Philipp Hübl ist Philosoph und Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken" im Verlag C. Bertelsmann.
Fadenscheiniger Identitätskapitalismus
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Das Unternehmen Nestlé hat eine "Klimastudie" veröffentlicht, in der es sich um die Folgen unseres Konsums sorgt. Ist doch gut, könnte man sagen – Philipp Hübl hingegen erkennt dahinter eine Verschleierungstaktik.
Aus Unternehmenssicht ist die sogenannte "Klimastudie" ein genialer Schachzug, denn Nestlé erfährt nicht nur, was ihre Konsumenten wollen, sondern suggeriert vor allem, dass die Verbraucher in der Pflicht sind, ihr Verhalten zu ändern. Nirgendwo im Text steht, dass es schon immer die Konzerne waren, die die Hauptverantwortung für den CO2-Ausstoß und andere externe Effekte tragen. Zum Vergleich: Die Ernährung in Privathaushalten trägt nur etwa 2 Prozent zu den CO2-Emmissionen in Deutschland bei, während Industrie, Landwirtschaft und Handel mit über 30 Prozent zu Buche schlagen, Energie und Transport nicht eingerechnet.
Der Druck, sich progressiv zu geben
Bei der Studie handelt es sich um "Greenwashing", also um eine moralische Selbstdarstellung, die die Sorge um den Klimawandel zur Schau stellt. Weil in einer vernetzten Welt die richtigen Werte eine teure Währung sind, versuchen Menschen und Unternehmen ihren moralischen Status besonders deutlich zu signalisieren. Gerade für internationale Konzerne ist der Druck gestiegen, sich progressiv zu geben. Daher steht nicht mehr nur "fair trade" auf den Kaffeebohnen, sondern "Klimaschutz", "Vielfalt" und "Diversität" in jeder Selbstbeschreibung.
Auch Menschen stellen sich oft moralisch dar. In den sozialen Medien ist es verführerisch einfach, mit gespielter Empörung über Missstände oder mit Likes für eine Petition gratis Punkte auf dem Moralkonto zu sammeln. Während der klassische Aktivist im Schweiße seines Angesichts eine Essensausgabe für Flüchtlinge organisiert, kann der Hashtag-Aktivist mit dem Smartphone ganz entspannt im Park liegen und sich online als engagiert inszenieren.
Green-, Purple-, Pinkwashing
Die PR-Abteilungen von Firmen machen im Grunde dasselbe. Das ist auch naheliegend, denn den wertvollen progressiven Anstrich bekommt man fast kostenlos mit schönen Worten. Dieser Etikettenschwindel hat längst einschlägige Namen. Nestlés Greenwashing ist nur ein Beispiel. Purple Washing betreibt, wer sich nur zum Schein feministische Ideale auf die Fahnen schreibt, beim Pink Washing sind es Gender und sexuelle Identitäten.
Die amerikanische Rechtswissenschaftlerin Nancy Leong hat in ihrem aktuellen Buch "Identity Capitalism" gezeigt, wie Organisationen und Universitäten Identitätsthemen benutzen, um ihr Image aufzupolieren, etwa indem sie mit Photoshop Bilder von schwarzen Studenten in Broschüren hineinschneiden, um diverser zu wirken, als sie tatsächlich sind.
Und in einer harschen Kritik haben die Soziologen Frank Dobbin und Alexandra Kalev herausgestellt, dass große Konzerne Diversity-Trainings vor allem anbieten, um teure Schadensersatzklagen abzuwenden. Obwohl über 1000 Studien nahelegen, dass solche Kurse bisher kaum positive Effekte auf das Denken der Mitarbeiter, geschweige denn auf eine diverse Einstellungspraxis hatten, bleibt es ein preiswerter Weg, Engagement zu signalisieren. Die Firmen haben sich intern nicht verändert und dennoch in der Außendarstellung das scheinbar Unmögliche erreicht, nämlich Kapitalismus mit den beiden progressiven Fürsorge-Themen "Minderheitenschutz" und "Klimaschutz" zu versöhnen, die ursprünglich aus antikapitalistischen Protestbewegungen entsprangen.
Staatliche Kontrollen gegen Etikettenschwindel
Kurzfristig mag das Moral-Kalkül von Unternehmen wie Nestlé aufgehen, weil genug Menschen den Gesinnungswandel für bare Münze nehmen. Doch die Fälschung und der inflationäre Gebrauch der Progressivitätsmarker entwertet das ursprüngliche Anliegen. Wenn jetzt jeder von sich behauptet, nachhaltig und divers zu sein, können sich die anständigen Firmen nicht mehr hervortun. Weil der Markt aber so unübersichtlich ist, brauchen wir mehr objektive und staatlich anerkannte Gütesiegel, um Trittbrettfahrer zu entlarven. In einer echten Studie könnte dann ein unabhängiges Forschungsinstitut den CO2-Fußabdruck von Konzernen überprüfen, bevor Firmen wie Nestlé sich selbst das grüne Ticket ausstellen.