Klimawandel in Sibirien

Wenn der Permafrostboden ins Rutschen gerät

25:34 Minuten
Permafrostboden unter einer dünnen Schicht von Vegetation.
Den größten Schaden durch den tauenden Permafrostboden erleidet die Atmosphäre, denn dabei werden CO2 und Methan freigesetzt. © picture alliance / Wildlife / H.Schweiger
Von Sabine Adler |
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Der Wald brennt seit Wochen im russischen Jakutien. Die Sommer in der Republik im Nordosten Sibiriens sind immer länger und heißer. Der Klimawandel macht sich aber auch durch das Schmelzen des Permafrostbodens bemerkbar - mit dramatischen Konsequenzen.
Über die sibirische Stadt Jakutsk ziehen diesen Sommer große Rauchschwaden. Der Flughafenbetrieb und die Schifffahrt auf der Lena wurden wegen des Smogs bereits eingestellt. Die Schadstoffkonzentration in der Luft von Jakutsk überstieg die Norm im Juli um das Zweifache.
Grigorij Sawwinow macht ein Foto aus dem Bürofenster: dicke Luft. Die Stadt – sechs Zeitzonen von Moskau entfernt – sorgt seit Wochen für Schlagzeilen. Über zwei Millionen Hektar Wald brennen und anderthalb Millionen sind schon zerstört. Es brennt immer öfter rund um Jakutsk, wegen der extremen Hitze.
Von jeher müssen die Menschen in Sibirien große Schwankungen zwischen extrem hohen und extrem niedrigen Temperaturen aushalten. Doch das, was jetzt in den spärlich bewohnten Weiten geschieht, beunruhigt nicht nur die Einheimischen.
Luftansicht auf den Rauch der Waldbrände in der siberischen Taiga.
Der Wald brennt schon seit Wochen im russischen Jakutien.© picture allinance / ITAR-TASS
Denn kaum irgendwo hat der Klimawandel so sichtbare Spuren hinterlassen wie in Nord-Sibirien. Grigorij Sawwinow ist Permafrostforscher. Auf unser Gespräch via Internet hat er sich bestens vorbereitet. Der 64-Jährige zeigt Fotos von einem Krater nahe der Siedlung Batagai, ein Thermokarstkrater, der 1960 entstand.

Riesige Krater reißen den Boden auf

"Dort wurden zur Stalinzeit bis in die 1950er-Jahre von Lagergefangenen Wälder abgeholzt. Der Permafrostboden war dadurch nicht mehr von der Pflanzenschicht bedeckt und isoliert, sondern lag blank und der Sonne ausgesetzt da", sagt Grigorij Sawwinow.
Anfangs war der Krater nur eine Spalte, 80 Meter lang und 30 Meter breit. In 30 Jahren wuchs er rasant. Heute misst der Krater, der aus der Luft wie ein spitzes Ei aussieht, zweieinhalb Kilometer Länge und fast einen Kilometer Breite. Er ist bis zu 100 Meter tief. Der Batagajsky-Thermokrater bekam den gleichen Namen wie das Dorf sieben Kilometer entfernt: Batagai. Er ist der größte seiner Art, doch im dünn besiedelten Jakutien tun sich vielerorts solche Schlammlöcher auf.
Für den Menschen ist es aber dort viel gefährlicher, wo das tiefgefrorene Erdreich zunächst unbemerkt schmilzt, wo man erst an gebrochenen Pipelines, abgesenkten Straßen und eingesackten Häuser erkennt, dass der aufgetaute Permafrostboden ins Rutschen geraten ist. Über dieses Problem spricht inzwischen auch der russische Präsident, bislang kein hörbarer Warner vor dem Klimawandel.
"70 Prozent unseres Territoriums liegen in den nördlichen Breiten, und ein großer Teil davon befindet sich im sogenannten Permafrost. Das ist gefrorener Boden, Dutzende und Hunderte von Metern, an manchen Stellen einen Kilometer tief. Wir haben dort besiedelte Gebiete, Infrastruktur, und wenn das alles taut, hat das ernste soziale und wirtschaftliche Folgen", so Wladimir Putin.

Gebäude kommen ins Rutschen

Grigorij Sawwinows Institut für angewandte Umweltforschung befindet sich direkt in Jakutsk, der Hauptstadt der sibirischen Republik Sacha. Hier baute man schon zu Sowjetzeiten anders als im Rest des Landes.
"In Jakutsk stehen unsere Häuser auf Pfählen. Diese Pfähle werden über 10 Meter tief in den Boden gerammt. Wenn das unterirdische Eis schmilzt, stehen die Bauten nicht mehr stabil und werden so zerstört."
Den größten Schaden durch den tauenden Permafrostboden erleidet jedoch die Atmosphäre. Denn der über Jahrtausende vereiste Boden enthält abgestorbene Pflanzen- und Tierreste sowie Mikroben, die bei höheren Temperaturen diese fossilen Reste zu fressen beginnen und dabei CO2 sowie Methan freisetzen.
Wie viel – das ist in den internationalen Klimaschutzprogrammen noch gar nicht erfasst. Forscher schätzen, dass im Permafrostboden fast doppelt so viel Kohlenstoff schlummert wie derzeit in der gesamten Atmosphäre. Es wird immer mehr Methan und Kohlendioxid freigesetzt, weil es auch in Nord-Sibirien immer wärmer wird. Schon oft stieg das Thermometer in diesem Sommer auf weit über 30 Grad, sagt Sawwinow, der im kurzen Hemd schwitzend am Rechner sitzt. Auch Moskau erlebt gerade einen Hitzesommer. Von einem Trend spricht Klimaforscher Wladimir Semjonow.
"In den vergangenen 100 Jahren ist die Temperatur hier um mehr als zwei Grad angestiegen. Doppelt so viel wie im globalen Schnitt. Im Sommer war es zwei Grad wärmer, im Winter sogar drei bis vier Grad."

Es wird schneller heißer als irgendwo sonst

Russland als nördliches Land erwärme sich doppelt so schnell wie der Rest der Welt. Vor allem in den letzten 30, 40 Jahren. Besonders in Sibirien mache sich das bemerkbar.
"Statt minus 47 Grad sind es jetzt 42 Grad unter null. Das Problem sind die Sommer, die länger anhalten und größere Hitze mit sich bringen, in den Permafrostböden tauen dann viel tiefere Schichten auf."
Dazu gibt es immer mehr Waldbrände, dieser Teufelskreis heizt die Atmosphäre immer weiter auf. Nur eine Gruppe gewinnt, wenn die Permafrostböden immer schneller zu Matsch werden: die Mammutknochenjäger. Zur Freude zumindest einiger Wissenschaftler in Jakutsk, sagt der Biologe und Geologe Grigorij Sawwinow. Die Knochenjäger finden immer mehr Skelette aus der Steinzeit. Im Krater von Batagai lag ein gut erhaltenes, drei Monate altes Fohlen, 44 000 Jahre alt, sowie Reste eines Bison-Babys und Teile von einem Mammut.
"Die Paläontologen, das Mammutmuseum, die Spezialisten, die an unserem Institut arbeiten, sie alle werden von den Stoßzahnjägern unterstützt. Diese sind in der Tundra unterwegs und entlang der Nordküste, des Arktischen Ozeans. Die 30- bis 40.000 Jahre alten Skelette sind Eigentum des Vaterlandes und der internationalen Wissenschaft", sagt Grigorij Sawwinow.
Nicht jeder Zahn landet im Labor, etliche werden versilbert. Für die Wissenschaft bleibe aber immer noch genug übrig, meint Grigori Sawwinow, der Permafrostforscher. Er hat Verständnis für die Jäger.
"Die Vertreter der kleinen Urvölker, Ewenken und andere, gehen jetzt weniger jagen und fischen, dafür mehr auf Mammutsuche. Sie verkaufen die Skelette und Stoßzähne vor allem in Südostasien, in China, Vietnam. Aus den Stoßzähnen wird dort Schmuck hergestellt."
Jetzt im Sommer sind die Jäger selbst oft die Gejagten, wenn sie von riesigen Mückenschwärmen überfallen werden. In Jakutien nennen sie das "Ganz-Körper-Akupunktur".

Viele Brände werden gar nicht gelöscht

Vor den Bränden müssen sich die Menschen mehrmals im Jahr in Acht nehmen. Im Frühling, wenn das alte trockene Gras und Geäst leicht Feuer fängt, auf den Wald und manchmal auch auf die Dörfer überspringt. Und später im Sommer, wenn das junge Grün vertrocknet ist. Statt CO2 zu vernichten, stößt der brennende Wald dann Kohlendioxid aus. Viele Brände werden nicht einmal gelöscht, erklärt Alexej Jaroschenko, der Waldbrand-Experte bei Greenpeace.
"Fast die Hälfte der Waldfläche, 45 Prozent der Wälder werden, wenn es brennt, nicht gelöscht. Sie befinden sich außerhalb der amtlichen Löschzone, wo nichts unternommen werden muss. Und das hat vor allem mit der finanziellen Ausstattung zu tun, denn die Regionen bekommen nur sehr wenig Geld für ihre Feuerwehren, deshalb löschen sie nicht."
90 Prozent der Brände entstehen durch fahrlässigen Umgang mit Feuer, oft von Holzfällern, die zudem mehr Bäume schlagen, als wieder nachwachsen. Wo es häufig brennt, verschwindet der Wald ganz, bleibt nur noch eine Steppenlandschaft übrig. Dichte Taiga-Wälder werden immer seltener, Russlands Waldfläche schrumpft.
"Wenn sich die Brände in dem Tempo ausbreiten wie in den zurückliegenden 20 Jahren, dann wird die Taiga aus einer Region, die CO2 verbraucht, ein zusätzlicher CO2-Emitent", sagt Alexej Jaroschenko.

Aufforstung ist zum Teil nicht möglich

Greenpeace schlägt vor, auf den vielen brachliegenden Flächen, die die Landwirtschaft nicht mehr nutzt, Wälder anzupflanzen. Das wäre auf bis zu 100 Millionen Hektar möglich. Doch noch verbietet das Gesetz, Felder in Wälder zu verwandeln, weil die landwirtschaftliche Nutzung Vorrang haben soll, selbst wenn die Bauern erwiesenermaßen nicht mehr zurückkommen.
Seit Ende 2019 hat Arshak Makichyan Freitag für Freitag 40 Wochen lang mit einem Plakat in der Hand in Moskau gestanden und gegen die Klimaerwärmung demonstriert. Er ist 27 Jahre alt.
"Ich habe von Greta Thunbergs Schulstreiks erfahren und von den ökologischen Problemen, aber nur in englischsprachigen Medien. In Russland sprach kein Mensch von den Klimaproblemen. Es gibt lokale Umweltprobleme, die werden auch bekannt, aber das globale Klimaproblem? Schweigen. Ich ging demonstrieren, ganz allein auf dem Puschkin-Platz in Moskau. Proteste mit anderen Gleichgesinnten sind in Russland kaum möglich."
In seinem Leben hatte er eigentlich anderes vor. Der junge Mann mit den dunklen Locken hat vor zwei Jahren sein Violinen-Studium am Moskauer Konservatorium beendet. Doch anstelle der Musik, so erzählt er im Video-Gespräch, will er nun die Politik zu seinem Beruf machen. Als Abgeordneter der Staatsduma, die im Herbst neu gewählt wird.
"Unsere Zukunft ist in Gefahr und in Russland redet niemand darüber. Nicht die Medien, nicht die Politiker, die nichts dagegen tun, und das, obwohl Russland weltweit den viertgrößten Ausstoß von Treibhausgasen verursacht."

Auch Putin spricht von Erderwärmung

Anders als der Klimaaktivist von "Fridays for Future Russland" beklagt, zeigt sich der erste Mann im Staat, Präsident Wladimir Putin, allerdings doch problembewusst. In der Bürgersprechstunde "Direkter Draht", die er einmal im Jahr abhält, nahm er durchaus Stellung zur Erderwärmung, die Russland ganz besonders treffe. Nicht ohne einen Seitenhieb auf die Klimaaktivisten.
"Einige Menschen glauben, dass das Klima in bestimmten Regionen und auf dem gesamten Planeten eine bestimmte gefährliche Schwelle erreicht, die unseren Planeten in den Zustand der Venus versetzen, an deren Oberfläche bekanntlich etwa 500 Grad Celsius herrschen. Das befürchten Umweltschützer und diejenigen, die uns warnen. Natürlich müssen wir, ob es nun stimmt oder nicht, alles tun, um unseren Beitrag zu dem, was in der globalen Sphäre geschieht, zu minimieren. Was wir beeinflussen können, müssen wir beeinflussen."
Russland unterzeichnete und ratifizierte das Kyoto- sowie das Pariser Klimaprotokoll. Im vorigen Jahr gab Putin ein neues Ziel aus: Die Reduzierung der Treibhausgase auf 70 Prozent gegenüber dem Wert von 1990.
"Wir werden unsere Kapazität zur Aufnahme von CO2 in der Atmosphäre ausbauen. Die Rolle der Feuerwehrleute ist sehr wichtig, weil die Aufnahmefähigkeit unserer Wälder, unserer Meere und Teile des Ozeans extrem wichtig ist und wir das erhalten müssen. Wir haben ziemlich ehrgeizige Verpflichtungen übernommen, die der Europäischen Union nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen sind, was die Verringerung der Emissionen angeht."

Russlands Klimaziele sind eine Mogelpackung

Im Frühjahr hat die Europäische Union ihr Reduktionsziel von 40 auf 55 Prozent bis 2030 angehoben. Bis 2050 will sie klimaneutral sein. Doch auch ohne den EU-Vergleich ist Putins angeblich ehrgeiziges Klimaziel für "Greenpeace Russland" eine Mogelpackung. Die Umweltaktivisten sehen in der geplanten Treibhausgassenkung auf 70 Prozent vielmehr eine Aufweichung früherer Ziele. Denn es geht wohlgemerkt nicht um eine Senkung um, sondern auf 70 Prozent. Was genau genommen ein Rückschritt wäre, da eine Minimierung auf rund 50 Prozent längst geschafft wurde, dank der seit 1990 deutlich geschrumpften Industrieproduktion. Ein "Rückgang" auf 70 Prozent käme somit einer Erhöhung der Treibhausgase gleich.
Boris Porfiriew, Ökonom beim Moskauer Institut für volkswirtschaftliche Prognosen, hält die Erfolge der russischen Klimapolitik trotzdem für bemerkenswert und liegt damit auf Regierungslinie.
"Russland belegt weltweit den ersten Platz bei der Senkung von Treibhausgasen gegenüber 1990. Russland hat sie fast um die Hälfte gesenkt."
Bei diesem Wert von 50 Prozent wurden allerdings die riesigen sibirischen Wälder mit einbezogen. Sie können große Mengen CO2 binden, das wurde positiv angerechnet. Wenn Wälder aber immer länger brennen, geht die Rechnung nicht mehr auf. Außerdem wird in Russland ungehindert Erdöl- und Erdgas gefördert und exportiert in nie dagewesenem Umfang Steinkohle. Russland setzt nicht weniger, sondern vermehrt auf fossile Energieträger.
Mineralölförderung auf einem Ölfeld in Nefteyugansk in West Sibirien. Zwei Männer mit Helm arbeiten im Öldreck.
Mineralölförderung auf einem Ölfeld in Nefteyugansk, Sibirien: In Russland wird ungehindert Erdöl- und Erdgas gefördert und exportiert.© imago / Jochen Tack
"Das ist eine heilige Kuh. Die fossilen Energieträger sind der Schlüssel für die Industrie Russlands. Und ausschließlich in diesem Sinne wird in den kremltreuen Medien darüber berichtet. Die Kohleförderung umfasst seit 2017 400 Millionen Tonnen im Jahr, was rund anderthalb Mal so viel ist wie zu sowjetischen Zeiten. Obwohl Russland das Pariser Klimaprotokoll ratifiziert hat, taucht nirgendwo der Gedanke auf, dass Russland aus der Kohlenutzung aussteigt."

Kohle-Export statt Kohle-Ausstieg

Kritisiert Alexandra Korolewa, die Leiterin der Umweltorganisation "Eco Sashita", auf Deutsch Umweltschutz. Russland nutzt vielmehr die Gunst der Stunde, zum Beispiel den Handelsstreit zwischen China und Australien, der zu einem Einfuhrverbot für australische Kohle in China führte. Russland ist rasch in diese Lücke gesprungen und verzeichnet seit ein paar Monaten zweistellige Zuwächse des Exports nach China, denn die Wirtschaft ist dort nach den Einbrüchen in der Covid-19-Pandemie wieder auf strammem Erholungskurs.
Für die Aktivistin Aleksandra Korolewa geht die russische Exportstrategie in die völlig falsche Richtung.
"Anstelle der Senkung der Kohleförderung und Strukturreformen in den Kohleregionen, anstelle der ökologischen Sanierung der von der Kohlegewinnung völlig zerstörten Gebiete, geht es nur darum, die Exporte nach Asien zu lenken, hauptsächlich nach China, über die transsibirische Baikal-Amur-Magistrale, die einen neuen östlichen Strang erhält."
Neben China kaufen auch Südkorea, Taiwan, Japan und Malaysia wieder deutlich mehr russische Steinkohle, die meist in dem südsibirischen Kusbass-Gebiet abgebaut wird. Eine geschundene Region, weswegen die Eco-Sashita-Organisation dort besonders aktiv ist. Oftmals reicht ein Tagebau bis dicht an die Ortschaften heran, was die Anwohner massiv belastet.
Anton Lementujew, ihr Kollege bei Eco Sashita, lebt im Kusbass, dem größten Kohlerevier in Russland und weiß, dass Umwelt- und Klimaschützer hier noch einen langen Weg vor sich haben.
"Ich vermute, dass es kaum um ein Ende der Kohleförderung in Russland gehen wird", sagt der junge Mann aus Sibirien. Eher um ein Ende der Exporte in den Westen."

Umweltaktivisten gelten als Staatsfeinde

Die Europäische Union forciert seit Jahren den Ausbau alternativer Energien. Russland hört die Botschaft, die darin steckt: dass nämlich fossile Brennstoffe für die EU bald Vergangenheit sein sollen. Wegen der Erderwärmung auf die Nutzung fossiler Brennstoffe zu verzichten, komme für die russische Regierung aus Lementujews Sicht absolut nicht in Frage.
"Ich will es ganz deutlich sagen: Die lachen über diese Probleme, die für sie keine sind. Sie haben den Westen viel mehr im Verdacht, unter dem Vorwand des Klimawandels den Markt neu zu sortieren."
Einen Kohleausstieg, einen Verzicht auf den Export von Öl und Gas, kann und will sich Russland nicht leisten, die Vorräte reichen bis mindestens 2040. Der Staat ist auf die Einnahmen angewiesen. Wer wie Eco Sashita, eine der wichtigsten russischen Umweltorganisationen, die offizielle Energiepolitik kritisiert, wird bestraft. Zum Beispiel mit der Einstufung als sogenannter "ausländischer Agent". Dass Umweltaktivisten wie Staatsfeinde behandelt werden, kann Boris Porfiriew vom kremlnahen Wirtschaftsinstitut nicht erkennen.
"Die Beziehung zu den Umweltaktivisten hat sich verändert. Man schenkt ihnen Aufmerksamkeit, reagiert auf sie. Vor Jahren sah man sie entweder als etwas Feindliches oder aber man reagierte auf sie mit vollkommener Gleichgültigkeit. Jetzt gibt es das Internet, soziale Netzwerke, wo alles, was geschieht, abgebildet wird. Ob es den Wald, die Straßen oder den Fluss in deiner Nähe betrifft – alles ist heute nachvollziehbar. Die Presse berichtet und so sind die Beamten gezwungen zu reagieren."

Kreml setzt auf Atomkraft

Alexandra Korolewa hat noch ganz andere Erfahrungen machen müssen. Die Kaliningrader Chefin von Eco Sashita ist vor zwei Jahren nach Deutschland geflohen, wo sie um politisches Asyl bat und bekam.
Heute beobachtet die AKW-Gegnerin von Dresden aus die russische Politik und wie die Regierung darauf besteht, dem Klimawandel auf eigene Weise zu begegnen. Im Klartext heißt das, auch beim Export von Atomkraftwerkstechnik einen führenden Platz einzunehmen. So versteht auch der Wirtschaftsforscher Boris Porfiriew die Kreml-Strategie und beruft sich auf das Pariser Protokoll:
"Dort ist klar gesagt, dass jedes Land auf seine Weise entscheidet, wie es mit diesem Problem umgeht. Dass die Atomkraft beim Ersatz von fossilen Energieträgern eine kolossale Rolle spielt, steht außer Frage. Aber ist sie auch ökologisch sicher? Das ist ein anderes Thema."
Ganz wie Präsident Putin kann auch Porfiriew dem Klimawandel durchaus gute Seiten abgewinnen. Zum Beispiel, weil die Landwirtschaft auch in den kälteren Regionen möglich werde, weil sich die Vegetationsperiode verlängere und weniger Brennstoff zum Heizen benötigt werde. Die Schäden durch die Erderwärmung wiegen aus seiner Sicht allerdings weit schwerer. Russlands tauende Permafrostböden brächten die Infrastruktur in Gefahr.
"Vor allem Straßen, Stromleitungen, Pipelines, alles, was mit Transport zu tun hat. Und natürlich die Gebäude. Nach unseren Berechnungen verlieren wir jedes Jahr rund 50 Milliarden Rubel, also 500 Millionen Euro, wegen Schäden an Straßen und Gebäuden. Das ist eine ganz vorsichtige Rechnung, die bei weitem nicht alles berücksichtigt. Aber dennoch sind diese Schäden spürbar und machen neue Investitionen nötig."
Arshak Makichyan, den jungen Konzert-Geiger aus Moskau, den es statt auf die Bühne nun vielmehr in die Politik drängt, bestätigen diese Nachrichten in seiner Entscheidung. Als Fridays-for-Future-Demonstrant ist er zweimal verhaftet worden, einmal bekam er eine Arreststrafe von sechs Tagen. Trotzdem will er im September bei der Dumawahl kandidieren.
"Viele Leute, die jetzt unterdrückt werden oder verhaftet wurden, sind meine Freunde. Deswegen kommt es nicht in Frage, jetzt aufzugeben. Das Thema Klima und Umwelt muss auf die politische Tagesordnung. Im Moment gibt es keinen glaubwürdigen Politiker, der sich darum kümmert. Außerdem muss man jetzt in die Politik gehen, um die Menschen zu schützen, die unterdrückt werden. Ich will es versuchen."
Die Partei Jabloko, für die er antreten wollte, hat seine Kandidatur abgelehnt.
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