Der Untergang von Shishmaref
US-Präsident Donald Trump hält den Klimawandel für eine Erfindung. Für die Bewohner der Insel Shishmaref in Alaska könnte seine Ignoranz allerdings gravierende Folgen haben. Schon jetzt reißt ihnen der Klimawandel buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Strände wurde weggespült. Der Bundestaat Alaska erwärmt sich dreimal schneller als der Rest Amerikas.
Die achtsitzige Beech 1900 C setzt im scharfen Nordwind über der Tschuktschensee schwankend und schlingernd zur Landung an. Die beiden Piloten im Cockpit peilen die Landebahn an – hier, auf der Insel Sarichef, sei sie verdammt kurz, hatte einer von ihnen noch beim Start in Nome gesagt, der letzten größeren Provinzstadt eine Flugstunde entfernt.
Wenn das Wetter schlecht ist, sei das schon manchmal ein ziemlich rauer Ritt hier hinauf in den Norden Alaskas – und das kann man der betagten Beech auch an ihren Blessuren im schwarzen Lack ansehen. Nur wenige Meter hinter der Uferkante drücken die Piloten die Maschine steil nach unten, setzen sie hart auf der Landebahn auf und lassen die Motoren beim Bremsen aufheulen.
Sarichef heißt die Insel, Shishmaref der einzige Ort, dessen Holzhäuser kunterbunt auf diesem winzigen Eiland verstreut sind. Sieben Kilometer von Ost nach West, ein paar hundert Meter von Nord nach Süd - eine vorgelagerte Insel zwischen Lagune und Tschuktschensee nördlich der Bering-Straße. Der Polarkreis ist 35 Kilometer entfernt, Russland 150 Kilometer.
"Gott ist hier mit uns", sagt Pfarrer Tommy. Frierend steht er auf der Piste, wo die Beech zum Stehen kam und nun entladen wird." Konserven, Obst, Brot, zwei Flachbildschirme. Pfarrer Tommy will gleich mit zurückfliegen nach Nome. Das Wetter soll noch schlechter werden. Der Pilot hat es eilig.
"Unser Gebet gilt dem Erhalt unserer Kultur. Wir haben alle dafür gestimmt, umzusiedeln – aber wir bekommen kein Geld, um diesen Beschluss auch umzusetzen."
Insel Sarichef ist dem Untergang geweiht
Pfarrer Tommy hat allen Grund, mit seiner 580-Seelen-Gemeinde zu beten: Shishmaref ist dem Untergang geweiht. Zusammen mit 31 weiteren Ortschaften in Alaska wird die Insel vermutlich zu einem der ersten Opfer des Klimawandels werden. Nirgendwo sind die Folgen des Klimawandels dramatischer zu spüren als in der Arktis. Alaska erwärmt sich dreimal schneller als der Rest Amerikas. Was das bedeutet, weiß auch Pfarrer Tommy: Der Ort hat keine Zukunft mehr. Ihre Umsiedlung haben die Einwohner des Eskimo-Volkes der Inupiat bereits vor Jahren beschlossen – zuletzt 2016, mit 89 zu 78 Stimmen. Die Bewohner von Shishmaref wären die ersten Klimaflüchtlinge der USA. Aber passiert ist seither: nichts. Seit Donald Trump Präsident ist, gibt es den Klimawandel regierungsamtlich nicht mehr. Folglich gibt es auch kein Geld für teure Umsiedlungsaktionen. Eigentlich können wir nur auf die Katastrophe warten, sagt Pfarrer Tommy. Und beten.
"Wir sind ein doppelt vergessenes Volk: Unsere Regierung hält nicht viel von Flüchtlingen. Gleichzeitig sind wir eingeborene Amerikaner. Das ist wirklich frustrierend."
"Ich muss jetzt wirklich los", sagt Pfarrer Tommy, und klettert im steifen Wind die schmalen Stufen zur Flugzeugtür hoch. "Nicht den Friedhof vergessen!", ruft er noch. Da könne man eine Menge über den Klimawandel lernen. Der Friedhof ist gar nicht zu verfehlen. Er liegt auf der einzigen kleinen Anhöhe gleich neben der Kirche. Wenn die Sturmwolken blauschwarz am Himmel stehen, heben sich die windschiefen Holzkreuze wie strahlend- weiße Scherenschnitte ab. Ken Stenek steht vor einem Grab am Rande des kleinen Friedhofs. Der Name Norman Kokóeok ist eingraviert. Er starb am 2. Juni 2007. Er wurde 25 Jahre alt.
"Sie haben im Osten Enten gejagt. Am Tag zuvor war schon ein Älterer eingebrochen. Sie hatten einfach nicht gemerkt, wie dünn das Eis war. Seine Freunde haben noch versucht, ihn zu retten. Aber sie konnten nur noch seine Leiche aus dem Wasser ziehen."
Klimawandel fordert erstes Todesopfer
Ken Stenek ist Lehrer in Shishmaref. Norman war einer seiner Schüler und der Cousin seiner Frau. Normans Tod war ein Schock für den ganzen Ort, sagt Ken. Für ihn ist Norman das erste Klimaopfer von Sishmaref.
"I attribute his death to the climate change. June 2nd is pretty early. Going out means ice conditions are not safe."
Anfang Juni habe das Eis noch niemals angefangen zu tauen, sagt Ken. Seit Jahrhunderten sei der Juni der ideale Monat gewesen, um auf das feste, dunkelblau oder tiefgrün schillernde Eis zu gehen und Robben oder Walrosse zu jagen. Norman hätte offenbar einfach nicht gemerkt, wie das Eis immer matter und dunkler wurde, als er mit seinem Motorschlitten darüber raste. Bis er einbrach und in der Tschuktschensee versank.
"Die Jäger hier müssen viel größere Risiken auf sich nehmen. Sie müssen aufs Eis gehen und wissen nicht mehr, ob es trägt. Mit diesen neuen Bedingungen umzugehen, ist eine ziemliche Herausforderung für die Gemeinde."
Das Eis schmilzt heute nicht nur viel schneller. Es kommt auch viel später. Früher bildete sich bereits Ende September/Anfang Oktober ein dicker, fester Eispanzer um die Insel, der sie wie eine Rüstung vor den schweren Herbststürmen schützte. Heute schlagen die meterhohen Wellen der tosenden Tschuktschensee ungehindert auf das Festland – und fressen sich mit jedem Sturm weiter in die Insel hinein. Ken steht am Nordufer direkt an der Erosionskante.
"Gestern war der Seegang ein bisschen höher – man kann richtig sehen, wie sich das Meer wieder ein Stück Land geholt hat."
Ken zeigt die Stelle, wo ein wütender Sturm vor ein paar Jahren ein Haus ins Meer gerissen hat. Die Bilder von der geborstenen Ruine wirkten wie ein Menetekel.
"Das Haus fiel hier ins Meer: Es wurde zuerst gar nicht von vorne erfasst, sondern geradezu von hinten unterspült. Und dann kippte es einfach ins Wasser."
Kein Abkommen? Donald Trump ist bekloppt!
Nach dem letzten großen Sturm vor ein paar Jahren wurden Schlepper und Raupen auf die Insel gebracht, die besonders gefährdete Häuser weiter nach hinten zogen. Aber die Angst wächst. Gerade jetzt vor den nächsten Herbststürmen.
"Wenn wir West- oder Nordwind im Oktober bekommen, dann wissen wir, dass die Stürme kommen. Das ist beängstigend, wenn das Wasser auf die Nordseite schlägt. Dann ist es sehr laut und natürlich schon sehr dunkel."
Eigentlich sei es nur eine Frage der Zeit, wann sich das Meer das nächste Haus hole. Oder den Erstbesten von ihnen mit sich reiße. Stan Toktoo ist 56 Jahre alt und Jäger. Er hat kaum noch Zähne im Mund und Haut wie Leder. Stan war Zeit seines Lebens draußen in der Natur. Entweder auf dem Eis. Oder in der kargen Tundra.
Heute sitzt er als einer der Stammesältesten für die Inupiat im Rat von Shishmaref. Und hatte schon beim letzten großen Sturm gedacht, jetzt sei das Ende gekommen.
"Die Wellen am Haus meiner Mutter waren so hoch, dass das Wasser wie ein Bach an den Wänden heruntergeschossen kam. Ich sagte: Mutter, das ist kein Regen. Das sind die Wellen, die über Deinem Dach zusammenschlagen. Unglaublich!"
Stan Toktoo weiß, worauf sich Shishmaref einzustellen hat. Die Katastrophe kommt, sagt er.
"Die Frage ist nur, wann. Wir können es nicht verhindern. Und der Grund dafür ist der Klimawandel. Hier sollten mal Verantwortliche während der Stürme kommen und sich ansehen, was hier wirklich passiert. Und wie sehr wir Hilfe brauchen!"
Das sagt auch Donna Barr, eine quirlige junge Frau mit wachem Blick und hellem Lachen. Sie ist die Bürgermeisterin von Shishmaref und sitzt in ihrem Büro im Untergeschoss der Gemeindekirche, wo sie geduldig einen Besucher nach dem anderen empfängt. Die Fragen seien immer dieselben, erzählt sie: Was soll nur aus uns werden? Wo sollen wir hin? Und die Fragen würden lauter, seit Donald Trump das Klimaabkommen von Paris aufgekündigt hat und allen Ernstes behauptet, den Klimawandel gebe es gar nicht.
Der Klimawandel ist real. Als Donald Trump den Klimavertrag aufgekündigt hat, dachten wir, der ist bekloppt. Wir kämpfen um unser Überleben! Sie überlege die ganze Zeit, wie sie die Aufmerksamkeit dieses Präsidenten auf sich ziehen könne – der Untergang von Shihsmaref sei eine Katastrophe mit Ansage. Sie erinnert sich an einen schlimmen Sturm vor ein paar Jahren.
"Da drückten riesige Wellen auf den Nordwesten der Insel. Das Wasser kam bis an die Startbahn und ich fragte mich: Um Gottes willen, wie kommen wir hier bloß heraus, wenn keine Flugzeuge mehr hier landen können?"
Eine Katastrophe mit Ansage
Die Betonpiste der Landebahn dürfte als erstes in der aufgewühlten See verschwinden – und dann? Dann wäre völlig offen, ob und wie die Evakuierung der Bevölkerung noch gelingen könnte.
"Wir müssen alle in die Schule und in die Kirche bringen. Wer darf zuerst rein? Alte, Kinder, Mütter, Teenager – in dieser Reihenfolge. Dann müssen sie mit Helikoptern kommen und uns hier rausholen."
Doch wer kann sicherstellen, dass der Sturm nicht so gewaltig ist, dass die Hubschrauber noch einsatzfähig sind? Und wenn – wie lange würde es dauern, auf diesem Wege fast 600 Menschen von der Insel zu retten? Das ist ja das Schlimme, sagt Donna Barr, die Bürgermeisterin: Es gibt keinerlei Pläne für den Notfall.
"Die Leute legen schon Vorräte an, Robbenöl. Trockenfleisch. Fischkonserven. Aber es ist wirklich sehr entmutigend, dass es noch nicht einmal einen Rettungsplan der Bundesregierung gibt."
Und nicht nur das. Die Regierung in Washington hat bisher alles unterlassen, um Shishmaref umzusiedeln. Längst hat sich die Gemeinde nach einem Platz umgesehen, wo sie einen neuen Ort errichten könnte – am West Hill Creek, fünf bis sechs Meilen entfernt und auf dem Festland gelegen. In sicherer Lage vor den Stürmen, aber nahe genug am Wasser, um die alten Jagdgründe nicht aufgeben zu müssen.
Die Gemeinde hat ihre Umsiedlung zuletzt 2016 beschlossen – doch sie selbst hat die Mittel nicht, um die Kosten in Höhe von 300 Millionen Dollar aufzubringen. Die Finanzierung müsste zumindest teilweise Washington übernehmen. Tut es aber nicht.
"Sie wollen uns keinerlei Hilfestellung geben. Ob wir uns diskriminiert fühlen? Aber ja! Wir sind auch Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir kämpfen für den Erhalt unseres Ortes und unserer Kultur. Und wir brauchen dieselbe Unterstützung wie jeder andere US-Bürger auch."
Niemand will die Umsiedlung bezahlen
Die Inupiat von Sishmaref sitzen buchstäblich in der Falle: Niemand will mehr in die Sicherheit ihres Ortes investieren, der wegen des Klimawandels keine Zukunft mehr hat. Es will aber auch niemand für die Kosten einer Umsiedlung aufkommen. Die Erklärung für diesen allzu leichtfertigen Umgang mit dem Katastrophenszenario ist in Anchorage zu finden – jener Bezirkshauptstadt 900 Kilometer weiter südlich, in der Sally Russell Cox ihren Sitz hat. Sie hilft im Auftrag des Staates Alaska Shishmaref dabei, Pläne für die Umsiedlung zu entwickeln und hält engen Kontakt mit Bürgermeisterin Donna Barr.
Cox sagt, sie könne nur noch mit dem Kopf schütteln.
"In Shishmaref haben sie die Schule und die Kirche. Beide liegen nicht hoch genug. Es gibt da echte Probleme! Das Army Corps of Engineers untersucht das gerade. Die Ergebnisse könnten verheerend sein – überlegen sie mal: Sie haben für die gesamte Gemeinde keinen einzigen Schutzraum, der hoch genug liegt!"
Sally Cox vermutet hinter der vermeintlichen Ignoranz nüchternes Kalkül. Es gibt viele Orte in den USA – ob in Alaska oder im Pazifik – die vom Klimawandel bedroht sind und eigentlich umgesiedelt werden müssten. Wenn man 300 Millionen Dollar für so einen kleinen Ort wie Shishmaref im äußersten Norden Alaskas locker machte, könnten auch andere Gemeinden Ansprüche geltend machen. Barack Obama habe den Ernst der Lage noch erkannt und 2015, kurz vor Ende seiner Amtszeit, Alaska besucht, um sich persönlich ein Bild zu machen. Zu spät, um noch wirklich etwas zu verändern.
"Es gibt die Befürchtung, dass die Büchse Pandoras geöffnet wird, wenn Geld für diese Gemeinde fließt. Das wäre ein Präzedenzfall, und andere könnte sich darauf berufen und ihrerseits Geld fordern."
Sally Cox sagt, dass keine der 32 betroffenen Gemeinden in Alaska über die Mittel verfüge, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb müsse es erst zu einer Katastrophe kommen, ehe es Hilfe gibt.
"Das Geld kommt, wenn es ein Desaster gibt. Dann kommt es wie aus einem Füllhorn. Aber zuerst brauchen Sie die Katastrophe."
Wohnhaus versinkt im Meer
Das sieht auch Robin Brommen in Anchorage so – sie hat eine NGO gegründet, die sich "Alaska Institute for Justice" nennt, Alaska Institut für Gerechtigkeit. Sie kämpft für die Belange der Gemeinden, die wie Shishmaref von den Folgen des Klimawandels bedroht sind. Die einschlägige Gesetzeslage könne man nur zynisch nennen, sagt Robin Brommen.
"Der sogenannte Stafford Act sieht vor, dass eine extreme Umweltkatastrophe stattgefunden haben muss, ehe Mittel freigegeben werden. Wie in New Orleans nach Katrina zum Beispiel. Es gibt kein Geld für die Prävention – z.B. wenn der Wasserspiegel ansteigt oder wenn die Erosion immer mehr Land frisst. Beides qualifiziert nicht für die Freigabe von Hilfsmitteln."
Das sei in Anbetracht der absehbaren Folgen des Klimawandels eine Ungerechtigkeit von historischen Ausmaßen, sagt die Juristin und Menschenrechts-aktivistin Robin Brommen. Weil es genau die Falschen treffe.
"Der Klimawandel hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun – weil die, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, die enormen Konsequenzen zu tragen haben. Sie müssen die Orte verlassen, die sie geliebt haben und die sie ihre Heimat nannten."
Donna Barr, die Bürgermeisterin von Shishmaref, steht im Gemeindezentrum der Kirche vor einem Poster. "The Inupiat Way", ist es überschrieben – in etwa: Die Prinzipien der Inupiat.
"Verantwortung für den Stamm. Die Kenntnis der Sprache. Teilen. Respekt für mein Gegenüber. Zusammenarbeit. Achtung für die Älteren. Liebe zu unseren Kindern. Harte Arbeit. Kenntnis deines Stammbaums. Vermeiden von Konflikten. Achtung vor der Natur. Spiritualität. Humor. Das Glück des Jägers. Häusliche Fähigkeiten. Demut."
Donna Bar nennt diese Schlagworte den Wertekatalog ihres Stammes: Er sei ihr von ihren Großeltern mit auf den Weg gegeben worden, bei denen sie aufwuchs. Dieses Vermächtnis habe sich in das kollektive Gedächtnis der Inupiat eingebrannt – es sei jahrhundertealt und niemals schriftlich festgehalten worden. Inupiaq ist keine Schriftsprache. Donna Barr sieht mit dem Untergang Shishmarefs auch diese Kultur und ihre Werte in Gefahr.
"Bevor Russland Alaska an die USA verkauft hat, führten wir unser Leben im Einklang mit der Natur. Wir sind von Lager zu Lager gezogen und sind den Tieren und Pflanzen mit den Jahreszeiten gefolgt. Wir lebten von den Tieren auf dem Land und im Meer und zogen umher. Wir hatten Plätze auf dem Land und Camps am Wasser, damit wir uns ernähren konnten. Wir waren nicht sesshaft."
Der erste fundamentale Kulturbruch sei die Ansiedlung der Inupiat in Shishmaref gewesen, sagt Donna Barr: Sie folgte 1920 auf den Bau einer Schule auf der Insel. Freiwillig hätten sich die Inupiat niemals dort niedergelassen. Mit der Schule kamen die staatlichen Erziehungsprogramme und ihre Auflagen. Die Anordnung etwa, ab sofort nur noch Englisch zu sprechen. Und das Inupiaq zu vergessen.
Untergang der Eskimo-Kultur
Die Älteren können es noch. Clifford Weiyouana zum Beispiel – er ist 75 und bespricht auf Inupiaq, was seine Freundin Florence zum Besuch bei ihrer Familie mitbringen soll. Sie haben uns die Sprache ausgetrieben, sagt Clifford, der in seiner von Krimskrams überladenen Küche Frühstück macht: Es gibt Omeletts aus Sauerteig.
"Wir hatten hier zwei Lehrer des Bureau of Indian Affairs, und die haben uns nicht erlaubt, die Eskimo-Sprache zu sprechen. Sie haben uns bestraft, wenn wir es taten. Wir mussten eine Stunde in der Ecke stehen oder hundert Mal an die Tafel schreiben: Ich spreche kein Eskimo. Das war der Anfang vom Ende unserer Sprache."
Wenn wir sterben, ist auch unsere Sprache ausgestorben, sagt Clifford. Er habe es nicht geschafft, sie seinen Enkeln beizubringen. Und in der Schule lernen die Kinder nur noch ein paar Worte. Clifford benennt den zweiten Kulturbruch, der die Gemeinschaft der Inupiat ebenso tief getroffen und verunsichert hat, wie das Ende der Nomadenkultur.
"Telefon und Drogen haben dazu geführt, dass die Familien nicht mehr so eng zusammen sind. Heute haben sie Junk-Food, Fernsehen und leben ein ganz anderes Leben."
Vor der Schule sitzt eine Gruppe von Jugendlichen in Jeans und Kapuzenpulli auf der hölzernen Veranda und spielt auf Smartphones Computerspiele: Lehrer Ken Stenek hat den Schülern erlaubt, das kostenlose WLAN zu benutzen, das einzige auf der Insel. Wir hängen hier rum, sagt einer. Verne heißt er. Wir laden uns etwas im Internet runter. Kartenspiele zum Beispiel.
Haben Sie Angst um ihre Insel? Um ihre Zukunft? Mike lässt die Augen nicht von seinem Bildschirm.
"Ja, ich mache mir Sorgen darüber, dass immer mehr Land verlorengeht. Und um die Häuser direkt an der Küste. Die Erosion geht ja immer weiter. Ich weiß nicht viel über die Erderwärmung – man kann sie halt am Eis sehen. Aber es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis wir hier weg müssen. Vielleicht auch nicht. Das hängt den Stürmen ab. Ach, ich weiß es nicht."
Die Jugendlichen hätten den Kontakt zu den Werten und Traditionen ihres Volkes längst verloren, sagt Donna Barr, die Bürgermeisterin. Sie seien zutiefst verunsichert. Manche verängstigt. Viele verzweifelt. Die Bürgermeisterin sieht ihre Gemeinschaft in einer tiefen Krise, die sich in Depressionen oder in traumatischen Störungen äußert.
"Es gibt einige unter uns, die einen Zusammenhang sehen zwischen Anpassung und Unterdrückung. Er wird sichtbar in vielen Selbstmorden, in häuslicher Gewalt und in vorzeitigen Schulabbrüchen. Wir leiden an einer sozialen Krankheit, die geradezu epidemische Ausmaße angenommen hat. Das darf aber nicht zur Normalität und zum sozialen Standard werden."
Der Klimawandel könnte für den endgültigen Untergang ihrer Kultur sorgen, befürchtet Donna Barr. Dann nämlich, wenn die geplante Umsiedlung der gesamten Gemeinde scheitert und sie auseinandergerissen wird.
"Meine Verantwortung besteht darin, dass wir alle zusammenbleiben. Das Schlimmste wäre, wenn wir auseinandergerissen und auf verschiedene Orte in Alaska verteilt werden würden. Dann verlieren wir unsere Identität und den familiären Zusammenhalt. Das möchte ich nicht erleben!"
Die beiden Piloten haben die Motoren der alten Beech 1900 C wieder angeworfen. Erst die rechte, dann die linke. Die Maschine wendet am Ende der kurzen Startbahn und beschleunigt, was die Triebwerke hergeben. Shishmaref verschwindet im Dunst der ewigen Sommersonne. Irgendwann wird es versunken sein.