Kleists Renaissance
Kleist, wohin man nur blickt. Ausweislich des statistischen Bühnenjahrbuches ist er unter den deutschen Klassikern der meistgespielte Dramatiker, nach Brecht. Ob ein Kulinariker wie Peter Stein mit seinem "Zerbrochenen Krug" am BE, ob Lisa Neleböck, die mit ihrer "Penthesilea" in Bochum den Durchbruch schafft, ob die sogenannten Kult-Regisseure wie Jan Bosse und Armin Petras am Gorki-Theater in Berlin mit ihrem "Amphitryon" bzw. "Prinz von Homburg": Wer auf sich hält, macht in Kleist.
Sogar seine Erzählungen müssen immer häufiger herhalten für Dramatisierungen. "Michael Kohlhaas" hat dieses Schicksal mehrfach ereilt in den vergangenen Jahren (zuletzt am Schauspielhaus Hamburg), aber auch "Die Marquise von O…" und "Das Erdbeben in Chili" mussten dran glauben. Hat uns Kleist wirklich so viel zu sagen, dass er dauernd gespielt werden muss? Nein. Und es ist auch nicht Kleist, was bei uns landauf, landab gegeben wird. Es ist der Herren eigener Geist, um einen berühmten Kollegen Kleists, der diesem nicht sehr wohlgesonnen war, zu zitieren. Kein kanonisierter Autor ist derzeit so beliebt als Projektionsfläche wie dieser zu Lebzeiten so unglückliche, so wenig erfolgreiche Mann, der mit 34 Jahren aus dem Leben schied, weil ihm "auf Erden nicht zu helfen war", wie er im Abschiedsbrief an seine geliebte Schwester Ulrike schrieb.
Diese Entwicklung ist noch nicht sehr alt. Kleist galt lange – und zu Recht – als ein schwieriger Autor. Einmal abgesehen von seinem populärsten Stück, dem lange als "volkstümlich" und "unverwüstlich" geltenden "Zerbrochenen Krug", sind Kleistsche Dramen zwar immer der Brillanz ihrer Dialoge wegen von den Kennern geschätzt worden, aber man fand sie "für die Bühne problematisch", besonders "Penthesilea" mit ihrer Lust an der Gewalt (immerhin wird am Schluss des Stücks Achill regelrecht zerfleischt) und "Käthchen" (des ganz aus dem Geist der Romantik geborenen kunstmärchenhaften Herzenstons halber). Hinzukommt, dass Kleist, so kühn er war, so avantgardistisch auch und frühexpressionistisch, doch ganz und gar im Bildungshorizont seiner Zeit steht. Alle seine Stücke sind Auseinandersetzungen mit Klassikern oder klassischen Regeln: Der "Zerbrochene Krug" wendet den tragischen Ödipus-Stoff ins Komische, "Penthesilea" ist eine einzige Kampfansage an das klassizistische Winckelmann-Bild von der "edlen Einfalt, stillen Größe" der Antike, "Amphitryon" hat man lange Zeit als eine Antwort der "deutschen Innerlichkeit" auf die gesellschaftsbezogene, veräußerlichte französische Erotik eines Molière interpretiert, und selbst der "Prinz von Homburg", ad majorem Prussiae gloriam geschrieben, setzt sich, geistesgeschichtlich gesehen, vor allem mit dem stoischen Ethos Brandenburg-Preußens auseinander, das im 18. Jahrhundert hierzulande förmlich zu einer zweiten Staatsreligion geworden war. Aber all das sind heute keine Anliegen mehr. Das kommt vielen als Bildungsplunder vor. Und die besten Inszenierungen der Nachkriegszeit betonten denn auch den Fremdheits-Charakter von Kleists Stücken oder ergaben sich ihm durch Historisierung. Ersteres taten (um nur einige Beispiele zu nennen) Peter Stein mit seinem legendären "Homburg" von 1972, der ganz als "Traumspiel" in blau ausgeschlagener Bühne daherkam, und Peymann, der das "Käthchen" 1976 in Stuttgart als jahrmarkthaftes Moritatenstück gab. Die historisierende Variante wiederum wählten (gleichfalls nur einige Belege) Matthias Hartmann mit seinem "Käthchen" 1994 am Hamburger Schauspielhaus, Andrea Breth 1997 an der Schaubühne mit der "Familie Schroffenstein" sowie jetzt Peter Stein mit dem "Zerbrochenen Krug". In den drei letztgenannten Inszenierungen spürt man nicht den Hauch einer eigenen Lesart des Regisseurs – sie funktionieren als schön und üppig bebilderte Textumsetzung und haben darum viele Kritiker enttäuscht (und, wenigstens im Fall des "Zerbrochenen Krugs" von Stein, das große Publikum erfreut).
Man kann sich freilich streiten, ob das Vom-Blatt-Spielen als "kleistgemäß" anzusehen ist. Kleist war eine so wider den Stachel löckende Figur, ein so originärer, streitbarer, problematischer Geist, dass ihm die schöne Oberfläche allein wohl nicht genügt hätte. Aber was den Umgang des Regietheaters gegenwärtig mit ihm angeht, so hätte er ihn wohl durch die Bank ebenfalls als Fehlschlag betrachtet. Mit gutem Grund. Greifen wir exemplarisch zwei Inszenierungen heraus, die noch zu sehen sind. Nehmen wir zuerst den "Amphitryon" am Gorki von Jan Bosse sowie, als letzte Kleist-Inszenierung von einigem Echo, den "Prinz von Homburg" Ingo Berks am Schauspielhaus Hannover. Ihre Fehler und Missverständnisse können als pars pro toto betrachtet werden.
Jan Bosse rast durch das Stück im Schweinsgalopp. Was üblicherweise drei Stunden dauert, braucht hier noch nicht mal anderthalb. Was Bosses "Amphitryon" vollständig ausgetrieben wurde, ist vor allem der hohe Ton. Damit jedoch gerät das Stück vollkommen aus dem Gleichgewicht, ja mehr noch: es verkommt zur Proletarierposse. Gemäß der aristophanischen Vorlage ergreifen die Verwechslungsspiele in diesem Stück sowohl das hohe Liebespaar Alkmene-Amphitryon bzw. Jupiter wie das niedrige (Charis-Sosias bzw. Merkur). Doch die bis zum Identitätsverlust führende große Liebe der Alkmene mit ihren Beschwörungen des "absoluten Gefühls", sie wird heruntergekocht zum Aufbegehren einer "Betrogenen" gegen Männerwillkür (was Alkmene im Stück nicht entfernt in den Sinn kommt). Nicht mal das berühmte, vieldeutige "Ach" am Schluss des Stücks hat Bosse übriggelassen. Ohnehin haben Sosias und Charis das letzte Wort, die Dienerperspektive sagt dem Regisseur mehr. Hier kann er seine drastischen Effekte voll ausspielen, die Prügel, Beschimpfungen, das platte Schmollen. Dass aber Kleists Schwerpunkt natürlich auf den differenzierteren Affekten seines hohen Paares lag, wird ignoriert. Damit ist das Stück um seine entscheidende Dimension gebracht. So wird’s ein Sittenbild von Kroetz. Versteht sich, dass die Sprache der Figuren ebenfalls aufs grauenhafteste entstellt, weil "modernisiert", recte: trivialisiert ist. Doch anstatt diese Kleist-Verschrottung zu boykottieren, springen die Deutschlehrer dieser Stadt offenbar auf die Aufführung. Als ich sie sah, war sie fast ausschließlich von Schulklassen besucht, die sich vom Körpertheater des Sosias (Robert Kuchenbuch) fesseln ließen und wenn die "langweiligen" Passagen seines Herren (Hans Löw) kamen, ungeniert mit ihren Handies telefonierten. Ein Musterbeispiel dafür, dass sich das Anbiedern beim jungen Publikum nicht lohnt. Es merkt, dass man nicht mehr von ihnen verlangt, als sich wie Bolle zu amüsieren. Wenn dieses "Niveau" aber mal momentweise nicht bedient wird, schalten sie ab.
Auf andere, aber nicht minder exemplarische Weise verfehlt Ingo Berk in Hannover den "Prinzen von Homburg". Versteht sich, dass er die ganze militärische Staffage, die Kleist, der ja Berufsoffizier war, gut kannte, nur noch zitiert (und falsch: es werden nur Marineuniformen getragen). Die Szene ist eine aseptische, gekachelte, von Kunstlicht geflutete – ja was eigentlich: Krankenstation? Versteht sich auch, dass die hohen Herrschaften (immerhin tritt ein seinerzeit regierender Kurfürst von Brandenburg auf) allesamt spießige "Charaktermasken" zu sein haben. Das ist ja auch bei Armin Petras in seinem "Homburg" am Gorki-Theater nicht anders. Doch am schlimmsten trifft die Verfehlung die Titelrolle. Dieser Homburg, in vollendeter Hilflosigkeit als Kumpel aus dem Jugendzentrum nebenan von Christian Friedel gespielt, darf kein "sonderbarer Schwärmer" mehr sein, als den ihn sein Befehlshaber Kottwitz (mit einer Anleihe bei Schiller) wahrnimmt, kein romantischer Intellektueller, als den ihn Kleist wohl sah (der hier auch ein wenig an sich selbst oder an den Prinzen Louis Ferdinand gedacht haben mag) und schon gar kein "braver" preußischer Soldat, der hier bekanntlich trotz Begnadigung für seine angeblichen Missetaten den Tod vorzieht, wie das Gesetz ihn befahl, weil er das militärische Ethos der Armee mit ihrem Ideal des Stoizismus und Gehorsam nach langer Verunsicherung am Ende anerkennt. Diese Figur stellt ja den militärischen Comment zwar in Frage – das ist die für die Zeitgenossen unerhört kühne, "kritische" Seite dieses Stücks – jedoch, um ihn schließlich anzuerkennen (deswegen konnte dieses Stück noch das Lieblingsstück Wilhelms II. sein). Doch von solchen Dimensionen des Gefühls und des Verstandes ist diese Aufführung äonenweit entfernt. Kommt der Prinz ins Nachdenken, wird das im Spiel wegironisiert. Was ihn zum Außenseiter (der aber immerhin das Kommando über eine Division innehat), stempelt, also all das Träumerische, Weiche, Schlafwandlerische, wird hier pathologisiert. Und das ist wahrscheinlich der ärgste Rückfall hinter Kleist und im Grunde sogar hinter seine gesamte Zeit, über die man sich heute so billig erhaben dünkt: das von der Norm des Üblichen Abweichende kann von vielen Regisseuren, wie man ja auch in anderen Klassiker-Inszenierungen sieht, nur als etwas Krankes, Abwegiges, Pathologisches betrachtet werden. Für Kleist machte es noch das Individuum aus. Doch dieses ist im Zeitalter der Massen untergegangen. Nirgends sieht man das besser als auf unseren Theaterbühnen. Daher: In Staub mit allen Betreibern der leer laufenden Verfremdungs-Maschinerie des Regietheaters! Sie zeigen uns nur ihre eigene Dürftigkeit. Doch die Stücke, die sie verhackstücken, bekommen wieder Leben, wenn man sie liest. Und das bleibt uns unbenommen.
Diese Entwicklung ist noch nicht sehr alt. Kleist galt lange – und zu Recht – als ein schwieriger Autor. Einmal abgesehen von seinem populärsten Stück, dem lange als "volkstümlich" und "unverwüstlich" geltenden "Zerbrochenen Krug", sind Kleistsche Dramen zwar immer der Brillanz ihrer Dialoge wegen von den Kennern geschätzt worden, aber man fand sie "für die Bühne problematisch", besonders "Penthesilea" mit ihrer Lust an der Gewalt (immerhin wird am Schluss des Stücks Achill regelrecht zerfleischt) und "Käthchen" (des ganz aus dem Geist der Romantik geborenen kunstmärchenhaften Herzenstons halber). Hinzukommt, dass Kleist, so kühn er war, so avantgardistisch auch und frühexpressionistisch, doch ganz und gar im Bildungshorizont seiner Zeit steht. Alle seine Stücke sind Auseinandersetzungen mit Klassikern oder klassischen Regeln: Der "Zerbrochene Krug" wendet den tragischen Ödipus-Stoff ins Komische, "Penthesilea" ist eine einzige Kampfansage an das klassizistische Winckelmann-Bild von der "edlen Einfalt, stillen Größe" der Antike, "Amphitryon" hat man lange Zeit als eine Antwort der "deutschen Innerlichkeit" auf die gesellschaftsbezogene, veräußerlichte französische Erotik eines Molière interpretiert, und selbst der "Prinz von Homburg", ad majorem Prussiae gloriam geschrieben, setzt sich, geistesgeschichtlich gesehen, vor allem mit dem stoischen Ethos Brandenburg-Preußens auseinander, das im 18. Jahrhundert hierzulande förmlich zu einer zweiten Staatsreligion geworden war. Aber all das sind heute keine Anliegen mehr. Das kommt vielen als Bildungsplunder vor. Und die besten Inszenierungen der Nachkriegszeit betonten denn auch den Fremdheits-Charakter von Kleists Stücken oder ergaben sich ihm durch Historisierung. Ersteres taten (um nur einige Beispiele zu nennen) Peter Stein mit seinem legendären "Homburg" von 1972, der ganz als "Traumspiel" in blau ausgeschlagener Bühne daherkam, und Peymann, der das "Käthchen" 1976 in Stuttgart als jahrmarkthaftes Moritatenstück gab. Die historisierende Variante wiederum wählten (gleichfalls nur einige Belege) Matthias Hartmann mit seinem "Käthchen" 1994 am Hamburger Schauspielhaus, Andrea Breth 1997 an der Schaubühne mit der "Familie Schroffenstein" sowie jetzt Peter Stein mit dem "Zerbrochenen Krug". In den drei letztgenannten Inszenierungen spürt man nicht den Hauch einer eigenen Lesart des Regisseurs – sie funktionieren als schön und üppig bebilderte Textumsetzung und haben darum viele Kritiker enttäuscht (und, wenigstens im Fall des "Zerbrochenen Krugs" von Stein, das große Publikum erfreut).
Man kann sich freilich streiten, ob das Vom-Blatt-Spielen als "kleistgemäß" anzusehen ist. Kleist war eine so wider den Stachel löckende Figur, ein so originärer, streitbarer, problematischer Geist, dass ihm die schöne Oberfläche allein wohl nicht genügt hätte. Aber was den Umgang des Regietheaters gegenwärtig mit ihm angeht, so hätte er ihn wohl durch die Bank ebenfalls als Fehlschlag betrachtet. Mit gutem Grund. Greifen wir exemplarisch zwei Inszenierungen heraus, die noch zu sehen sind. Nehmen wir zuerst den "Amphitryon" am Gorki von Jan Bosse sowie, als letzte Kleist-Inszenierung von einigem Echo, den "Prinz von Homburg" Ingo Berks am Schauspielhaus Hannover. Ihre Fehler und Missverständnisse können als pars pro toto betrachtet werden.
Jan Bosse rast durch das Stück im Schweinsgalopp. Was üblicherweise drei Stunden dauert, braucht hier noch nicht mal anderthalb. Was Bosses "Amphitryon" vollständig ausgetrieben wurde, ist vor allem der hohe Ton. Damit jedoch gerät das Stück vollkommen aus dem Gleichgewicht, ja mehr noch: es verkommt zur Proletarierposse. Gemäß der aristophanischen Vorlage ergreifen die Verwechslungsspiele in diesem Stück sowohl das hohe Liebespaar Alkmene-Amphitryon bzw. Jupiter wie das niedrige (Charis-Sosias bzw. Merkur). Doch die bis zum Identitätsverlust führende große Liebe der Alkmene mit ihren Beschwörungen des "absoluten Gefühls", sie wird heruntergekocht zum Aufbegehren einer "Betrogenen" gegen Männerwillkür (was Alkmene im Stück nicht entfernt in den Sinn kommt). Nicht mal das berühmte, vieldeutige "Ach" am Schluss des Stücks hat Bosse übriggelassen. Ohnehin haben Sosias und Charis das letzte Wort, die Dienerperspektive sagt dem Regisseur mehr. Hier kann er seine drastischen Effekte voll ausspielen, die Prügel, Beschimpfungen, das platte Schmollen. Dass aber Kleists Schwerpunkt natürlich auf den differenzierteren Affekten seines hohen Paares lag, wird ignoriert. Damit ist das Stück um seine entscheidende Dimension gebracht. So wird’s ein Sittenbild von Kroetz. Versteht sich, dass die Sprache der Figuren ebenfalls aufs grauenhafteste entstellt, weil "modernisiert", recte: trivialisiert ist. Doch anstatt diese Kleist-Verschrottung zu boykottieren, springen die Deutschlehrer dieser Stadt offenbar auf die Aufführung. Als ich sie sah, war sie fast ausschließlich von Schulklassen besucht, die sich vom Körpertheater des Sosias (Robert Kuchenbuch) fesseln ließen und wenn die "langweiligen" Passagen seines Herren (Hans Löw) kamen, ungeniert mit ihren Handies telefonierten. Ein Musterbeispiel dafür, dass sich das Anbiedern beim jungen Publikum nicht lohnt. Es merkt, dass man nicht mehr von ihnen verlangt, als sich wie Bolle zu amüsieren. Wenn dieses "Niveau" aber mal momentweise nicht bedient wird, schalten sie ab.
Auf andere, aber nicht minder exemplarische Weise verfehlt Ingo Berk in Hannover den "Prinzen von Homburg". Versteht sich, dass er die ganze militärische Staffage, die Kleist, der ja Berufsoffizier war, gut kannte, nur noch zitiert (und falsch: es werden nur Marineuniformen getragen). Die Szene ist eine aseptische, gekachelte, von Kunstlicht geflutete – ja was eigentlich: Krankenstation? Versteht sich auch, dass die hohen Herrschaften (immerhin tritt ein seinerzeit regierender Kurfürst von Brandenburg auf) allesamt spießige "Charaktermasken" zu sein haben. Das ist ja auch bei Armin Petras in seinem "Homburg" am Gorki-Theater nicht anders. Doch am schlimmsten trifft die Verfehlung die Titelrolle. Dieser Homburg, in vollendeter Hilflosigkeit als Kumpel aus dem Jugendzentrum nebenan von Christian Friedel gespielt, darf kein "sonderbarer Schwärmer" mehr sein, als den ihn sein Befehlshaber Kottwitz (mit einer Anleihe bei Schiller) wahrnimmt, kein romantischer Intellektueller, als den ihn Kleist wohl sah (der hier auch ein wenig an sich selbst oder an den Prinzen Louis Ferdinand gedacht haben mag) und schon gar kein "braver" preußischer Soldat, der hier bekanntlich trotz Begnadigung für seine angeblichen Missetaten den Tod vorzieht, wie das Gesetz ihn befahl, weil er das militärische Ethos der Armee mit ihrem Ideal des Stoizismus und Gehorsam nach langer Verunsicherung am Ende anerkennt. Diese Figur stellt ja den militärischen Comment zwar in Frage – das ist die für die Zeitgenossen unerhört kühne, "kritische" Seite dieses Stücks – jedoch, um ihn schließlich anzuerkennen (deswegen konnte dieses Stück noch das Lieblingsstück Wilhelms II. sein). Doch von solchen Dimensionen des Gefühls und des Verstandes ist diese Aufführung äonenweit entfernt. Kommt der Prinz ins Nachdenken, wird das im Spiel wegironisiert. Was ihn zum Außenseiter (der aber immerhin das Kommando über eine Division innehat), stempelt, also all das Träumerische, Weiche, Schlafwandlerische, wird hier pathologisiert. Und das ist wahrscheinlich der ärgste Rückfall hinter Kleist und im Grunde sogar hinter seine gesamte Zeit, über die man sich heute so billig erhaben dünkt: das von der Norm des Üblichen Abweichende kann von vielen Regisseuren, wie man ja auch in anderen Klassiker-Inszenierungen sieht, nur als etwas Krankes, Abwegiges, Pathologisches betrachtet werden. Für Kleist machte es noch das Individuum aus. Doch dieses ist im Zeitalter der Massen untergegangen. Nirgends sieht man das besser als auf unseren Theaterbühnen. Daher: In Staub mit allen Betreibern der leer laufenden Verfremdungs-Maschinerie des Regietheaters! Sie zeigen uns nur ihre eigene Dürftigkeit. Doch die Stücke, die sie verhackstücken, bekommen wieder Leben, wenn man sie liest. Und das bleibt uns unbenommen.