Bei "Im Gespräch" (20.07.2016) im Deutschlandradio Kultur erzählt Yoko Tawada über die großen und kleinen Hindernisse und Fallstricke ihres Arbeitsalltags, vor allem aber über Sprache und ihre Eroberung des Deutschen als Nicht-Muttersprachlerin.
Schreiben über das elfte Gebot
Mit 22 Jahren kam Yoko Tawada aus Japan nach Europa: Die in Berlin lebende Autorin schreibt auf Deutsch und Japanisch, in diesem Jahr erhält sie den Kleist-Preis. Im Interview erklärt sie zum Beispiel, warum es im Japanischen 20 Wörter für "Ich" gibt.
Yoko Tawada liest, begleitet vom Pianisten Alexander von Schlippenbach, aus einer ihrer Erzählungen. Und schon da ahnt man, dass diese Matinee im Berliner Ensemble so gar nichts gemeinsam haben wird mit den häufig öden Preisverleihungszeremonien. Das Videostandbild einer Winterlandschaft ist an die Wand geworfen. Und auf einem Podest vor der Rampe stehen sechs große Kuben aus Eis. Die hat das Berliner Ensemble täuschend echt anfertigen lassen, denkt man noch, als die Künstlerin und diesjährige Jurorin des Kleist-Preises Ulrike Ottinger am Rednerpult die Laudatio hält: "Yoko Tawada ist eine Animistin der deutschen Sprache, und jedes Wort erfährt eine Wiedergeburt."
Ottinger bewundert seit vielen Jahren die Texte der japanischen Autorin, die in Berlin lebt und auf Deutsch und Japanisch schreibt. Und Tawada hat in Ottingers Japan-Film "Unter Schnee" eine blinde Wandermusikantin verkörpert, wie die Besucher in einem eingespielten Ausschnitt sehen können. Dann liest der Schauspieler Lars Eidinger zwei Gespenstergeschichten: eine von Kleist und Yoko Tawadas Erzählung "Der Hausgeist". Darin opfert sich eine Frau für das Haus auf, in dem sie lebt und das selbst zu leben scheint: "Sie stellt die Dusche aus und trocknet sich ab und cremt die Füße sorgfältig ein. Aber kaum verlässt sie das Badezimmer, schon wird die Haut an den Fersen trocken und rissig. Der Holzfußboden saugt das Fett von ihr ab, damit er noch jugendlicher glänzen kann."
Interpunktion ist keine Trommel
"Man solle nicht nach Lust und Laune ein Komma setzen. Eine der lustigsten Regeln, die ich im Deutschunterricht gehört habe. Dabei hätte ich so gern die Interpunktion als Trommel benutzt, um meinen Atem und Denkrhythmus in die Sprache hineinzubringen. Das japanische Wort ma bedeutet unter anderem 'eine Pause'. Ich wollte ein Komma als ein ma verstehen", sagt Yoko Tawada in ihrer Dankesrede und nimmt das Publikum sofort für sich ein, mit ihrem feinen Humor, ihren überraschenden Assoziationen und ihren schrägen Gedanken.
"Wenn der Missbrauch von Komma strafbar wäre, würde man auch nach Heinrich von Kleist fahnden."
Yoko Tawadas Dankesrede ist aber auch eine politische: "Heutzutage nimmt man mindestens neun von zehn Geboten nicht mehr ernst. Stattdessen akzeptiert man unkritisch das elfte Gebot 'Du sollst nicht illegal einreisen'. Kohlhaas fällt in die Hände der kriminellen Herrschaften, die die Grenze missbrauchen."
Die Autorin erinnert an die Millionen von Menschen, die "in Todesangst Ländergrenzen überschreiten" müssen in einer Welt, die doch eigentlich allen zugleich gehöre. Mit Sorge erwähnt sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in den USA als Beleg dafür, dass immer mehr Menschen Weltbürgern misstrauen und stattdessen die nationale Abgrenzung anstreben: "Zwischen zwei Sprachen hingegen habe ich nie eine Grenze gesehen. Jede Sprache bildet einen Zwischenraum. Und der Raum zwischen zwei Sprachen ist kein Zwischenraum, sondern der eigentliche Raum, in dem die Literatur geschrieben wird."
Ein echter See und die Gefahr von nassen Füßen
Und da ist Yoko Tawada schon fast am Ende ihrer Rede, die ursprünglich anders aussehen sollte: "Heute wollte ich eigentlich über Eis und Schnee sprechen, weil dem Wort Preis das Wort Eis innewohnt. Und weil ich am liebsten im Winter schreibe."
Während Yoko Tawada das sagt, hält Lars Eidinger, auf einer Bank sitzend, die Füße seltsam abgewinkelt nach hinten. Direkt vor ihm ist ein See entstanden, der weiter wächst. Die Kuben aus Eis sind echt und schmelzen langsam, aber sicher. Wie gerne hätte man noch länger Yoko Tawada gelauscht und diese Preisverleihungsmatinee genossen, die so gelungen, so inspirierend war wie ein gutes Theaterstück. Aber dann hätte wohl nicht nur Lars Eidinger nasse Füße bekommen, sondern auch die erste Reihe im Berliner Ensemble.