, aber er ist mir doch näher gekommen.

König: Diese Figuren - ich bin heute Nachmittag noch mal in mich gegangen und mir kam das wieder so schön in den Sinn, Penthesilea, die rasende Amazone, die ihren Geliebten Achill zerfleischt, oder der melancholische Prinz von Homburg, schlafwandlerisch, ein Träumer, und gewinnt praktisch aus Versehen die Schlacht bei Fehrbellin, oder der Dorfrichter, der gegen sich selber ermittelt, oder Alkmene, die mit ihrem Mann schläft und erst sehr spät feststellen muss, dass sie mit dem Höchsten der Götter geschlafen hat -, was haben diese Figuren, dass sie uns irgendwie nicht nur interessieren, sondern ja auch schon nahe sind?

Petras: Ja ich glaube das Tolle an diesen Figuren ist, dass sie von Anfang an widersprüchlich sind und am Ende widersprüchlich bleiben. Das heißt, es gibt niemals eine wirkliche Lösung der Probleme, es gibt ... Keines der Kleistschen Werke ist ein Märchen im klassischen Sinne, dass es einen Widerspruch gibt, der gelöst wird und dann ist alles ruhig und alles gut, sondern Kleist bleibt immer ein Meer, es bleibt immer in Bewegung, es kann jede Sekunde wieder aufflammen, das Kreatürliche.

König: Die Stücke - "Die Hermannsschlacht" zum Beispiel auch, so ein großer Brocken, 1808 war das sozusagen der Aufbruch Kleists an die Deutschen, sich gegen Napoleon zu rüsten, oder "Käthchen von Heilbronn", ein historisches Ritterschauspiel mit unglaublichen Verwicklungen und Magie und der Cherubin tritt auf -, was haben diese Stücke, dass sie uns bewegen?

Petras: Ja das ist ... der Földényi hat mal, in seinem wunderbaren Werk über die Kleist-Sprache gibt es einen Artikel, der heißt "Die Suche nach der Mittelstraße", und ich glaube, das ist das, was diese Figuren so interessant macht, dass sie wie Kleist immer auf der Suche so nach dem richtigen Leben, nach Glück, nach Glück, nach Glück, Glücklichsein im Leben. Und sie schaffen das nie, also immer diese torpedokäferartige Bewegung, gegen die Wand zu rennen, gegen die Wand zu fliegen, auf den Boden zu fallen und wieder aufzustehen.

König: Das wäre dann auch das Manische, das Rasende, was Sie so schön nennen, torpedokäferartig gegen die Wand.

Petras: Absolut, ja.

König: Kleist sprechen ... Klassiker - ich mag das Wort gar nicht benutzen bei Kleist -, aber Klassiker zu sprechen ist immer schwer, bei Kleist stelle ich es mir besonders schwer vor?

Petras: Es ist schwer und leicht zugleich, weil das zu verstehen, also in die Sprachwelt hineinzukommen ist sicherlich sehr schwer, weil es kompliziert ist. Wenn man aber einmal die Sprache hat, wenn man in dem Gedankenstrom drin ist, der immer bei Kleist auch was mit dem Körper zu tun hat, dann ist es relativ einfach, weil das ist richtig, es funktioniert sozusagen. Und das kann man nicht bei sehr vielen Autoren sagen.

König: Ist das für Schauspieler ein gefundenes Fressen, dieses Rasende, gerade bei "Penthesilea", schon fast eine, jeder Affekt ins Kriegerische sofort ausgeweitet. Ist das ein gefundenes Fressen oder gibt es auch eine Angst vor solchen Rollen?

Petras: Ich würde sagen beides. Es gibt immer Angst, dem Kleist nicht zu genügen, dem nicht entsprechen zu können, und gleichzeitig gibt es glaube ich ... Ich kenne keinen Schauspieler, der sich nicht freut sich mit Kleist auseinanderzusetzen.

König: Warum genau?

Petras: Vielleicht, weil auch ein Schauspieler spürt, dass das ungeheure Welten sind, in die er abtauchen oder auftauchen kann. Und man wird ja nicht Schauspieler, wenn man das nicht grundsätzlich machen wollen würde.

König: Wie würden Sie einem Schauspieler diese Welten - Sie haben vorhin auch schon von einem Meer gesprochen - erläutern?

Petras: Das sind ganz verschiedene Wege, die man da versucht, das ist auch bei jedem Stück, bei jeder Novelle ist das der Versuch, einen neuen Weg zu gehen, weil Kleist Sujet und Genre voneinander trennt, es gibt ... Sie haben vorhin das ja angesprochen, "Der zerbrochne Krug" ist eine Komödie, das "Käthchen von Heilbronn" ist ein romantisches Ritterspiel, "Die Hermannsschlacht" ist ganz klar ein politisch-demagogischer sozusagen Aufruhr zu Rassismus, zu einer Schlacht, zum Krieg. Das sind grundsätzlich ganz verschiedene Stoffe.

König: Nationalismus, würde ich sagen.

Petras: Nationalismus, und ganz verschiedene Stoffe und ganz verschiedene Ideen, die dahinterstecken. Was bei allen gemeinsam ist, ist der radikale Ansatz.

König: Radikal in welchem Sinne, worauf zielend?

Petras: Radikal, das die Menschen ausgeliefert sind, einer Welt, einem Gott ausgeliefert sind, den sie nicht kennen, ihren Sehnsüchten, ihren Hoffnungen, ihren Gefühlen ausgesetzt.

König: Einer Welt ausgesetzt sind oder auch sich selbst?

Petras: Beidem.

König: Auf gorki.de heißt es zum Kleist-Festival so schön, oder da wird eine schöne Frage gestellt: Was kickt uns heute so, wenn wir Kleist lesen, was macht ihn so aktuell und zeitlos? - Was ist das, was uns da so kickt?

Petras: Ja ich glaube, ich habe es schon angedeutet, dass das enorme Emotionen sind, die da kommen, die viele von uns heute gar nicht mehr erleben können in einer Welt mit so extrem organisierten Funktionsketten. Und ich glaube, da gibt es eine Sehnsucht danach ...

König: ... also die Radikalität eines Gefühls?

Petras: Absolut, die Radikalität eines Gefühls eines Käthchens, was mit 14 Jahren einfach einem Ritter hinterher fährt, von zu Hause weggeht, aus dem dritten Stock springt, sich das Bein bricht und einfach diesem Mann hinterher fährt. Das ist radikal und das sind Dinge, die man sehen will, die man sich wünscht, in diese Gefühlswelten will man eintauchen. Und gleichzeitig gibt es bei allen Kleistschen Figuren und bei allen Stoffen vor allen Dingen einen Riss, im "Erdbeben von Chili" heißt es so schön, ein Riss geht durch den Dom. Und diesen Riss glaube ich spüren wir heute wieder mehr als sagen wir mal vor 20 oder 30 Jahren, dass dieser Riss auch durch unsere Welt geht, dass diese Welt, in der wir leben, keine funktionierende mehr ist, in der wir uns zurücklehnen können.

König: Und der politische Kleist? Ich meine, Kleist hat immer die Ereignisse der Französischen Revolution, die ganze Gedankenwelt, die sich damit verknüpft hat, fortgearbeitet und aufgearbeitet, sich damit auseinandergesetzt, dafür gewesen, dagegen gewesen. Wir leben in kriegerischen Zeiten ausdrücklich, von Idealen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind wir nicht nur weit entfernt, aber manchmal sehr weit entfernt. Lässt sich das transportieren? Welche, vielleicht nicht Antworten auf Fragen unserer Zeit, aber welche Fragen kann uns Kleist zu den Fragen, die wir heute haben, stellen?

Petras: Ich glaube, dass diese grundsätzliche Zerrissenheit, die dem Lebensgefühl von Kleist sehr nahe war, die wir heute haben, ist sozusagen aus einer Distanz - ist ja doch eine Weile her, 200 Jahre -, ist vergleichbar. Und deswegen glaube ich auch ist dieser Moment, das aushalten zu lernen, zu lernen, dass uns jeden Tag der Himmel auf den Kopf fallen kann oder die Kathedrale, in die wir gehen um eine gemeinschaftliche Sozialität herzustellen, dass die umfallen kann, dass Menschen, die wir für sauber, ehrlich und großartig halten, plötzlich gelogen haben, dass sozusagen sichere Wahrheiten zusammenbrechen, das kommt in jedem Kleist-Text vor. Und der Versuch des Einzelnen, der einzelnen Persönlichkeit, ein Teil einer Gesellschaft zu werden - Schleef würde sagen, ein Teil eines Chores zu werden -, auch das ist ein Lebensgefühl, was wir sicherlich alle haben und was nicht gelingt, oder nur noch schwer gelingt.

König: Arved Schultze hat diesen Text, den ich sehr schön finde, auf gorki.de geschrieben zum Kleist-Festival des Gorki Theaters in Berlin: Utopisten des Augenblicks, schreibt er, seien Kleists Figuren. Ich konnte das zunächst nicht verstehen, aber es hat mich berührt. Wie würden Sie mir das erläutern, Utopisten des Augenblicks?

Petras: Ich glaube, dass auch das richtig ist und in fast jedem der Kleistschen Texte vorkommt. Also wenn eine Penthesilea sagt, wir hören jetzt mal auf mit dem Krieg, weil jetzt ist Zeit zu lieben und nicht Zeit zu sterben, ist das natürlich eine radikale Ansage mitten im Krieg, die unmöglich ist. Aber das ist eine Utopie des Augenblicks. Oder wenn der Kohlhaas von zu Hause losgeht und sagt, ich kann mich nicht abfinden damit, mit Ungerechtigkeit, ich werde jetzt meine Frau, meine Tiere, alles dagegen eintauschen, und wenn ich sterbe, ist das auch egal, ich muss etwas tun, damit diese Welt so gerecht ist, wie ich sie mir vorgestellt habe oder wie mir zumindest immer gesagt worden ist. Dann ist das eine Utopie des Augenblicks. Dass diese Utopien alle zerschlagen werden, dass es bei Kleist im Endeffekt niemals so etwas wie Hoffnung gibt, das ist eine andere Geschichte. Die Hoffnung liegt ja darin, dass es Menschen gibt, die diese Utopien haben.

König: Wer einsam im Bette liegt, wie man früher so schön sagte, und Halt sucht an was auch immer, findet er ihn bei Kleist?

Petras: Wie gesagt, er findet ihn temporär.

König: Den Aufbruch?

Petras: Den Aufbruch. Das andere Denken, eine andere Idee von dem Zustand der Welt haben zu können und haben zu dürfen. Das findet er bei Kleist.

König: Aber keinen Trost?

Petras: Wenn es ein Trost sein könnte, dass andere Menschen auch die Sehnsucht haben nach einem anderen Zustand der Welt, dann gibt es Trost bei Kleist.

Kassel: Sagt Armin Petras, der Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin im Gespräch mit meinem Kollegen Jürgen König. Eine Koproduktion des Gorki Theaters mit dem Staatsstauspiel Dresden eröffnet heute Abend das Kleist-Jahr in Frankfurt an der Oder, das ist allerdings nur ein Teil der Veranstaltungen, die zum Eröffnungstag geplant sind in Frankfurt heute Nachmittag und heute Abend. Und über alles, was da passiert, werden wir heute ab 23:05 in unserer Sendung "Fazit" berichten.

Weiterführende Links:

Maxim Gorki Theater

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