Aufstieg für Aussteiger
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Die Wiege des Klettersports steht in Sachsen. Das Freiklettern wurde vor mehr als 100 Jahren im Elbsandsteingebirge geboren. Seither war der Sport Treffpunkt für Sportbegeisterte, Systemkritiker und -aussteiger. Annette Kammerer hat ihn ausprobiert.
"Wohin gehen wir jetzt?", frage ich und stapfe meiner Freundin Veronika hinterher, vorbei an sandigen Felsen und knubbeligen Gipfeln. Das Touristenpanorama der Sächsischen Schweiz.
Mein Körper steckt in einem Klettergurt. Links und rechts baumeln Karabiner und Affenfäuste – dicke Knoten aus Seil. Ich will klettern, und zwar "sächsisch".
"Die strengen Regeln dieses Sportes lernten wir im Laufe der Dreharbeiten noch kennen, anfangs schlotterten uns aber erst einmal die Knie", heißt es im Kletterfilm "Seile aus Sandstein" aus dem Jahr 1970.
"Ich dachte, wir machen was Leichtes?" frage ich verdutzt, vor einem Felsmassiv stehend, das sich "Zwerg" nennt. "Ich bin nämlich noch nie vorgestiegen in der Sächsischen Schweiz."
Klettern ist Kopfsache
Wer klettert, weiß: Vorsteigen, das ist noch einmal eine andere Nummer. Du hängst zwar am Seil, doch das hilft dir so lange nichts, bis du es in die nächste Sicherung einhängen kannst. Und dann kletterst du die Meter zur nächsten Sicherung wieder frei.
Fällst du dann, werden die Stürze metertief. Dein Kopf rattert wie verrückt. Hier in der Sächsischen Schweiz musst du nicht nur den Weg bis zum nächsten Sicherungshaken überleben, sondern vor allem deine eigene Sicherung, denn die baust du dir selbst.
Vorsteigen ist hier eine ganz andere Nummer. Veronika liest aus dem Kletterführer die Routenbeschreibung vor: Rudolf Fehrmann ist der Erstbegeher, Jahr 1905. Wie die damals wohl geklettert sind, frage ich. Mit normalen Schuhen, ist die Antwort. Und mit Seil? Nein, ohne. Etwas, das ich mir kaum vorstellen kann.
Aus Sachsen in die Welt
In der Sächsischen Schweiz wurde das Klettern, wie wir es heute kennen, quasi erfunden. In der Sächsischen Schweiz hat das "Freiklettern" seinen Ursprung.
Zwar bestiegen Menschen schon viel früher Berge in den Alpen, aber dabei wurden oftmals viele Haken geschlagen, da wurden Leitern angebracht, mit denen man hochgegangen ist, erzählt Steffen. Er klettert hier, seit er drei, vier Jahre alt ist. Wenn es so etwas wie einen alten Hasen in unserer Klettergruppe gibt, dann ihn.
"Hier in Sachsen wurde so im 19. Jahrhundert – Falkenstein war einer der ersten Gipfel – damit begonnen, dass sich Leute wirklich komplett mit dem eigenen Körper nach oben gearbeitet haben und damit einen ganz neuen Stil etabliert haben, der sich dann auf der ganzen Welt ausgebreitet hat. Freiklettern ist inzwischen auch der Standard beim Klettern."
Steffens Vater durfte in der DDR nicht studieren, wurde Hausmeister und fuhr fast jeden Tag raus zum Klettern. Er klettert noch heute. Viele der alten Geschichten von damals kennt Steffen.
Die Anti-Gesellschaft
"Es war, glaube ich, auch ein bisschen eine Anti-Gesellschaft oder eine Aussteiger-Gesellschaft." Doch die jungen Kletterer in der DDR waren nicht unbedingt politisch in dem Sinne, dass sie sich politisch engagiert hätten. Sie haben sich dem System verweigert, genau deswegen aber politisch. Das Klettern war für Steffens Vater und seine Freunde nie nur eine sportliche Disziplin, sondern auch Lebensstil.
Es gibt hier Kletterrouten, die heißen "visafrei" oder "Perestroika". Als in den 70er-Jahren die sächsische Kletterlegende Bernd Arnold trotz Einladung nicht in die USA reisen durfte, stieg er aus Trotz eine neue Route vor und nannte sie: "bunt schillernde Seifenblase", wie ein zerplatzter Traum.
Mir fällt das Klettern hier schwer. Die sächsischen Regeln sind knochenhart, schrecklich konservativ und immer noch speziell. Nur Textil darf an den Fels, kein Eisen, keine Keile.
Und weil es so wenige in den Stein gehauene Sicherungen gibt, musst du dir die immer und überall mit Bändern und Knoten selbst bauen. Fädelst Schnüre durch irgendwelche sanduhrförmigen Gesteine oder legst Schlaufen und Felsbrocken. Auch Magnesia darf hier nicht verwendet werden. Dass Menschen hier klettern, fällt von Weitem kaum auf. Der Fels sieht aus wie unberührt.
Nein, Klettern als Sport in der Halle und mit weniger Kopf ist mir dann doch lieber. Mit Wegen, die ich sehe, und Griffen, die mir bunt schillernd entgegen leuchten. Das ist vielleicht weder knüppelhart noch todesmutig, dafür aber angenehm unkompliziert. Ich bin eben aus Berlin und nicht aus Sachsen.